SGB IX Bilanz und Entwicklungsbedarf
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- Emma Schmidt
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1 Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe 19. Fachtagung Management in der Suchttherapie 28. September 2010 SGB IX Bilanz und Entwicklungsbedarf Prof. Dr. Felix Welti Universität Kassel 1
2 Gesetzgebung für Rehabilitation und Teilhabe 1974: RehaAnglG und SchwbG 1994: Benachteiligungsverbot im Grundgesetz : Inkrafttreten des SGB IX 2002: Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) : BGG der Länder 2006: Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG) 2009: Behindertenrechtskonvention (BRK) tritt in Deutschland in Kraft 2
3 Ziele des SGB IX Systematisch: Integration des Rechts für alle Rehabilitationsträger für medizinische, berufliche und soziale Rehabilitation für Sozial- und Arbeitsrecht behinderter Menschen Rehabilitation und Prävention von Behinderung Für behinderte Menschen Selbstbestimmung gleichberechtigte Teilhabe Bedarfsgerechte Leistungen zur Teilhabe Für die Rehabilitationsträger: Kooperation Koordination Konvergenz 3
4 Verfassungsrechtliche Bezüge des SGB IX - Schutz und Achtung der Menschenwürde im sozialen Rechtsstaat - Umsetzung des Benachteiligungsverbots wegen einer Behinderung (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG) im Sozialrecht - Sozialer Bundesstaat: - Der Bund kann nicht alles regeln - Soziale Infrastruktur bleibt Ländersache 4
5 Europarechtlicher Bezug des SGB IX - Antidiskriminierung (Art. 13 EGV- Art. 19 AEUV); Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG; Art. 21 Charta der Grundrechte - Integration behinderter Menschen (Art. 26 Charta der Grundrechte) - Bewegungsfreiheit auch behinderter Unionsbürger in Europa - Dienstleistungsfreiheit auch der Dienste und Einrichtungen der Rehabilitation 5
6 Völkerrechtliche Einbindung durch die Behindertenrechtskonvention (BRK) - Verbindlichkeit der Konvention - Bundesregierung: Kein Änderungsbedarf im Recht - Aber: Rechtsauslegung kann sich ändern - Umsetzungsprozess durch Aktionsplan - Grundsätze: - Nichtdiskriminierung - Einbeziehung (Inklusion) - Selbstbestimmtes Leben - Zugänglichkeit 6
7 Sozialpolitischer Kontext - Selbstbestimmung in der Behindertenpolitik - Effizienz und Wettbewerb in der Gesundheitsversorgung - Eigenvorsorge und Mindestsicherung in der Sicherung des Lebensunterhalts - Aktivierung in der Arbeitsmarktpolitik - Verstärkte Orientierung auf Prävention sozialer Risiken - Längere Lebensarbeitszeit - Deregulierung und Re-Regulierung im Arbeitsrecht 7
8 Systematische Stellung des SGB IX im Sozialgesetzbuch SGB IX und Leistungsgesetze 7 1 Die Vorschriften dieses Buches gelten für die Leistungen zur Teilhabe, soweit sich aus den für den jeweiligen Rehabilitationsträger geltenden Leistungsgesetzen nichts anderes ergibt. 2 Die Zuständigkeit und die Voraussetzungen für die Leistungen zur Teilhabe richten sich nach den für die jeweiligen Rehabilitationsträger geltenden Leistungsgesetzen. 8
9 Systematische Stellung des SGB IX im Sozialgesetzbuch: SGB IX und Leistungsgesetze - Verwaltungsverfahren: 1-25, SGB IX als vorrangiges Verfahrensrecht - Leistungsrecht: SGB IX als gemeinsame Grundlage der Leistungsansprüche - Leistungserbringungsrecht: SGB IX als gemeinsame Regeln der Leistungserbringung - Begriffe: Behinderung ( 2 Abs. 1 SGB IX) als systembildender Begriff 9
10 Behinderung nach ICF Gesundheit Kontextfaktoren Funktionsstörungen (beeinträchtigte) Aktivität Persönliche Faktoren Soziale Faktoren Teilhabestörung: Behinderung 10
11 Systematische Stellung des SGB IX im Sozialgesetzbuch Rentenversicherung: SGB VI verweist auf SGB IX - aber: Erwerbsfähigkeit als exklusives Rehabilitationsziel? 11
12 Systematische Stellung des SGB IX im Sozialgesetzbuch Unfallversicherung: Rehabilitation und Teilhabe mit allen geeigneten Mitteln - Ursache der Behinderung bleibt relevant. - Sonderstellung der kausalen Systeme noch zeitgemäß? 12
13 Systematische Stellung des SGB IX im Sozialgesetzbuch Krankenversicherung: ( ) besteht die Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung auch nach Inkrafttreten des SGB IX allein in der medizinischen Rehabilitation nach Maßgabe des SGB V, also der möglichst weitgehenden Wiederherstellung der Gesundheit und der Organfunktion einschließlich der Sicherung des Behandlungserfolges, um ein selbstständiges Leben führen und die Anforderungen des Alltags meistern zu können. BSG, Urt. v , Az. B 1 KR 36/06 R 13
14 Systematische Stellung des SGB IX im Sozialgesetzbuch Krankenversicherung: Anders als 15 Abs 1 Satz 1 SGB VI verweist das SGB V für Leistungen zur medizinischen Rehabilitation nicht pauschal auf die 26 bis 31 SGB IX. Die Krankenkassen ( ) sind vielmehr nach den Vorschriften des SGB V zur Erbringung medizinischer Rehabilitationsleistungen nur unter den dort genannten Voraussetzungen verpflichtet (vgl 11 Abs 2, 40 SGB V). BSG, Urt. v , Az. B 1 KR 36/06 R 14
15 Systematische Stellung des SGB IX im Sozialgesetzbuch Krankenversicherung: - BSG: eingeschränkter Auftrag zur Wiederherstellung der Gesundheit - BSG: Leistungskatalog im Vergleich zu Rentenund Unfallversicherung eingeschränkt - Aber: Rehabilitation ist nicht auf SGB V beschränkt - 11 Abs. 2 SGB V - Aber: Akutbehandlung muss Ziele der Rehabilitation und Koordinationspflicht beachten ( 27 SGB IX) 15
16 Systematische Stellung des SGB IX im Sozialgesetzbuch Krankenversicherung/ Pflegeversicherung: - Krankenversicherung ist Träger der pflegevermeidenden Rehabilitation - Pflegeversicherung kein Rehabilitationsträger - Strafzahlung von 3072 läuft ins Leere - Systematische Fehlanreize im Verhältnis beider Träger 16
17 Systematische Stellung des SGB IX im Sozialgesetzbuch Bundesagentur für Arbeit: - 100/ 102 SGB III: Allgemeine und besondere Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben; beide sind in das SGB IX einbezogen - Leistungsumfang durch Orientierung am kurzfristigen Eingliederungserfolg faktisch reduziert - Ausschreibung von Leistungen statt gemeinsamem Leistungserbringungsrecht 17
18 Systematische Stellung des SGB IX im Sozialgesetzbuch Bundesagentur für Arbeit/ Grundsicherung für Arbeitsuchende: - Träger der Grundsicherung keine Rehabilitationsträger - 6a SGB IX: Bundesagentur ist Rehabilitationsträger/ Träger der Grundsicherung ist Leistungsträger - Neue Schnittstellen und Probleme geschaffen 18
19 Systematische Stellung des SGB IX im Sozialgesetzbuch Träger der Sozialhilfe: - Wichtigster Träger der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft - Teilhabe zu Bildung hier fehlplatziert - Recht erschwert Lückenfüllung in der medizinischen Rehabilitation ( 54 I 2 SGB XII) - Träger der Sozialhilfe auf Landesebene und in den Kommunen beachten Koordination kaum und beteiligen sich nicht in BAR; Bindung durch Föderalismusreform erschwert - Reformdiskussion bleibt bei Sonderwegen 19
20 Systematische Stellung des SGB IX im Sozialgesetzbuch Träger der Jugendhilfe: - Ausschließliche Zuständigkeit für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche - Problematische Abgrenzung zwischen körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen - Träger der Kinder- und Jugendhilfe nehmen ihre Rolle als Rehabilitationsträger kaum an - Diskussion um kleine und große Lösung bei Reform der Eingliederungshilfe 20
21 Koordination der Leistungsträger: Gemeinsame Empfehlungen ( 12 I, 13 SGB IX) - Erarbeitung im Rahmen der BAR schleppend - Gemeinsame Empfehlungen oft wenig konkret - Keine Empfehlungen zu Leistungsinhalten - Träger der Sozialhilfe und Jugendhilfe beteiligen sich nicht - Einbeziehung der Verbände behinderter Menschen und der Leistungserbringer nur punktuell - Ungeklärtes Problem der Rechtaufsicht 21
22 Koordination der Leistungsträger: Verantwortung für Infrastruktur ( 19 I SGB IX) - Verantwortung für bedarfsgerechte und zugängliche Dienste und Einrichtungen bei Rehabilitationsträgern gemeinsam unter Beteiligung der Bundesregierung und der Landesregierungen - Bisher keine koordinierte Wahrnehmung, keine regionalen Arbeitsgemeinschaften ( 12 II) - Wer ist für gemeindenahe Rehabilitation (Art. 19, 26 BRK) verantwortlich? 22
23 Koordination der Leistungsträger: Leistungserbringungsrecht ( 21 SGB IX) - Rehabilitationsträger sollen geeignete Leistungserbringer in Anspruch nehmen - Mit ihnen sind Verträge zu schließen, kein selektives Kontrahieren (BSGE 89, 294) - Rehabilitationsträger sollen Vertragsbedingungen zu Qualität und Wirtschaftlichkeit in trägerübergreifenden Rahmenverträgen regeln - Hierzu nur spärliche Praxis 23
24 Kooperation der Leistungsträger: Gemeinsame Servicestellen ( SGB IX) - Formal in allen Kreisen und kreisfreien Städten eingerichtet - Keine tatsächlich gemeinsamen Einrichtungen - Von den Rehabilitationsträgern nicht als gemeinsame Stelle für Regelfälle genutzt - Die meisten gesetzlichen Aufgaben werden nicht erfüllt - Weit gehende Abstinenz der Träger der Sozialhilfe, Bundesagentur, vieler Krankenkassen und Unfallversicherungsträger 24
25 Kooperation der Leistungsträger: Zuständigkeitsklärung ( 14 I, II, VI SGB IX) - Weiterleitung innerhalb von zwei Wochen, sonst bleibt erstangegangener Träger für alle beantragten Leistungen zuständig - Verantwortung für weitergehende Leistungspflichten bleibt ( 14 VI, 10 I SGB IX) - Erstattung nach 104 SGB X möglich - Kein enger Antragsbegriff - Durch BSG-Rechtsprechung in der Praxis immer weiter durchgesetzt - Schwachpunkt: Bedarfsfeststellung nach gemeinsamen Kriterien fehlt oft 25
26 Kooperation der Rehabilitationsträger: Vorrang der Leistungen zur Teilhabe ( 8 SGB IX) - Umfassende Prüfpflicht, auch träger- und leistungsgruppenübergreifend, im Verfahren um Geldleistungen - Dient der frühzeitigen Bedarfsfeststellung und Prävention - Erfordert geregelte Verwaltungskooperation 26
27 Kooperation der Rehabilitationsträger: Bedarfsfeststellung ( 10 I, 14 V SGB IX) - Bedarfsfeststellung soll leistungsgruppen- und leistungsträgerübergreifend sein - Gemeinsame Kriterien erforderlich - Gemeinsame Empfehlungen zur Begutachtung betonen aber Vorrang trägerspezifischer Kriterien - Wahlrecht zwischen Sachverständigen kaum umgesetzt - Nach erster Leistung durch trägerübergreifende Teilhabeplanung fortzusetzen - Bedarfsfeststellung durch trägerübergreifende Institutionen? 27
28 Kooperation der Leistungsträger: Persönliches Budget ( 17 II-VI SGB IX) - Seit 2008 definitiver Anspruch auf Leistungen in Form des Budgets ( 159 V SGB IX) - Dennoch für viele Träger weiter Modellphase - Kein Ausschluss bestimmter Personengruppen - Kein Ausschluss stationärer Leistungen - Budgetassistenz als Teil des Bedarfs zu berücksichtigen - Zielvereinbarungen individuell zu gestalten - Voraussetzung: trägerübergreifender Standard der Bedarfsfeststellung 28
29 Zusammenfassung: Reformbedarf - Keine weiteren trägerspezifischen Sonderwege - Handlungsfähige gemeinsame Institutionen für Leistungskonkretisierung, Infrastrukturplanung, Bedarfsfeststellung und Beratung schaffen - Im Leistungsrecht: - Weiterentwicklung der medizinischen zur gesundheitlichen Rehabilitation - Re-Orientierung der beruflichen Rehabilitation auf Nachhaltigkeit - Neu-Verortung der Teilhabe an Bildung - Aufwertung der sozialen Teilhabe 29
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