Markt und Qualität Medizinischer Gutachten in der Schweiz: Eine Querschnittstudie an über 3000 Gutachten aus 2008
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- Ina Klein
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1 Artikel für Schweizer Versicherung Markt und Qualität Medizinischer Gutachten in der Schweiz: Eine Querschnittstudie an über 3000 Gutachten aus 2008 Yvonne Bollag, Holger Auerbach, Klaus Eichler, Daniel Imhof, Susanna Stöhr, Niklaus Gyr Kontaktadressen: Bollag Yvonne, asim, Academy of Swiss Insurance Medicine, Petersgraben 4, 4031 Basel Tel , Auerbach Holger, WIG, Winterthurer Institut für Gesundheitsökonomie, St. Georgenstrasse 70, 8401 Winterthur, Tel , Hintergrund Medizinische Gutachten sind sowohl für Privatversicherungen wie die Sozialversicherungen häufig essentielle Grundlagen um Leistungsansprüche zu bearbeiten. Die Nachfrage nach qualitativ hochstehenden Gutachten ist seit Mitte der 90er Jahre kontinuierlich gestiegen und oft dauert es Monate bis ein Gutachten in Auftrag gegeben und weitere Monate bis es ausgeführt werden kann. Bis anhin gibt es praktisch keine wissenschaftliche Aufarbeitung, welche Aufschlüsse über Nachfrage, Preisgestaltung und insbesondere Qualitätssicherung medizinischer Gutachten in der Schweiz ermöglicht. asim, die Akademie für Versicherungsmedizin am Universitätsspital Basel und WIG, das Winterthurer Institut für Gesundheitsökonomie haben deshalb gemeinsam eine erste repräsentative Querschnittstudie zur Marktsituation und Qualität der medizinischen Gutachten in der Schweiz durchgeführt. Die Studie wurde ermöglicht durch eine gemeinsame Forschungsunterstützung von SVV, SUVA, IV, SIM, sowie durch private Unterstützungsbeiträge und einen substantiellen Eigenbeitrag von asim und WIG. 1
2 Vorgehensweise Zur Erfassung der aktuellen Gutachtenssituation wurden bei sämtlichen in der Schweiz tätigen Trägern der sozialen Krankentaggeld-, Invaliden- und Unfallversicherung sowie bei den privaten Krankentaggeld- und Unfallversicherern und bei den Haftpflichtversicherern Daten zu allen, während drei Monaten (1. Februar bis 30. April 2008) eingehenden, medizinischen Gutachten erhoben. Die Datenerhebung umfasste 41 Fragen, die seitens der auftraggebenden Versicherung webgestützt online in D, F oder I beantwortet wurden. Bei einer aus dem obigen Datensatz nach dem Zufallsprinzip gezogenen repräsentativen Stichprobe von 104 (auswertbar 97) Gutachten wurde die Qualität detailliert analysiert. Der Prozess der Gutachtenevaluation wurde in einer unabhängigen Fachexpertengruppe entwickelt, indem in drei Workshops ein gemeinsames Qualitätsraster erarbeitet und dieses durch unabhängige, in allen drei Sprachen qualifizierte Reviewer (Doppelreview pro Gutachten) für die Qualitätsbeurteilung eingesetzt wurde. Die so gewonnenen Qualitätsbeurteilungen wurden in einem minutiösen Prozess plausibilisiert, divergierende Beurteilungen analysiert und durch die beiden Reviewer ausdiskutiert. Das Qualitätsraster umfasste die folgenden fünf Dimensionen: - formale Qualitätskriterien - fachliche Qualität der Befunderhebung und Diagnosestellung inklusive Kausalitätsbearbeitung im Unfall- und Haftpflichtbereich - Beurteilung der Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit inklusive Massnahmen und Komorbiditäten - Schwierigkeitsgrad - Gesamtbewertung mittels Note von 1-6. Ergebnisse Auftrags- und Kostenvolumen Insgesamt konnten 3165 Gutachten aus allen drei Sprachregionen ausgewertet werden. Gemäss nicht offiziellen Erhebungen und Schätzungen wird von einem Volumen in der Schweiz von jährlich rund medizinischen Gutachten ausgegangen. Mit der Studie wären somit ca. 1/3 aller Gutachten eines Quartals erfasst worden. Unter Berücksichtigung, dass sich aus Kapazitäts-und Organisationsgründen die IV- Region Ostschweiz, zwei grössere private Taggeld- und Unfallversicherer und die 2
3 SUVA teilweise an der vorliegenden Studie nicht beteiligen konnten, darf die geschätzte Marktlage für medizinische Gutachtensaufträgen pro Jahr durch die Studie als plausibilisiert gelten. Mit dem in der Studie erfassten Mittelwert der Kosten von rund 5'000 Fr. (IV) respektive Franken (PV inkl. UVG) pro Gutachten belaufen sich die geschätzten Gesamtkosten der medizinischen Gutachten auf rund Mio Franken pro Jahr. Die Zahl erscheint angesichts der öffentlich publizierten Zahl von rund 35 Mio Franken Kosten allein für polydiszplinäre IV-Gutachten ebenfalls plausibel. Gutachter Rund zwei Drittel der medizinischen Gutachten der Schweiz wird in der Arztpraxis (57.7%) respektive in Spitälern (8.7%), ein knappes Drittel von spezialisierten Gutachtensinstitutionen (Medas 24.3%; andere Institutionen 7.1%) und weitere 2.1% von anderen Gutachtern (bspw. Konsiliarärzte für Versicherungen) erstellt. Weitaus am häufigsten sind psychiatrische Gutachtensaufträge (65.9%), gefolgt von rheumatologischen (30.3%), allgemein/ internmedizinischen (18.3%), neurologischen (16.5%) und orthopädischen (15.8%). Die übrigen FMH-Kategorien spielen eine untergeordnete Rolle. Dauer des Begutachtungsprozesses Im Mittel vergehen bis zur Erteilung eines gutachterlichen Auftrages bei der Beurteilung von Arbeitsunfähigkeiten knapp 4 Jahre seit Beginn der Arbeitsunfähigkeit. Bei Haftpflicht- oder Unfallereignissen vergehen bis zum Gutachtensauftrag im Mittel 3.3 Jahre seit dem Schadenereignis. Für die Erstellung des Gutachtens benötigen die Begutachter im Durchschnitt knapp 5 Monate. Koordination In einem Drittel der Fälle lagen vor dem in der Studie erfassten Gutachten bereits eines oder mehrere andere medizinische Gutachten zum gleichen Fall vor. Für ein knappes Drittel der begutachteten Fälle wurde die gleichzeitige Zuständigkeit eines anderen Versicherers als sicher oder wahrscheinlich bejaht, aber bei zwei Drittel dieser Fälle erfolgte keinerlei Koordination zwischen den Versicherungen. In 10% der Fälle wurde die Begutachtung koordiniert durchgeführt, in 20% wurde zumindest über die Begutachtung informiert. 3
4 Zufriedenheit und Qualitätsbeurteilung durch die Auftraggeber Die Zufriedenheit der Auftraggeber mit dem Gutachten wurde für 10 Teilaspekte befragt: Voraktenberücksichtigung, Formale Gliederung, Inhaltliche Darlegung, Beantwortung der gestellten Fragen, Schlussfolgerungen des Gutachters, Rückfragebedarf, Umfang, Bearbeitungsdauer, Preis-/Qualitätsvergleich sowie Gesamtzufriedenheit. Grundsätzlich liegt die Zufriedenheit durch die Auftraggeber zu allen befragten Einzelaspekten in einem hohen Bereich. Dabei werden die IV-Gutachten durch die IV in praktisch allen Aspekten schlechter beurteilt als dies bei den Gutachten der anderen Versicherungen zu beobachten war. Wesentlichstes Kriterium für eine hohe Gesamtzufriedenheit war, ob das Gutachten in seinen Schlussfolgerungen als gut begründet und nachvollziehbar eingestuft wurde. Insgesamt wurden rund 80% der Gutachten bezüglich Gesamtqualität als zufriedenstellend oder sehr zufriedenstellend bewertet. Experten-Qualitätsbeurteilung Die Detailanalyse der 97 repräsentativen Gutachten zeigt bezüglich Gesamtbewertung ein Resultat von 22.7% qualitativ ungenügenden, 48.4% qualitativ genügenden bis guten und 28.9% qualitativ sehr guten Expertisen. Damit zeigt sich deutlich, dass grosse Qualitätsdiskrepanzen bei der medizinischen Begutachtung in der Schweiz bestehen, und dass mit über 22% ungenügenden Gutachten die in den Vorstudien aufgezeigten und in den Medien kommunizierten Mängel im schweizerischen Gutachterwesen belegbar sind. Die Mängel der Gutachten betreffen weniger den formalen Aufbau, sondern fussen in erster Linie in oberflächlichen und unvollständigen Befunderhebungen und in mangelhafter versicherungsmedizinischer Diskussion und Begründung der Schlussfolgerungen. Ersteres lässt darauf schliessen, dass für Begutachtungen zuwenig Zeit aufgewendet wird, letzteres deutet auf mangelnde Qualifikation und Expertise in den spezifischen Anforderungen der Gutachtenserstellung hin. Signifikante Qualitätsunterschiede ergaben sich im analysierten Kollektiv hinsichtlich Sprachherkunft (deutschsprachige Gutachten waren signifikant schlechter als romanische italienische und französische ) und Schwierigkeitsgrad (je schwieriger ein Gutachten eingestuft wurde, desto höher wurde seine Qualität bewertet). Mögliche Erklärungen, die in weiterer Forschungsarbeit zu vertiefen sind, könnten sein: Beizug von spezialisierte- 4
5 ren und qualifizierteren Gutachter sowohl in der italienischen und welschen Schweiz und bei komplexeren Gutachten. Auch die Dauer, die seit Eintritt der Arbeitsunfähigkeit oder seit dem Schadensereignis bis zur Begutachtung verstrichen war, beeinflusst die Gutachtensqualität signifikant. Je mehr Zeit verstrichen ist, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Gutachten schlechter bewertet ist. Die vergleichende Analyse der Qualitätsbeurteilung durch die Auftraggeber und die Experten ergab bei der Streuung und Analyse der sehr guten und ungenügenden Gutachten deutliche Diskrepanzen. So wurde die Qualität durch die Experten wesentlich häufiger als durch die Auftraggeber für ungenügend erachtet. Handlungsempfehlungen Die Studie zeigt das beträchtliche Marktvolumen für medizinische Gutachten in der Schweiz wie auch die Notwendigkeit der Qualitätsverbesserung. Zusammenfassend werden folgende Empfehlungen ausgesprochen: Schaffung von Markttransparenz mittels regelmässiger Datenerhebung zu Gesamtmenge, Auftragsvolumen und Entschädigung der medizinischen Gutachten Beschleunigung der Gutachtensprozesse Koordination von Gutachtensaufträgen zwischen den verschiedenen Versicherungen Verbesserung der Gutachtensvergabe durch Qualifizierung der Versicherungen bei der Frageformulierungen und neue Methoden der Zuteilung bspw. durch eine zentrale Clearingstelle Erarbeitung von medizinischen Leitlinien - sowohl allgemein versicherungsmedizinische wie fachspezifische Leitlinien zur Förderung der Qualität und Homogenisierung von medizinischen Gutachten Weiterbildung der Ärzteschaft im Gutachterwesen durch Gutachterkurse und fachspezifische Fortbildungen, Koppelung von Zertifizierungen an Qualitätsnachweise Entwicklung eines wissenschaftlich validierten Rasters zur Qualitätsbeurteilung Analyse der Qualitätsunterschiede nach Sprachregion Pilotversuche gemeinschaftliche Begutachtung für die Schweiz nach dem Vorbild Frankreichs 5
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