Psychisch krank in Frühpension Der Trend kann aufgehalten werden
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- Lukas Giese
- vor 9 Jahren
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1 Psychisch krank in Frühpension Der Trend kann aufgehalten werden Minister Hundstorfer setzt auf Rehabilitation und rechtzeitige Psychotherapie. Der Österreichische Bundesverband für Psychotherapie (ÖBVP) begrüßt diese Maßnahmen. Immer mehr ÖsterreicherInnen gehen in Frühpension weil sie psychisch krank sind. Rechtzeitige Psychotherapie und Rehabilitationsmaßnahmen können diese Entwicklung stoppen, meint Minister Hundstorfer. In den letzten Jahren nahmen in fast allen OECD-Ländern der vorzeitige und krankheitsbedingte Pensionsantritt zu, obwohl sich der allgemeine Gesundheitszustand der Bevölkerung kontinuierlich verbessert. In Österreich ist die Erwerbsbeteiligung Älterer eine der niedrigsten im internationalen Vergleich 1. Dabei sind psychische Erkrankungen mittlerweile die häufigste Ursache für Invaliditäts- bzw. Frühpensionen in Österreich. Aus den Zahlen des Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger (HVST) geht hervor, dass von derzeit rund 2,2 Millionen Rentnern eine Invaliditätspension bekommen. Laut Pensionsversicherungsanstalt (PVA) machten ,5 Prozent der für arbeitsunfähig erklärten Angestellten psychische Erkrankungen geltend. Seit den 90er Jahren hat sich die Anzahl der Neuzugänge in die Invaliditätspension aufgrund psychischer Erkrankungen fast verdreifacht. Gab es 1995 noch Neuzugänge, waren es 2010 bereits OECD, 2010: Erwerbsbeteiligung Älterer in den vergangenen Jahren gestiegen, liegt aber nach wie vor deutlich unter dem OECD-Schnitt. OECD-Mittel im Jahr 2009: Rund 55 Prozent der 55 bis 64-Jährigen erwerbstätig, in Österreich dagegen nur 41 Prozent, in der Schweiz zum Vergleich 68 Prozent. Erwerbstätigkeit bei den Älteren bricht in ähnlichem Maße nur in Polen, Belgien und Frankreich ein. Mitglied des Europäischen Verbandes für Psychotherapie - EAP :: Member of the World Council for Psychotherapy WCP 1030 Wien :: Löwengasse 3/5/6 :: T :: F :: oebvp@psychotherapie.at :: ZVR-Zahl :: DVR :: UID.Nr. ATU
2 Aktuelle Zahlen der PVA belegen, dass psychische Erkrankungen sowohl bei Arbeitern (31,7%) als auch bei Angestellten (44,5%) die häufigste Ursache für eine Invaliditätspension darstellen. Das Durchschnittsalter der Personen, denen eine Invaliditätspension zuerkannt wurde, betrug im Jahr 2010 bei Männern 53 und bei Frauen 48,9 Jahre, dies obwohl von den rund Anträgen nur ungefähr genehmigt wurden. Psychische Erkrankungen verursachen in Österreich insgesamt jährlich volkswirtschaftliche Kosten von 7 Milliarden Euro. Die Kosten der Invaliditätspensionen aufgrund psychischer Erkrankungen betragen laut WIFO-Report (2008) jährlich 2,8 Mrd. Euro. Nehmen psychische Erkrankungen zu? - Veränderte gesellschaftliche Verhältnisse als psychische Wirkfaktoren Ja, meinen ExpertInnen aus der Sozialforschung, die Veränderungen in den Lebens- und Arbeitswelten spätmoderner Gesellschaften erbringen vermehrt Seite 2
3 individuellen psychischen Stress und machen es schwieriger, eine Gesundheitsbalance aufrecht zu erhalten. Psychische Stressoren sind in der Lage, die psychische Organisation zu destabilisieren und die Balance zwischen labilisierenden und stabilisierenden Kräften zu stören. Gesellschaftliche Verhältnisse nehmen indirekt über die Lebenswelten der Individuen (Familie, Arbeitswelt, Peers, Medien etc.) Einfluss auf das Individuum und sein psychisches System. Veränderungen in der Ausprägung gesellschaftlicher Wirkfaktoren werden besonders darin gesehen: 2 In der Arbeitswelt sind Leistungsdruck, Innovations- und Flexibilitätsdruck, Steigerung der Produktivität, interne Konkurrenz, Mobbing und Gratifikationskrisen erlebbar. Die so genannte Spaß- und Leistungsgesellschaft erklärt den Konsum zum Lebenszweck und zum prioritären Freizeitvergnügen. Ungleiche Verteilung von Gütern, Bildung und Lebenschancen, Armut und Deprivation nehmen zu. Der Anspruch an Selbstkompetenzen, Selbstverantwortung, Selbstregierung durch manipulierte Individualisierung hat zugenommen. Viele quasiautonome Bereiche, das Individuum erkennt sich in vielen Funktionen als ersetzbar. Probleme der Identitätsstabilisierung, Entsolidarisierung. Zunahme an Konformitätsdruck und artifiziellem Verhaltensrepertoire (Mode, situative Verhaltenskompetenzen) Diese Belastungen führen dazu, dass in Deutschland bereits jeder fünfte Arbeitnehmer innerlich gekündigt hat. Nur 13 Prozent arbeiten noch hoch engagiert. In 40 Prozent der österreichischen Büros wird gemobbt (IMAS-Studie zur Arbeitsmotivation der Österreicher, 2009). 1,5 Mio ÖsterreicherInnen sind 2 (z. B. Wolfgang Dür, Ludwig Boltzmann Institut, Vortrag anlässlich eines Symposiums psychische Gesundheit der SV Wissenschaft, SGKK 2010) Seite 3
4 laut Business Doctors (2008) Burnout-gefährdet. 3 Mio ÖsterreicherInnen leiden an Schlafstörungen, 1 Mio sind alkoholgefährdet bzw. krank. Arbeitsassoziierte Faktoren mit den derzeitig höchsten Risiken für psychische Gesundheit und Stress (European Agency for Safety and Health at Work 2007) Arbeitsplatzunsicherheit Arbeitsintensivierung Zunahme psychosozialer Anforderungen mangelnde Vereinbarkeit von Familie und Beruf Merkmale einer gesunden und ungesunden Organisation pathogene Merkmale Autoritärer Führungsstil Steile Hierarchie Misstrauenskultur Intransparenz von Entscheidungen geringe Handlungs-und Mitwirkungsspielräume hohe Arbeitsteilung, Spezialisierung keine/unzureichende Weiterbildungsmöglichkeiten (European Agency for Safety and Health at Work 2007) salutogene Merkmale Partizipativer Führungsstil Flache Hierarchie Vetrauenskultur Soziale Beziehungen Beteiligungsmöglichkeiten Gemeinsame Überzeugungen, Werte, Regeln Transparenz von Entscheidungen Prozessorientierte Arbeitsorganisation Teamarbeit Weiterbildungsmöglichkeiten Gesundheitsförderung Psychische Erkrankungen heute kein Tabuthema mehr Die Scheu, über psychische Erkrankungen zu sprechen ist heute nicht mehr so groß wie früher. Dadurch ist es möglich geworden, psychische Probleme und Erkrankungen zu benennen und besser zu diagnostizieren, erklärt Dr. Eva Mückstein, Präsidentin des ÖBVP. Wie auch Sozialminister Rudolf Hundstorfer in zahlreichen Medienberichten und Gesprächen feststellte, gehen die Menschen nicht aus Jux und Tollerei in Pension, sondern weil sie wirklich psychisch krank sind. Außerdem ist es nicht so einfach, eine Invaliditätspension zuerkannt zu bekommen, da es sich um ein sehr strenges Prozedere handelt. Seite 4
5 Dass Invaliditätspensionen nicht einfach aus Bequemlichkeit in Anspruch genommen wird, zeigt auch die Statistik: Männer in Invaliditätspension sterben mit durchschnittlich 68,7 Jahren um rund 10 Jahre früher als jene in Alterspension, auch bei Frauen liegt das Sterbealter um rund 7 Jahre unter dem der AlterspensionistInnen! Auch diese Zahlen sprechen dafür, dass psychische Probleme nicht bagatellisiert werden sollten: Die Lebenszeitprävalenz für psychische Störungen liegt bei Prozent, das heißt, beinahe jeder Dritte läuft Gefahr, zumindest einmal im Leben psychisch krank zu werden. Wenn psychische Störungen unbehandelt bleiben, besteht die große Gefahr der Chronifizierung. Chronische Verläufe sind noch immer bei 40 Prozent der Betroffenen zu beobachten. Möchte man den psychischen Gesundheitszustand der Bevölkerung verbessern, ist zu beachten, dass psychische Erkrankungen fast immer auf ein multifaktorielles Geschehen zurückzuführen sind. Zusätzliche Stressbelastung am Arbeitsplatz ist dann oft nur noch der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Grundsätzlich betrachten psychotherapeutische Ansätze psychische Gesundheit bzw. Krankheit immer im lebensgeschichtlichen Gesamtkontext der Person. Was der Einzelne in seinem Leben zu bewältigen hat und worauf er mit Leiden reagiert, ist so unterschiedlich, wie es individuelle Lebensverläufe eben sind. Die Qualität des Bewältigungsgeschehens hängt von der jeweiligen Bewältigungsaufgabe, sowie vom Individuum, seiner Bewältigungskapazität und kompetenz und seiner Einbettung in ein Beziehungsgefüge ab. Psychische Erkrankungen schränken die Leistungsfähigkeit und die Lebensqualität massiv ein Psychische Erkrankungen auch schon leichtere Depressionen und Ängste werden schmerzlich und leidvoll erlebt und schränken die Funktionsfähigkeit oft beträchtlich ein. Aus einer psychodynamischen Perspektive könnte man sagen, Seite 5
6 der Organismus konzentriert all seine Aufmerksamkeit auf die Bewältigung eines Lebensproblems. Das diagnostische und statistische Manual psychischer Störungen (DSM) unterscheidet 10 Kategorien von Einschränkungen aufgrund psychischer Störungen, die von Einbrüchen in der Leistungsfähigkeit, Konzentrationsstörungen, Rückzug aus Beziehungen und Freundschaften über die Unfähigkeit zu arbeiten, den Alltag zu bewältigen, sich zu pflegen bis hin zum Verlust der sozialen Integration und Selbst- und Fremdgefährdung reichen. Wie Abhilfe schaffen? Sozialminister Hundstorfer bringt als Vorbild Finnland ein. Dort habe man innerhalb von fünf Jahren das Pensionsalter um ein Jahr erhöhen können. Allein das reduziert die Kosten um 300 Mio Euro. Dafür gäbe es zwei Gründe: Besseren Kündigungsschutz und altersgerechte Arbeitsplätze Investition in frühzeitige Vorsorgemaßnahmen Psychotherapie als Vorsorgemaßnahme bei psychischen Störungen Der Beitrag der Psychotherapie zur Gesundheitsversorgung bei psychischen Erkrankungen ist unumstritten, auch die Wirksamkeit von Psychotherapie ist über jeden Zweifel hinaus nachgewiesen. 3 Wiederherstellung von Gesundheit, Besserung von Symptomen durch Erkennen, Be- und Verarbeiten von krankmachenden Faktoren und Lebensumständen, Integration von emotional verletzenden Erfahrungen etc., Förderung von Persönlichkeitsentwicklung im Sinne von Stärkung der Einsichts- und Reflexionsfähigkeit, der emotionalen Kompetenz all das fördert und hat die Psychotherapie zum Ziel. 3 Z. B. Jürgen Margraf: Kosten und Nutzen der Psychotherapie. Eine kritische Literaturauswertung, Springer Verlag, 2009 Seite 6
7 Empowerment Erkennen von krankmachenden Umständen, Stärkung von Selbstwirksamkeitsüberzeugung, Autonomie und Selbstbestimmung. Der ÖBVP sieht die rechtzeitige Psychotherapie als große Chance, dem Negativtrend entgegenzuwirken. Noch immer werden psychische Erkrankungen im Durchschnitt sechs Jahre lang fehlbehandelt, bevor es zu einer psychotherapeutischen Behandlung kommt. Wenn im Arbeitsumfeld häufige Krankenstände aufgrund psychischer Probleme und Erkrankungen auffallen, dann soll es nun ein Screening-Verfahren möglich machen, den Betroffenen entsprechende Hilfe zukommen zu lassen. Psychotherapie ist dabei eine Schiene, so Sozialminister Rudolf Hundstorfer. Dadurch ergeben sich Einsparungspotenziale wie zum Beispiel die Reduktion der Anträge auf Invaliditätspensionen, aber auch die Senkung des Psychopharmaka-Konsums, Arztbesuche, Krankenstandstage und Krankenhausaufenthaltstage. 4 Allein die Kosten für Psychopharmaka betrugen im Jahr 2007 rund 206 Mio. Euro. Für Psychotherapie hingegen haben die Krankenkassen im selben Jahr nur rund 43 Mio. Euro ausgegeben, das sind maximal 0,2 Prozent der öffentlichen Gesundheitsausgaben. Psychotherapievertrag jetzt verhandeln Das Ziel, psychische Erkrankungen rechtzeitig und fachgerecht in einer Psychotherapie zu behandeln, kann aber nur erreicht werden, wenn Psychotherapie künftig kassenfinanziert in Anspruch genommen werden kann. Der ÖBVP bemüht sich deshalb aktuell um Vertragsverhandlungen mit dem Hauptverband der Sozialversicherungsträger und um eine Sofortmaßnahme: Die Erhöhung des Kassenzuschusses von 21,80 Euro (seit 1992 nicht wertangepasst!) auf 40 Euro pro Behandlung. 4 Soziale Sicherheit, Mai 2008: 45,6 Prozent der PsychotherapiepatientInnen berichten nach abgeschlossener Psychotherapie von abnehmenden Arztbesuchen, die Krankenstandsfälle sanken nach der Therapie auf 60 Prozent des Ausgangswertes. Seite 7
8 PolitikerInnen aller Parteien zeigen sich aktuell interessiert und begrüßen die Aufnahme der Gesamtvertragsverhandlungen des ÖBVP mit dem HVST, um kassenfinanzierte Psychotherapie zu ermöglichen. Wünschenswert wäre nun, dass auch der HVST ein deutliches Signal setzt und mitzieht, damit der Entwicklung zu immer mehr Invaliditäts- und Frühpensionen aufgrund psychischer Erkrankungen wirkungsvoll entgegengesteuert werden kann. Für inhaltliche Fragen wenden Sie sich bitte an: Dr. Eva Mückstein, Präsidentin des ÖBVP, Dr. Winfrid Janisch, NÖLP Vorsitzender, 0664/ Für organisatorische Fragen wenden Sie sich bitte an: Österreichischer Bundesverband für Psychotherapie Löwengasse 3/5/ Wien T: 01/ Seite 8
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