Grundlagen der Psychologischen Schmerztherapie

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1 Grundlagen der Psychologischen Schmerztherapie 1. Einführung und Begriffsdefinition Akuter und Chronischer Schmerz Störungstheorien und Modelle zur Entstehung und Aufrechterhaltung von chronischen Schmerzen Neurophysiologisches Modell: Die Gate-Control-Theorie Operantes Lernen Kognitiv-behavioraler Ansatz Schmerz und Depression Prozesse der Chronifizierung von Schmerzen Diagnostik und Therapie Literatur Zur Vertiefung Für Klienten Einführung und Begriffsdefinition Schmerz ist nach der Definition der International Association for the Study of Pain ein:...unangenehme sensorische und emotionale Erfahrung, die mit tatsächlichen oder potentiellen Gewebeschädigungen assoziiert ist oder mit Begriffen solcher Schädigungen beschrieben wird... (IASP, 2003). Anhand dieser knappen Definition von Schmerz können folgende Aspekte herausgestellt werden: 1. Akute Schmerzen treten auf, wenn Körpergewebe so stark gereizt wird, das eine Schädigung droht oder auftritt 2. Schmerzen können individuell so erlebt werden, als ob eine Gewebeschädigung droht oder eintritt, auch wenn keine reale Schädigung zu Grunde liegt (z.b. Im Rahmen von chronischen Schmerzen) 3. Schmerz ist eine (mehr als eine) Sinnensempfindung oder reine Reizwahrnehmung [ s. Punkt Nr. 4] 4. Schmerz ist ein komplexes Reismuster auf folgenden 3 Verhaltensebenen (Nach Birbaumer 1986): Reaktionsebene Reaktionsanteil subjektiv-psychologisch Offene Reaktionen (z.b. Klagen, Stöhnen, Weinen, Schreien) Verdeckte Reaktionen: Gedanken/ Bewertungen (z.b. Die Schmerzen sind unerträglich), Das Leben ist hoffnungslos,...) Vorstellungen (z.b. bewegungsunfähig zu sein, im Bett liegen zu müssen, im Rollstuhl zu landen,...) Gefühle (z.b. Angst, Verzweiflung, Depression) 1

2 motorisch-verhaltensmäßig Muskuläre Reaktionen (Z.B. reflektorische zurückziehen der Hand, Veränderung der Ausdruckmotorik, Verspannungen,...) physiologisch-organisch Erregungen des nozizeptiven Systems im ZNS oder im autonomen Nervensystems, dadurch Freisetzung von (chemisch bestimmbaren) Schmerzstoffen wie β- Endorphin, Substanz P, Serotonin u.a. Änderung der Herzfrequenz und des Blutdruckes Hier ist zu betonen, dass der Zusammenhang zwischen diesen oben genannten Reaktionsebenen häufig nicht sehr groß ist, was auf die Notwendigkeit einer mehrdimensionalen Schmerzdiagnostik hinweist. Des weiteren läst sich nach dem Entstehungsort ein somatischer von einem viszeralen Schmerz unterscheiden (Birbaumer & Schmidt 1996). Der somatische Schmerz wiederum kann weiter in einen Oberflächenschmerz ( von der Haut ausgehend) und in einen Tiefenschmerz ( ausgehend von Muskeln, Knochen, Gelenken oder dem Bindegewebe) differenziert werden. Der viszerale ( Eingeweide -) Schmerz tritt bei rascher/ starker Dehnung, bei Spasmen oder Mangeldurchblutung der Hohlorgane (Beispiel: Gallen- oder Nierenkoliken, Blinddarmreizung) auf. 2. Akuter und Chronischer Schmerz Nach der Dauer unterscheidet man zwischen einem akuten (< 3 Monate) und einem chronischen (> 3 bzw. 6 Monate) Schmerz. Da man aktuell davon ausgeht, dass es sich bei akuten und chronischen Schmerzen um voneinander eigenständige klinische Entitäten handelt, die (wahrscheinlich) auf unterschiedliche psychophysiologische Mechanismen beruhen, sind in der nachfolgenden Tabelle kurz die wesentliche Unterscheidungsmerkmale aufgelistet (nach Ernst 1998): Allgemeine Unterschiede zwischen akutem und chronischem Schmerz Akuter Schmerz Chronischer Schmerz Verlauf Tage bis 1 Woche Kurzfristiges Auftreten Verlauf > 3 (6) Monate Dauerhaft bestehend oder wiederkehrend Warn- und Schutzfunktion Aus der Schmerzlokalisation kann unter Berücksichtigung der Schmerzqualität auf die zugrunde liegende Schmerz-ursache geschlossen werden Zumeist als Begleitsymptom einer akuten Erkrankung oder als Folge einer darauf Verschiedene Ursachen (bio-psychosozial) Keine Warn- oder Schutzfunktion Fehlen (aktueller) hinreichender organischer Ursachen oder Auslöser Eigenständiges Krankheitsbild 2

3 gerichteten Behandlungsmaßnahme (z.b. eines chirurgischen Eingriffes) Ausmaß der Schmerzes steht in direkter Beziehung zur Intensität des Schmerz auslösenden Reizes Behandlung der Symptome und der psychosozialen Auswirkungen Modifikation des Schmerzerlebens i. S einer subjektiven Schmerzlinderung Behandlung der Ursache Im akuten Zustand ist Schmerz in der Regel ein Signal für eine drohende bzw. eingetretene Gewebsschädigung oder Krankheit ( Schutzschmerz ). Dabei gelangt die über Nozirezeptoren vermittelte Information über sensible Afferenzen zum Hinterhorn des Rückenmarks und dann weiter über die spino-thalamische Bahn zur kortikalen Projektion (Mülle-Schwefe 2003). Im chronischen Fall ist Schmerz jedoch eine komplexe Systemstörung, die sowohl biologische ( neuroplastische Veränderungen), wie auch psychosoziale Einflussfaktoren aufweist. Neben der Dauer des Schmerzes werden in der Literatur zusätzlich folgende Merkmale und Dimensionen der Chronifizierung von Schmerzen aufgelistet (vgl. Kröner-Herwig 1999): Anzahl der Behandlungsversuche Anzahl der konsultierende Ärzte Anzahl verschiedener Therapien und Operationen Anzahl von Rehabilitationsmaßnahmen Krankheitsverhalten Schon- und Vermeidungsverhalten Missbrauch von Medikamenten Psychische Beeinträchtigungen Verstärktes Grübeln Katastrophisieren Selbstwertverlust Hilf- und Hoffnungslosigkeit Depression Angst, Verzweiflung Soziale Beeinträchtigungen Veränderung sozialer Rollen Einschränkung sozialer Interaktionen und Kontakte Soziale Isolation Berufliche Folgen Fehltage wegen Arbeitsunfähigkeit Arbeitsplatzverlust Umschulung Berentung 3

4 Das chronische Schmerzerleben muss als eigenständiges Krankheitssyndrom betrachtet werden, dass sich von der ursprünglich zugrunde liegenden somatischen Störung abgekoppelt hat. Nach Gerbershagen (1995) kann nur dann von einem chronischen Schmerzsyndrom gesprochen werden, wenn der Schmerz den Patienten in seinem Erleben und Verhalten bedeutsam beeinträchtigt und wiederholt zum größten Teil erfolglos behandelt wurde. Nach aktuellen Angaben der IASP ( haben etwa ein Fünftel der Erwachsenen in den Industrienationen chronische Schmerzen, wobei etwa zwei Dritteln der Schmerzpatienten diese am Bewegungsapparat angegeben. Chronische Kopfschmerzen und Migräne haben weniger als zehn Prozent, und ein bis zwei Prozent leiden an Tumorschmerzen. Um die Häufigkeit und Lokalisation (s. folgende Abbildung) chronischer Schmerzen in der Bevölkerung zu ermitteln, wurden zwischen Oktober 2002 und Juni 2003 in 16 europäischen Staaten insgesamt Erwachsene telefonisch befragt. Außerdem wurden insgesamt 4839 Interviews mit chronisch Schmerzkranken gemacht. Wo Patienten ihre Schmerzen lokalisieren Ermittelt wurde, dass durchschnittlich jeder fünfte Erwachsene in Europa (= 19 Prozent, in Deutschland sind es 17 Prozent) chronische Schmerzen angibt. Im Durchschnitt leiden die Patienten seit sieben Jahren an chronisch persistierenden oder rekurrierenden Schmerzen, 21 Prozent sogar seit mehr als 20 Jahren. Ein Drittel der Betroffenen hat berichtet, ständig - also rund um die Uhr und an 365 Tagen pro Jahr - Schmerzen zu haben. Die chronische Schmerzen haben einen deutlichen negativen Einfluss auf die Leistungsfähigkeit und Lebensqualität der Betroffenen. So ist es für viele der befragten Patienten bspw. nur mit Einschränkungen oder gar nicht mehr möglich: Gegenstände zu heben (72 Prozent), Sport zu treiben (73 Prozent), die Hausarbeit zu erledigen (54 Prozent) oder an sozialen Aktivitäten teilzunehmen (48 Prozent). 30 Prozent sind auf die Hilfe anderer angewiesen. 67 Prozent können aufgrund der Schmerzen nicht mehr richtig schlafen. Auswirkungen haben die Schmerzen auch auf die Beschäftigung: Jeder fünfte Patient hat angegeben, aufgrund seiner Erkrankung bereits einmal den Arbeitsplatz verloren zu haben. Als Folge chronischer Schmerzen hat 4

5 sich bei jedem Fünften eine Depression entwickelt. Und etwa jeder Sechste empfindet seine Schmerzen als so schlimm, dass er nicht mehr leben möchte. Die Studie hat außerdem gezeigt, dass die primären Ansprechpartner für chronisch Schmerzkranke in Europa zu 70 Prozent die Hausärzte und Allgemeinmediziner sind. Nur 23 Prozent der Befragten haben einen Schmerztherapeuten oder spezialisierten Psychotherapeuten konsultiert. Alleine in Deutschland entstehen jährliche Kosten von über 40 Milliarden Euro für die Behandlung und Folgekosten chronischer Schmerzen (Müller-Schwefe 2003). 3. Störungstheorien und Modelle zur Entstehung und Aufrechterhaltung von chronischen Schmerzen 3.1 Neurophysiologisches Modell: Die Gate-Control-Theorie Die gate-control-theorie wurde erstmalig 1965 von Melzack und Wall vorgestellt. Sie besteht aus einem Modellteil zur Beschreibung peripherer Mechanismen der Schmerzentstehung und - Weiterleitung, sowie einem Modellteil zur Beschreibung des Aufbaus und des Zusammenwirkens verschiedener Schmerzkomponenten auf zentraler Ebene. Bezüglich der peripheren Mechanismen gehen Melzack & Wall von der Annahme aus, dass ein besonderer Nervenmechanismus in der substantia gelatinosa des Hinterhorn des Rückenmarks vorhanden ist, der wie ein Tor (= gate) funktioniert und die Weiterleitung von peripheren Schmerzreizen zum Wahrnehmungszentrum im ZNS moduliert ( verstärkt oder abschwächt). Das Tor wird geschlossen, in dem die Hinterhornneurone durch die Erregung dicker nicht nozizeptiver Afferenzen ( A-beta-Fasern) gehemmt werden. Das Tor wird geöffnet, in dem die Hinterhornneurone durch die Erregung dünner nozizeptiver Afferenzen ( A-delta- und C-Fasern) aktiviert werden. Des Weiteren wird die Impulsübertragung durch absteigende Signale aus höheren Hirnzentren beeinflusst. Diese können nun wiederum über schnell leitende absteigende Bahnen Einfluss auf das Tor ausüben und es gegebenenfalls schließen. Auf der Ebene der zentralen Verarbeitung werden von Melzack und Wall drei Schmerzkomponenten (= Systeme der Reizrepräsentation) angenommen. Es wird unterschieden zwischen sensorisch-unterscheidendem System, motivierend-affektivem System und der zentralen Kontrolle. Diese drei Systeme sollen die aus dem Tor ankommenden schädigenden Reize in der Weise verarbeiten, dass Informationen über den Wirkort, das Ausmaß und die räumlich-zeitlichen Besonderheiten des Schmerzreizes geliefert werden. Außerdem werden motivationale Prozesse über Flucht- oder Angriffverhalten angeregt und kognitive Mechanismen auf der Grundlage früherer Verhaltensmuster und Erfahrungen von Schmerz angestoßen. Alle drei Systeme sind in der Lage, auf motorische Mechanismen Einfluss zu nehmen, die das schmerzspezifische Verhalten auslösen. Zentrale Kontrollprozesse wiederum, die z.b. den Schmerzreiz im Bezug auf vergangene Erfahrungen bewerten, kontrollieren die Aktivitäten des unterscheidenden und des motivierenden Systems. Negative emotionale Reaktionen und Kontrollverlust begünstigen eine Öffnung des Tores (aus: Franetzki 2003). 5

6 Kritisch anzumerken ist, dass zahlreiche neuere neurophysiologische Befunde nicht mit der gatecontrol-theorie übereinstimmen. Trotzdem kann die gate-control-theorie (als Metapher) im Gespräch mit dem Patienten verwendet werden um anschaulich darzustellen, wie höhere ZNS- Zentren ( Bewertung, Emotionen) modulierend auf den peripheren Schmerz einwirken. 3.2 Operantes Lernen Schmerzverhalten kann durch positive Verstärkung (z.b. in Form von Zuwendung durch Sozialpartner), durch negative Verstärkung (z.b. durch den Wegfall ungeliebter Tätigkeiten oder das Vermeiden von unangenehmen Situationen) oder auch durch mangelnde Verstärkung (Nichtbeachtung, Löschung) von funktionalem, nicht-schmerzbezogenem-verhaltens aufrechterhalten werden. Bei persistierender Schmerzsymptomatik kann es schließlich zu einem ausgeprägtem Schonund Vermeidungsverhalten, in Verbindung mit einem psychosozialem Rückzug kommen ( Verlust positiver Verstärker, Mangel an Ablenkung bzw. sinnvoller Beschäftigung). Dies wiederum bedingt die Ausprägung einer depressiven Symptomatik ( Erlernte Hilflosigkeit, nach Seligman 1999; Serotonin ), was sich wiederum negativ auf die Schmerzempfindlichkeit auswirkt. Im Rahmen des fear-avoidance-beliefs -Modell (Philipps 1987, s. folgende Abbildung) wird der Einfluss von krankheitsbezogener Überzeugungen und Bewertungen auf das Verhalten und Erleben des Patienten herausgestellt: insbesondere Patienten die ihre Schmerzen überbewerten und deshalb erhebliche Angst vor ihnen entwickeln, halten über Schon- und Vermeidungsverhalten ( Angstreduktion, negative Verstärkung) das Schmerzerleben aufrecht. Aber auch die Nicht-Beachtung oder das Bagatellisieren von Schmerzempfindungen, oder der dysfunktionale Umgang mit Schmerzzuständen i. S. von Durchhalteparolen (bspw. Jetzt erst recht, Ein Indianer kennt keinen Schmerz, Was mich nicht tötet, macht mich härter,...), kann die Entwicklung eines chronischen Schmerzsyndroms begünstigen (s. folgende Abbildung). P s y c h is c h e R is ik o fa k to re n fü r d ie C h ro n ifiz ie ru n g v o n S c h m e rz e n C h r o n ifiz ie r u n g Der Aspekt des Einflusses von allgemeinen und schmerzspezifischen Einstellungen und Bewertungen auf Schmerz-Erleben und -Verhalten wird im kognitiv-behavioralen Ansatz betont, der im folgenden Abschnitt erläutert werden soll. 6

7 3.3 Kognitiv-behavioraler Ansatz Dieser Ansatz betont den Einfluss von kognitiv-emotionalen Bewertungsprozessen auf das Schmerz- Erleben und Verhalten: insbesondere die negativen Erwartungen bezüglich der eigenen Einflussund Kontrollmöglichkeiten des Schmerzgeschehen (z.b. Flor & Turk 1988), lösen Gefühle der Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit aus, verbunden mit einem reduziertem Selbstwert ( bspw. Ich bin unfähig ), externaler Kontrollattribution (bspw. niemand kann mir helfen ), Erlernter Hilflosigkeit (Seligman 1999, bspw. ich kann nichts tun; es wird nie besser und nachfolgender Depressivität. Auch das Konzept der self-efficancy (Bandura 1977) kann auf Patienten mit chronischen Schmerzzuständen angewendet werden: Patienten mit hoher Belastung durch chronische Schmerzen schätzen ihre eigene Möglichkeiten, etwas wirksames zur Linderung ihrer Schmerzen zu unternehmen, als äußerst gering ein. Dies wiederum bedingt Passivität, Hoffnungslosigkeit, Verspannung und Depressivität, was sich wiederum schmerzverstärkend auswirkt. Insofern zielen Interventionsprogramme die auf Basis kognitiver Störungsmodelle entwickelt wurden darauf ab, die Bewertung und Bedeutung von Schmerzen zu modulieren ( kognitive Umstrukturierung dysfunktionaler schmerzbezogener und allgemeiner Glaubenssätze und Überzeugungen). Als weitere Variablen kognitiver Schmerztherapien werden folgende Bereiche genannt (Kröner-Herwig 1999): Vermittlung eines adäquaten Störungs- und Bewältigungsmodell (Psychoedukation, Patientenschulung), Aufmerksamkeitslenkung, Stressmanagement, Entspannungsverfahren/ Imagination, Aktivitätsaufbau und Vermittlung von allgemeinen Problemlöse-Techniken Letztendlich kann das Wirkungsprinzip jeglicher erfolgreich durchgeführten (Schmerz- Psycho-) Therapie als Steigerung von Selbsteffizienz (Bandura 1977) interpretiert werden. 3.4 Schmerz und Depression Der Zusammenhang zwischen chronischem Schmerz und Depression scheint sehr eindeutig, da sich im Alltag und Erleben der Betroffene einschneidende Veränderungen (z.b. Verminderung sozialer Aktivitäten, Verlust des Arbeitsplatzes, Verlust von Autonomie, Hilflosigkeit bis Verzweiflung über Nicht-Besserung der Beschwerden) einstellen. In einer Metaanalyse stellten Banks und Kerns (1996) fest, dass die Prävalenzrate von Depression bei chronischem Schmerz in verschiedenen Studien eine Variationsbreite von 10% bis 100% erreicht. Dafür ist zum einen die unterschiedliche methodische Erfassung der Prävalenzrate von Depression verantwortlich. So besteht beispielsweise im DSM-III eine Überlappung der Kriterien für eine Depression (MDE) mit denjenigen für chronischen Schmerz. Gemeinsame Symptome beziehen sich auf den somatisch-vegetativen Bereich, das sind z.b. Gewichtszunahme, Schlafstörungen, psychomotorische Unruhe oder Verlangsamung. Beim Einsatz von Depressionsfragebögen (z.b. Becks-Depressions-Inventar, BDI) ist kritisch anzumerken, dass sie bisher nicht an chronischen Schmerzpatienten und -patientinnen standardisiert wurden und somit die Depressionsrate 7

8 überschätzen (Egle & Philipp, 1993). Darüber hinaus ist kritisch anzumerken, dass die meisten Studien mit einer hohen Depressionsquote aus Untersuchungen mit Patienten aus psychiatrischen Kliniken stammen (Egle & Philipp, 1993). Hier lässt sich die Frage stellen, ob bei diesen Patienten nicht eine Doppeldiagnose bzw. eine Co-Morbidität vorliegt. Außerdem hängt die Depressivitätsrate bei Schmerzpatienten und -patientinnen davon ab, mit welcher Population sie verglichen wird. Üblicherweise werden Prävalenzraten für Depression von chronischen Schmerzerkrankungen mit der Normalbevölkerung verglichen. Bei Vergleich mit anderen chronischen körperlichen Erkrankungen zeigten sich dagegen keine erhöhten Depressionswerte (Jacobs & Bosse-Dürer 2005). Immer wieder der zeitliche Zusammenhang der beiden Störungsbilder Depression und Chronisches Schmerzsyndrom diskutiert, wobei sich hier 2 verschiedene Modellvorstellungen gegenüber stehen: depressive Störung als Folge einer chronischen Schmerzerkrankung vs. Depression als Antezedens einer chronischen Schmerzerkrankung und damit auch die Interpretation der chronischen Schmererkrankung als Symptom einer larvierten oder maskierten Depression Blumer & Heilbronn 1982). In diesem Zusammenhang sei auch das Konzept der Schmerzpersönlichkeit (= pain- prone personality ), i.s. des Vorliegens einer bestimmten Persönlichkeitsstruktur als Prädisposition zur Entwicklung einer chronischen Schmerzerkrankung, erwähnt (Engel 1959). Engel hat für diesen Typ von Mensch die Bezeichnung pain-prone-patient (etwa Schmerzanfälligkeits-Patient ) geprägt, mit den Merkmalen: vorwiegend depressiv, pessimistisch, schwermütig, voller Schuldgefühle und ohne Lebensfreude. Außerdem wird postuliert, dass der typische Schmerzanfälligkeits-Patient seine unterdrückte Feindseligkeit gegen den eigenen Körper wendet. Bislang gibt es keine validen Daten, die dieses - psychodynamisch geprägte - Konzept, dass bestimmte Persönlichkeitsvariablen eine Schmerzstörung vorhersagbar machen, bestätigen. Auch das Verständnis dass chronischer Schmerz als ein primärer Ausdruck einer larvierten oder maskierten Depression anzusehen ist, konnte nicht bestätigt werden. Zusammenfassend kann folgende Aussagen getroffen werden: viele empirische Befunde darauf hin, dass eine depressive Störung als eine häufige Folge einer chronischen Erkrankung anzusehen ist. Des Weiteren lässt sich sagen, dass eine Schmerzpersönlichkeit empirisch nicht belegbar ist, da die Persönlichkeitsunterschiede zwischen Schmerzkranken und Gesunden zumeist durch die Auswirkungen der chronischen Erkrankung allgemein und nicht durch das spezifische Schmerzleiden bedingt wird (Kröner-Herwig 1999b). 4. Prozesse der Chronifizierung von Schmerzen Chronifizierung kennzeichnet die Phase des Überganges von einem akuten zu einem chronisch persistierenden oder rezidivierenden Schmerz. An diesem Prozess sind in unterschiedlicher Gewichtung komplexe Wechselwirkungen zwischen biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren beteiligt ( biopsychosoziale Krankheitsmodell). Aus kognitiv-verhaltenstheoretischer Sicht können folgende Faktoren einen (negativen) Einfluss ausüben: 8

9 biographische Einflüsse: häufige Schmerz-Episoden (Sensibilisierung) und dysfunktionaler Umgang mit Schmerzzuständen in Kindheit und Jugend häufige Episoden und dysfunktionaler Umgang mit Schmerzzuständen in der Herkunftsfamilie Primärpersönlichkeit Ängstlich; Lebensunzufriedenheit; externale Kontrollattribution Psychiatrische Komorbidität: Depressivität Kognitive Stile und Verhaltenstendenzen: Bagatellisieren, Überfordern, Katastrophisieren Operante Faktoren: Negative Verstärkung (Schonung, Rückzugsverhalten); Positive Verstärkung (Zuwendung, Aufmerksamkeit) bei Schmerzen Neuere kognitionspsychologische Ansätze fokussieren auf dysfunktionale Informationsprozesse bei der Entstehung chronischer Schmerzzustände (Hoppe 1986). Ein Schmerzempfinden wird als Produkt von sensorischen Input und gespeichertem Schmerzwissen und Erfahrung, dem gespeicherten Schmerzschema oder Schmerz-Engramm definiert. Schmerzschemata oder Schmerz-Engramme sind zu verstehen als Informationspakete über sensorische, emotionale und evaluative Schmerzeigenschaften, sowie über Verhaltensoptionen wie auch Konsequenzen. Auch ein minimaler sensorischer Input ( bottom-up ) kann das ganze Schmerz-Engramm aktivieren, so dass eine aktuelle Schmerzäußerung und Bewertung des Patienten, als Konglomerat des aktuell vorliegenden und des vergangenen Schmerzempfinden gewertet werden muss. Gleichzeitig kann auch die Aktivierung eines Schmerzengramms dazu führen, dass ein beliebige Information als schmerzvoll verarbeitet wird ( top-down ). 5. Diagnostik und Therapie Im diagnostischen Teil einer Psychologischen Schmerztherapie werden die biologischen, psychischen und sozialen Merkmale des aktuellen Schmerzverhaltens und -erlebens erhoben und zu einem biopsycho-sozialen Schmerzmodell zusammengefasst. In diesem, auf den einzelnen Patienten zugeschnittenen Schmerzmodell werden die aktuellen Erlebens- und Empfindungsstile zusammengestellt, auf ihre Schmerzrelevanz geprüft und gegebenenfalls in Veränderungspläne überführt. In den anschließenden Behandlungssitzungen werden spezifische Verfahren zur Veränderung ungünstiger Verhaltens- und Empfindungsgewohnheiten vermittelt und in den Alltag des Patienten 9

10 transferiert. Je nachdem, ob ungünstige (dysfunktionale) Verhaltens- und Erlebensstile schon lange vor dem ersten Auftreten des Schmerzproblems erworben wurden oder erst danach, kommen anfänglich eher aufarbeitende (Konflikt-, Gedanken- und Beziehungsanalyse) oder vorwiegend modifikatorische (Aktivitätsänderung, Verhaltenslenkung, Biofeedback) Therapieprinzipien zum Einsatz. Im weiteren Behandlungsverlauf werden funktionale Erlebens- und Verhaltensmuster soweit eingeübt, bis spürbare Verringerungen der chronischen Schmerzempfindung und der damit verbundenen Beschränkungen in der individuellen Lebensgestaltung erfolgen. Erfahrungsgemäß gelingt es häufig zuerst, die schmerzbedingten Einschränkungen im alltäglichen Leben zu verringern, während sich die Abnahme der Schmerzempfindung erst mit einiger Verzögerung einstellt. 6. Literatur Bandura A (1977) Self-efficacy: Toward a unifying theory of behavioral change. Psychological Review, 84, Banks, S.M & Kerns, R.D. (1996). Explaining High Rates of Depression in Chronic Pain: A Diathesis-Stress Framework. Psychological Bulletin, 119 (1), Birbaumer N (1986) Schmerz. In: Miltner W, Birnbaumer N, Gerber WD (Hrsg.) Verhaltensmedizin. Berlin: Springer, Blumer D & Heilbronn M ( 1982). Chronic pain as a Variant of depressive Disease. The pain- Prone Disorder. The Journal of Nervous and Mental Disease, 170 (7), Egle, U.T. & Philipp, M. (1993). Schmerz aus psychiatrischer Sicht. In U.T. Egle & S.O. Hoffmann (Hrsg.). Der Schmerzkranke: Grundlagen, Pathogenese, Klinik und Therapie chronischer Schmerzsymptome aus bio-psycho-sozialer Sicht.. Stuttgart: Schattauer Verlagsgesellschaft, Engel GL (1959). Psychogenic pain and the pain-prone patient. American Journal of Medicine, 26, Ernst A (1998) Anatomie, Pathologie und Physiologie des Schmerzes. In: Flöter T (Hrsg.) Grundlagen der Schmerztherapie. München: Urban & Vogel Flor H & Turk DC (1988) Chronic back pain and rheumatoide arthritis. Predicting pain and disability from cognitive variables. Journal of Behavioral Medcine, 11, Franetzki E (2003) Evaluation eines strukturierten verhaltensmedizinischen Selbsthilfeprogramms bei Fibromyalgie: Veränderung der psychischen Befindlichkeit. Diplomarbeit Psychologisches Institut der Universität Heidelberg, Abteilung Klinische Psychologie Gerbershagen HU (1995) Die Stadienzuordnung chronischer Schmerzen Das Mainzer Stadien Konzept des Schmerzes. Der Schmerz, 23 (9), Hoppe F (1986) Direkte und indirekte Suggestionen in der hypnotischen Beeinflussung chronischer Schmerzen. Theoretische Ansätze und empirische Untersuchungen. Frankfurt: Lang Kröner-Herwig B (1999a) Die Behandlung chronischer Schmerzsyndrome. Plädoyer für einen integrativen Therapieansatz. In: Basler M & Kröner-Herwig B (Hrsg.) Psychologische Schmerztherapie. Berlin: Hoppegarten,

11 Kröner-Herwig B (1999b).Die Schmerzpersönlichkeit Eine Fiktion?. In Basler HD, Franz C, Kröner-Herwig B, Rehfisch HP & Seemann H (Hrsg.), Psychologische Schmerztherapie. Berlin: Springer, Jacobs & Bosse-Dürer (2005) Verhaltenstherapeutische Hypnose bei chronischem Schmerz. Göttingen: Hogrefe Müller-Schwefe G (2003) Schmerzen mehr als ein Leitsymptom. Notfallmedizin, 29, Philips HC (1987) Avoidance behavior and its role in sustaining chronic pain. Bevavior Research Therapy, 25, Seligman EP (1999) Erlernte Hilflosigkeit. Weinheim: Beltz Verlag 7. Zur Vertiefung - Basler HD, Franz C, Kröner-Herwig B, Rehfisch D (2004) Psychologische Schmerztherapie. Grundlagen, Diagnostik, Krankheitsbilder, Schmerzpsychotherapie. Berlin: Springer - Jacobs & Bosse-Dürer (2005) Verhaltenstherapeutische Hypnose bei chronischem Schmerz. Göttingen: Hogrefe - Deutsche Gesellschaft für Psychologische Schmerztherapie und Forschung ( - International Association for the Study of Pain ( - Deutsche Gesellschaft zum Studium des Schmerzes e.v. ( - Deutsche Schmerzliga e.v. ( 8. Für Klienten Sehr selektive Auswahl), beziehbar bzw. download über: Broschüren: - Kopfschmerzen. Techniker-Krankenkasse, 2000, ISBN Kreuzschmerzen. Techniker-Krankenkasse, 2002, ISBN Tumorschmerz. Techniker-Krankenkasse, 2001, ISBN x - Der Stress. Techniker-Krankenkasse, 2001, ISBN CD: - Progressive Muskelentspannung. Techniker-Krankenkasse - Atementspannung. Techniker-Krankenkasse 11