Was bedeutet Evidenzbasierung in der Therapie- und Versorgungsforschung
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- Nadja Waldfogel
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1 Was bedeutet Evidenzbasierung in der Therapie- und Versorgungsforschung Dr. med. Anne Berghöfer Ärztliches Qualitätsmanagement Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie
2 Agenda Was ist Evidenzbasierung? Warum wird EbM / werden Leitlinien von Versorgern wenig im klinischen Alltag verwendet? Was sind die Limitationen von EbM? Welche Auswege gibt es?
3 Agenda Was ist Evidenzbasierung? Warum wird EbM / werden Leitlinien von Versorgern wenig im klinischen Alltag verwendet? Was sind die Limitationen von EbM? Welche Auswege gibt es?
4 Evidenzhierarchie Grad 1a 1b 2a Evidenz aufgrund: Meta-Analyse von randomisierten, kontrollierten Studien Mindestens eine gutangelegte randomisierte, kontrollierte Studie Meta-Analyse von Kohortenstudien 2b Mindestens eine gut angelegte, nicht-randomisierte kontrollierte Studie, oder ein weniger guter RCT 2c Mindestens eine gutangelegte, nicht-randomisierte und nicht-kontrollierte Studie (z.b. Kohortenstudie) 3 Mindestens eine gut angelegte, deskriptive Studien, wie Fall-Kontroll-Studie 4 Fallserien, schlechte Kohorten und Fall-Kontrollstudien 5 Expertenmeinungen Oxford Centre for Evidence-based Medicine Levels of Evidence (May 2001)
5 Evidenzhierarchie 1 ++ Randomisierte kontrollierte Studie (RCT) oder Meta-Analyse / systematische Übersichtsarbeit von RCTs - von hoher methodischer Qualität, mit einem geringen Risiko für Bias 1 + RCT oder Meta-Analyse / systematische Übersichtsarbeit von RCTs mit einem geringen Risiko für Bias 1 - RCT oder Meta-Analyse / systematische Übersichtsarbeit von RCTs mit einem erheblichen Risiko für Bias 2 ++ Fall-Kontroll-Studien oder Kohortenstudien: - hochwertig, - sehr geringes Risiko für Confounding oder Bias, - große Wahrscheinlichkeit für Kausalität. 2 + Fall-Kontroll-Studien oder Kohortenstudien: - gut durchgeführt, - kleines Risiko für Confounding oder Bias, - mittlere Wahrscheinlichkeit für Kausalität. 2 - Fall-Kontroll-Studien oder Kohortenstudien: - hohes Risiko für Confounding oder Bias, - hohes Risiko, dass die gefundenen Relationen nicht kausal bedingt sind. 3 Nicht analytische Studien, z.b. ohne Vergleichsgruppe wie Fallberichte / Fallserien 4 Expertenmeinung, Leitartikel, narratives Review im Prosastil Scottish Intercollegiate Guidelines Network
6 Qualität von Evidenz Interne Validität wird das gemessen, was gemessen werden soll? Externe Validität sind die Ergebnisse auf die Realität übertragbar?
7 Was ist Bias? Verzerrung des Studienergebnisses durch einen systematischen Fehler zufällige Fehler systematische Fehler / Bias
8 Was ist Confounding? Beeinflussung des Studienergebnisses durch eine Störgröße eigentliche Frage Therapie: Qualifizierte Entzugsbehandl. Ergebnis: Alkoholabstinenzzeit Confounder begnadet charismatische Therapeuten
9 Der Gold Standard Randomisiert-kontrollierte Studie (Randomized Controlled Trial, RCT) Randomisierung zufällig zugeteilt Gruppe 1 Intervention Studienabbrecher (drop out) Therapieergebnis Population Selektion der Teilnehmer Gruppe 2 Verblindung? Kontrolle Therapieergebnis Placebo oder Vergleichssubstanz Zeit
10 Bekannte und überraschende RCTs RCT zur OP bei Kniegelenksarthrose Moseley JB, O Malley K, Petersen NJ, et al. A controlled trial of arthroscopic surgery for osteoarthritis of the knee. N Engl J Med. 2002;347: Kirkley et al (2008)A Randomized Trial of Arthroscopic Surgery for Osteoarthritis of the Knee N Engl J Med; 359: RCT zu Hormonen bei postmenopausalen Frauen (WHI) Writing Group for the Women's Health Initiative Investigators (2002). "Risks and Benefits of Estrogen Plus Progestin in Healthy Postmenopausal Women: Principal Results From the Women's Health Initiative Randomized Controlled Trial". JAMA 288 (3):
11 RCT zur OP bei Kniegelenksarthrose Moseley JB, O Malley K, Petersen NJ, et al. A controlled trial of arthroscopic surgery for osteoarthritis of the knee. N Engl J Med. 2002;347:
12 Agenda Was ist Evidenzbasierung? Warum wird EbM / werden Leitlinien von Versorgern wenig im klinischen Alltag verwendet? Was sind die Limitationen von EbM? Welche Auswege gibt es?
13 Bekannt Akzeptiert Anwendbar In der Lage Verwendet Einverstanden Compliant Der Weg von der Leitlinie zum Patienten Glasziou & Haynes. ACP 2005
14 Häufige Kritik an Evidenzbasierter Medizin Zeitraubender Kochbuch-Ansatz, der Werte und Wünsche von Patienten ignoriert Theoretisch-akademischer Ansatz, der sich nicht in die klinische Anwendung übersetzen lässt Forschung an selektionierten Patientengruppen Ignorieren und Diskreditieren von klinischer Erfahrung
15 Barrieren der Leitlinienanwendung Nicht informiert über Existenz der Leitlinie Keine Kenntnis der Leitlinie im Detail Nicht einverstanden mit Interpretation der Evidenz und Generierung von Empfehlungen durch die Entwickler Ablehnung, weil eigene Autonomie eingeschränkt Misstrauen, ob Leitlinie Behandlungsergebnis verbessert Fehlende Motivation, langjährige Schemata zu ändern Unvereinbarkeit mit Patientenpräferenzen Unvereinbarkeit mit gesundheitssystembedingten finanziellen, zeitlichen, organisatorischen Vorgaben Information Einstellung Externe Barrieren Cabana et al.jama 1999; 282:
16 Agenda Was ist Evidenzbasierung? Warum wird EbM / werden Leitlinien von Versorgern wenig im klinischen Alltag verwendet? Was sind die Limitationen von EbM? Welche Auswege gibt es?
17 Unterschiede bei Selektion und Teilnahme Benefit Potential Patient lehnt Teilnahme ab Patient nicht zur Teilnahme eingeladen Nichtteilnahme des Zentrums/Doktors Teilnehmer Nicht geeignet Intervention A Intervention B Nach: McKee M et al. BMJ 1999;319:
18 Studienteilnahme als Placebo Adaptiert aus Kaptchuk, J Clin Epidemiol (2001)
19 Einschränkungen von RCTs Einschränkungen von randomisierten kontrollierten Arzneimittelstudien (RCTs) vor Marktzulassung: Rogers five toos too few ca Patienten in Phase III too simple keine Komorbidität / Ko-Medikation too median-aged keine Kinder, keine sehr Alten too narrow exakt definierte Indikation too brief zu kurze Behandlungsdauer Rogers AS, In: Pharmacoepidemiology: An Introduction. Cincinnati, 1991.
20 Nachteile von RCTs in der Versorgung Externe Validität (= Übertragbarkeit auf den Behandlungsalltag) häufig durch strenge Ein- und Ausschlusskriterien sehr eingeschränkt! Randomisierung ist nicht immer möglich. Verblindung ist nicht immer möglich. Ethische Hindernisse. RCTs sind i.d.r. aufwändig und teuer.
21 Evidenzmenge unüberschaubar Anzahl der in MEDLINE publizierter RCTs pro Jahr Jahr Publik. Med. Journale /Jahr Mio./Jahr /Tag RCTs 2008: RCTs Centre for Evidence-Based Medicine in Oxford, UK (CEBM) Krankenhausalltag: Akute Aufnahmen in 24 Stunden: 18 Pat. mit 44 Diagnosen Seiten nationale Leitlinien identifiziert Lesedauer 122 Stunden Quelle: Allen D, Harkins K. Too much guidance? Lancet 2005
22 EbM ein Qualitätssiegel? Finanzierung der Studien durch Hersteller Definition von krank / behandlungsbedürftig Entscheidung über Forschungsfragen Entscheidung über Endpunkte (Surrogatendpunkte) Über-Powern von Studien (Signifikanz kleiner Unterschiede) Patientenselektion durch Ein-und Ausschlusskriterien (Enrichment) Festlegung der Dosierungen von Studien-und Kontrollmedikation Entscheidung über Publikation (Publikations-Bias) Greenhalghet al. BMJ 2014
23 Publikationsbias Nachverfolgung von Studien über 10 Jahre, nachdem sie von der Ethikkommission ein positives Votum bekamen: Studien mit stat. sign. Ergebnis (dicke schwarze Linie): 15% nicht veröffentlicht n. 10 J. Studien ohne Effekt ( Null ; dicke graue Linie): 42% nicht veröffentlicht Stern BMJ 1997
24 Beziehung zwischen Industriesponsoring und Studienergebnis (8 Reviews über 1140 Originalartikel) Quelle Studientyp Kein Pro-Industrie- Ergebnis Pro-Industrie-Ergebnis Bekelman et al. Scope and impact of financial conflicts of interest in biomedical research. JAMA 2003; 289(4):
25
26 Bias non-respondent bias self referral bias giving consent bias sampling bias withdrawal bias usw. usw. missing data bias lost to follow up bias Selektionsbias recall bias measurement bias observer bias Informationsbias detection bias Outcome reporting bias: nur das signifikante Teilergebnis wird berichtet usw. interviewer bias usw. reporting bias Language bias: englische Publikationen werden bevorzugt, haben höhere Reichweite in Literaturdatenbanken Karrierebias: Publikationen wichtig für Drittmitteleinwerbung, Grundlage für finanzielle Ausstattung (LOM) Time lag bias: Signifikant positive Ergebnisse werden am schnellsten publiziert
27 Externe Validität Grundgesamtheit Wie repräsentativ ist die Stichprobe? Wie repräsentativ ist die Untersuchungssituation? Kann ich die Studienergebnisse auf den Versorgungsalltag übertragen? Gruppe A Studienpopulation Ergebnis Gruppe B? Frauen alte Patienten Multimorbide Patienten Therapieverfahren in komplexen Therapiesettings
28 Agenda Was ist Evidenzbasierung? Warum wird EbM / werden Leitlinien von Versorgern wenig im klinischen Alltag verwendet? Was sind die Limitationen von EbM? Welche Auswege gibt es?
29 Studientypen in der Medizin Studientypen in der medizinischen Forschung. Röhrig et al. Dtsch Arztebl Int 2009; 106(15): 262 8
30 Längsschnitt-Beobachtungsstudien retrospektiv Beobachtungszeitraum Studienbeginn prospektiv Fall-Kontroll- Studie Kohorten-Studie Exponiert (Risikofaktor) Nicht exponiert Exponiert (Risikofaktor) Nicht exponiert Fälle (krank) Kontrollen (nicht krank) Nonresponse Therapieverfahren Kontrolle Response Response Nonresponse
31 Grundcharakteristika RCT versus Versorgungsforschung Randomisierte kontrollierte Studie Versorgungsstudie Ziel Experimentell Naturalistisch Design Wirksamkeit Wirkung Patientenselektion Hoch Niedrig Ärzteselektion Hoch Niedrig Standardisierung Hoch Niedrig Endpunkte Hart Weich Primäre Relevanz Therapieprinzip Versorgung Willich SN, Dt. Ärztebl 2006;103(39):2006
32 Therapie 1 besser Therapie 2 besser Ergebnisse von Beobachtungsstudien und RCTs Benson K, Hartz AJ. N Engl J Med 2000;342:
33 Der Weg zur Medizin-basierten Evidenz Konzept der comparative effectiveness research hierarchische vertikale Anordnung von Studientypen der klassischen Evidenzhierarchie wertfreie Einordnung von Studien auf einem horizontalen Kontinuum zwischen Experiment und Beobachtung engem und weit gefasstem Patientenklientel hoher interner und hoher externer Validität Witt et al. Dt Ärzteblatt 2011
34 Strategien zur Überwindung der Limitationen Nutzer-konzentrierte Forschung unabhängige Forschungsfinanzierung Einbindung von Patientengruppen (z.b. Selbsthilfegruppen, Beratungsgruppen, Interessenvertretungen) Übersetzen von Evidenz für Nutzer (Research explained) breitere Forschungsagenda
35 Forschungsagenda verbreitern RCTs Pragmatische kontrollierte Studien große Kohortenstudien Qualitative Studien Sekundäranalysen von Routineleistungsdaten Untersuchung komplexer Versorgungskonzepte
36 Es geht auch umgekehrt Evidenzgenerierung alternativer Heilverfahren Konventionelle Medizin Komplementärmedizin Biologische Plausibilität/ Menschenbild Randomisierte Studien Klinische Praxis Versorgungsforschung Versorgungsforschung Randomisierte Studien Klinische Praxis Biologische Plausibilität/ Menschenbild
37 Wie sollte EbM verstanden werden? Forschung (beste aktuell verfügbare externe Evidenz) Patient (Präferenz des Patienten) Klinik (individuelle klinische Expertise) EbM
38 Zusammenfassung Randomisierte, kontrollierte Studien keine allein ausreichende Basis für Versorgungsentscheidungen Studien in naturalistischem Setting, mit patientenzentrierten Endpunkten erforderlich Evidenzgrad methodisch anspruchsvoller Versorgungsforschung den RCTs vergleichbar Modernes Studienkonzepte: Pragmatische kontrollierte Studien (comparative effectiveness research) Kombination unterschiedlicher Datenquellen (mixed method Ansatz) Methodisch hochwertige Studien auch für komplexe Versorgungsmodelle
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