Vernetzte und internationalisierte Arbeitsstrukturen: Betriebsratsarbeit ohne Grenzen

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1 Vernetzte und internationalisierte Arbeitsstrukturen: Betriebsratsarbeit ohne Grenzen Fachveranstaltung des Arbeitskreis Arbeit-Betrieb-Politik Qualifizierte Mitbestimmung Anforderungen an eine zeitgemäße Betriebspolitik und Betriebsverfassung Dr. Werner Altmeyer Berlin, 25. November 2008

2 Überblick 1. Deutsche Mitbestimmung im europäischen Vergleich 2. Europäische Betriebsräte: aktueller Sachstand 3. Anhörung ohne Mitbestimmung: ist der EBR ein zahnloser Tiger? (ein Beispiel aus Frankreich) 4. Mitbestimmung im EBR: Standortsolidarität über Landesgrenzen (ein Beispiel aus Deutschland) 5. Besondere Probleme bei britischen Euro-Betriebsräten 6. Herausforderungen in Deutschland

3 Punkt 1 Deutsche Mitbestimmung im europäischen Vergleich

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5 Organisationsgrad in Europa 70-80% 30-50% 18-30% < 17 %

6 Modelle von Belegschaftsvertretungen Gewerkschaften Trade unions Syndicats Betriebsrat Works council Comité d entreprise Betriebsrat + Gewerkschaften Works council + trade unions Comité d entreprise + syndicats

7 Skandinavisches Modell Angelsächsisches Modell Germanisches Modell Mediterranes Model Transformationsländer

8 Germanisches Modell Ondernemingsraad (OR) BR OR Betriebsrat (BR)

9 Betriebsrat in Deutschland Betriebsrat als zentrales Organ übt alle Verhandlungsrechte aus Gesetzlich geregelte Mitwirkungsrechte ( Mitbestimmung ) Keine Streiks in betrieblichen Fragen, Einigungsstelle ( Betriebsfrieden ) Weitgehende Regelungen über Freistellungen und Arbeitsmittel Gewerkschaften nur indirekt im Betrieb präsent Gute Betreuung durch Hauptamtliche Arbeitnehmerbeteiligung im Aufsichtsrat Sehr ausgefeilte juristische Spielregeln prägen das System industry culture

10 Angelsächsisches Modell: Kein Betriebsrat Komitee der Gewerkschaftsvertreter (representatives committee) Nur bei Anerkennung durch den Arbeitgeber (recognition)

11 Belegschaftsvertretung in Großbritannien Keine gesetzliche Grundlage für Betriebsräte oder Mitbestimmung Recht auf Information und Konsultation erst seit April 2005 Gewerkschaften verhandeln alle betrieblichen Fragen Streiks in allen betrieblichen Fragen möglich (keine Pflicht zum Betriebsfrieden, aber Einschränkungen aus der Thatcher-Zeit) Eingeschränkte Freistellungsregelungen, keine Sachverständigen Flexible und pragmatische Zusammenarbeit der Betriebsparteien Wenig gesetzliche (oder schriftliche) Regelungen Gewerkschaften streben Einflußnahme über Pensionsfonds an business culture

12 Mediterranes Modell CE Comité d entreprise (CE) Conseil d entreprise (CE) Rappresentanza Sindacale Unitaria (RSU) Gewerkschaften Syndicats Comissões de trabalhadores (CT) Comité de empresa (CE)

13 Belegschaftsvertretung in Frankreich Gesetzliche Grundlage für Betriebsräte Information und Konsultation, kein Recht auf Mitbestimmung Keine Pflicht zum Betriebsfrieden Gewerkschaften verhandeln alle betrieblichen Fragen Stundenweise Freistellungsregelungen Wenig Unterstützung durch Hauptamtliche Rückgriff auf Sachverständige sehr weit verbreitet Häufig konfliktbeladene Zusammenarbeit der Betriebsparteien Schwache Arbeitnehmerbeteiligung im Verwaltungsrat culture patronale

14 Betriebsrat Comité d entreprise / Comité d établissement Vorsitzender = Werksleiter Président = patron Sekretär + Kassenwart + andere Secrétaire + trésorier + autres Gewählte Mitglieder Élus titulaires CE Gewählte Stellvertreter Élus suppléants Experte - expert Gewerkschaftsdelegierte (ernannt) Délégues syndicaux (désigné) Funktion: Vertreter der betrieblichen Tarifkommission

15 Betriebliche Mitbestimmung oder betriebliche Tarifautonomie? Betriebsrat Mitbestimmung Betriebsvereinbarung Gewerkschaft Tarifautonomie Haustarifvertrag Verhandlungen Kollektivvertrag Rechtssicherheit? Wenn die Verhandlungen scheitern: Friedenspflicht?

16 Punkt 2 Europäische Betriebsräte: aktueller Sachstand

17 Europäische Betriebsräte Zahlen von Oktober 2008 [1.073] 880 ~ Art.13 Art.6 Die EBR-Richtlinie 1994 EU national 2004 Revisionsverfahren 2008 Neue Richtlinie?

18

19 EBR in der Praxis Entwicklung im Laufe der Zeit Symbolischer EBR = ohne eigenes Selbstverständnis Beteiligungsorientierter EBR = Interessenvertretung gegenüber der Konzernleitung Dienstleistender EBR = Informationsquelle Projektorientierter EBR = internes Arbeitsgremium

20 EBR in der Praxis EWC in practice CEE en pratique Typologie Prof. Platzer Symbolischer EBR Management EBR - EWC - CEE

21 EBR in der Praxis EWC in practice CEE en pratique Typologie Prof. Platzer Dienstleistender EBR Management EBR - EWC - CEE

22 EBR in der Praxis EWC in practice CEE en pratique Typologie Prof. Platzer Projektorientierter EBR Management EBR - EWC - CEE

23 EBR in der Praxis EWC in practice CEE en pratique Typologie Prof. Platzer Beteiligungsorientierter EBR Management EBR - EWC - CEE

24 Punkt 3 Anhörung ohne Mitbestimmung: Ist der EBR ein zahnloser Tiger? (ein Beispiel aus Frankreich)

25 Gaz de France November 2006: EBR stoppt per einstweiliger Verfügung die Fusion mit dem Suez-Konzern Januar 2008: höchstes französisches Gericht bestätigt die Entscheidung Aufsichts- und Verwaltungsräte multinationaler Unternehmen dürfen keine Fusion mit anderen Unternehmen beschließen, bevor die Anhörung des EBR nicht in allen Details korrekt stattgefunden hat und abgeschlossen wurde. Zum Verfahren gehört auch eine betriebswirtschaftliche Analyse durch Beratungsgesellschaften, die der EBR selbst auswählt. Die Richter räumen dem EBR ein eigenständiges Beteiligungsrecht ein unabhängig von den Rechten der Betriebsräte einzelner Länder. Höhepunkt einer Reihe von Urteilen in Frankreich, die die Bedeutung transnationaler Arbeitnehmervertretungen stärken

26 Gaz de France 11. März 2008: formeller Abschluß des Anhörungsverfahrens, nachdem der Arbeitgeber soziale Garantien gewährt hat (eine Art europaweiter Interessenausgleich) Das Beispiel zeigt: der Übergang von Konsultation zu Mitbestimmung ist fließend, wenn alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden. Deutsche Betriebsräte nutzen diese Möglichkeiten im EBR noch nicht (bisher kein einziges Gerichtsurteil in Deutschland)

27 In Deutschland wird schneller restrukturiert ( dank Mitbestimmung) Modell Mitbestimmung AG kann nicht einseitig handeln, sofern Mitbestimmungstatbestände vorliegen BR braucht Informationen, um seine Mitbestimmungsrechte wahrzunehmen BR kann juristische Druckmittel nutzen, um Mitbestimmungsrechte zu wahren, Verhandlungen führt BR Einigungsstelle und Friedenspflicht in betriebsverfassungsrechtlichen Fragen Betriebsvereinbarung AG kann schnelle Entscheidungen erzwingen, Einigungsstelle für beide Seiten ein schwer kalkulierbares Risiko Modell Anhörung (= EBR-Richtlinie) AG kann einseitig handeln, sofern der BR ordnungsgemäß angehört wurde BR braucht Informationen, um über die Gewerkschaften Proteste zu organisieren BR kann juristische Druckmittel nutzen, um das Anhörungsverfahren zu verzögern, Verhandlungen führen die Gewerkschaften Individuelles Streikrecht auch während der Vertragslaufzeit, keine Einigungsstelle Haustarifvertrag Verzögerung des Anhörungsverfahrens nur für den AG ein hohes finanzielles Risiko, Arbeitskampf für beide Seiten ein Risiko

28 Alcatel-Lucent Dezember 2006: Fusion Alcatel (F) mit Lucent Technologies (USA) Folge: Arbeitsplätze sollen abgebaut werden, in Deutschland sind insbesondere die Werke in Stuttgart und Nürnberg betroffen. 15. März 2007: europaweiter Protesttag 23. März 2007: Lauschangriff des Arbeitgebers in der EBR-Sitzung 27. April 2007: Französische Richter stellen erstmals detaillierte Kriterien zum betriebswirtschaftlichen Reporting für Euro-Betriebsräte auf.

29 Punkt 4 Mitbestimmung im EBR: Standortsolidarität über Landesgrenzen (ein Beispiel aus Deutschland)

30 General Motors Produktion der neuen Astra und Zafira-Modelle Fünf Standorte sollten gegeneinander konkurrieren ( beauty contest ) Beschäftigte betroffen Konzernleitung: nur drei Werke können überleben Konzernleitung streut Gerüchte über Zugeständnisse örtlicher Betriebe Gerüchte über neue Produktionskapazitäten in Osteuropa

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32 General Motors Dezember 2005 Europäisches Solidaritätsversprechen : Standortfragen sollen ausschließlich auf europäischer Ebene verhandelt werden Faktisch bedeutet dies: die deutschen Betriebsräte delegieren ihre Mitbestimmungsrechte zum EBR und die Arbeitnehmervertretungen der anderen Länder delegieren ihre Verhandlungsrechte zum EBR Wissenschaftliche Projektbegleitung durch EU-Finanzierung März 2007 Beginn der Verhandlungen über Astra und Zafira-Produktion

33 General Motors 29. April 2008 Europaweites Rahmenabkommen über die Produktion der neuen Astra und Zafira-Modelle Standortgarantien für Ellesmere Port (UK), Bochum (Deutschland), Trollhättan (Schweden) and Gleiwitz (Polen) bis 2016 Ausschluß betriebsbedingter Kündigungen Mitsprache bei Outsourcing in allen europäischen Standorten Soziale Absicherung bei Personaltransfer (5 Jahre) Örtliche Betriebsvereinbarungen werden Teil dieses Abkommens

34 Punkt 5 Besondere Probleme bei britischen Euro-Betriebsräten

35 Britische EBR-Erfahrungen Etwa 20% aller Euro-Betriebsräte basieren auf britischem Recht Weder britische Arbeitgeber noch britische Arbeitnehmer hatten vor 2005 Erfahrung mit Konsultationssystemen im Inland Opting-Out der konservativen Regierung, EBR-Richtlinie gilt erst seit 1999 Anhörung der Euro-Betriebsräte erfolgt nicht zeitgerecht Kein echter Wille des Managements, sich Alternativvorschläge anzuhören Enggefaßte Definition transnationaler Fragen Ständiger Kampf um Ressourcen und Freistellung für EBR-Mitglieder

36 Rechtsstreit P & O 2002 Keine Konsultation über Schließung einer Fährverbindung nach Belgien In der mündlichen Verhandlung vor einem Gericht in London konnten folgende Fragen nicht geklärt werden: Ist die Arbeitnehmerseite im EBR eine juristische Person und kann eigenständig Gerichtsverfahren führen? Bei P&O war der Arbeitgeber Teil des EBR. Kann er über den EBR Klage gegen sich selbst erheben? Arbeitnehmerseite hatte keine Geldmittel, um den Prozeß zu führen Klage wurde zurückgezogen

37 Punkt 6 Herausforderungen in Deutschland

38 Herausforderungen in Deutschland Hohe Verantwortung deutscher Betriebsräte aufgrund hoher Zahl von EBR-Gremien und guter Arbeitsbedingungen. Deutsche Betriebsräte sollten sich nicht auf das Reizwort Mitbestimmung fixieren, sondern handeln. Gesetzgeber sollte Rahmenbedingungen stärken und die Rechtssicherheit von transnationalen Abkommen gewährleisten. Transnationale Solidarität und Weiterentwicklung des EBR zu einem vollwertigen Organ der Interessenvertretung erfordert in erster Linie Initiativen in den Unternehmen selbst. Entscheidend ist die Axe Deutschland Frankreich.