Beitrag: Ansturm auf Deutschland Das Elend der Flüchtlinge
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- Linda Franke
- vor 8 Jahren
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1 Manuskript Beitrag: Ansturm auf Deutschland Das Elend der Flüchtlinge Sendung vom 15. September 2015 von Nicola Albrecht, Anke Becker-Wenzel, Christian Esser, Beate Frenkel, Jan Fritsche, Ahmad Mashal, Joe Sperling Anmoderation: Sie rennen, schieben, drängen Richtung Deutschland. Und Grenzkontrollen werden die Verzweifelten nicht aufhalten. Die Lage der Menschen in den Kriegsgebieten bleibt aussichtslos. Und Europa hat all zulange zugeschaut, wie sich die Flüchtlingscamps in den Ländern rundum Syrien füllten und das Elend immer größer wurde. Die Europäische Union war auch gestern Abend wieder nicht Union genug, um die Not gemeinschaftlich zu lindern. Unsere Reporter gehen an die Ursachen der Flucht. Solange die nicht behoben werden, bleibt es bei der Wirkung, und Millionen Menschen wollen nach Europa. Hier die Frontal 21-Kausalkette der humanitären Katastrophe. Text: Ein Bürgermeister im Kriseneinsatz: Gerhard Zapfl, im österreichischen Nickelsdorf. Bisher war seine Grenzgemeinde eine Zwischenstation für die Flüchtlinge, jetzt sitzen sie hier fest. O-Ton Gerhard Zapfl, Bürgermeister Nickelsdorf: Da stehen sie sich jetzt angestellt, ja. diese Flüchtlinge, man sieht das, da können sie sich bei Bekleidung, Lebensmittel, da wird immer nur pulkweise hineingelassen. O-Ton Frontal 21: Wie viele sind jetzt hier Ihrer Schätzung nach? O-Ton Gerhard Zapfl, Bürgermeister Nickelsdorf: Zurzeit sind 7000 in Nickelsdorf. Manche lagern hier - schon seit gestern Nacht weitere Flüchtlinge werden aus Ungarn erwartet allein an diesem Tag. Seit an deutschen Grenzen wieder kontrolliert wird, stockt in Nickelsdorf alles.
2 O-Ton Gerhard Zapfl, Bürgermeister Nickelsdorf: Aber die Menge macht es natürlich aus. Was passiert mit denen, wo können sie hin - und vor allem, wie geht es weiter. Viele Flüchtlinge fühlen sich eingeladen - von der deutschen Bundeskanzlerin - und protestieren weil es jetzt nicht mehr weitergeht. Open The Road! Macht die Straße frei! O-Ton Fadel El Sheikh, Syrer: Wir hängen hier schon einen ganzen Tag fest, ich weiß gar nicht, warum! O-Ton Leyla Aldrewish, Syrerin: Es gibt einen Bus, aber nur alle zwei, drei Stunden für 50 Leute. Hier sind aber und da ist die Grenze offen und es kommen noch mehr Leute. Der Druck steigt, die Polizisten versuchen, eine halbwegs gerechte Reihenfolge herzustellen, Panik zu vermeiden. Seit Deutschland seine Grenzen kontrolliert, fahren kaum noch Busse. Jeder versucht jetzt, noch einen Platz zu ergattern. Die Polizei hat der Menge wenig entgegenzusetzen. Irgendwann sind alle das Warten leid, schlagen sich auf eigene Faust durch. Machen sich wieder zu Fuß auf den Weg, ins nächste Dorf und irgendwie weiter - Richtung Deutschland. Die Grenzkontrollen werden diese Flüchtlinge nicht aufhalten. Es ist eine wahre Völkerwanderung, die jetzt begonnen hat. Und wir stehen erst am Anfang dieser Entwicklung, sie wird weitergehen. Im Winter mag die Flüchtlingszahl ein wenig zurückgehen, aufgrund der Kälte, aber es wird weitergehen. Zu viele Staaten in der Region sind zerstört oder von Krieg betroffen. Die Flüchtlinge werden auch im nächsten Jahr und im übernächsten Jahr kommen. Jordanien. Syrische Grenze. Hunderttausende Flüchtlinge: Familien, Kinder. Die meisten von ihnen leben außerhalb der Flüchtlingscamps, sind auf sich selbst gestellt. Jawaher Mubarak flüchtete vor zwei Jahren mit ihrem Mann und den vier Kindern. Ihr Mann, im Krieg schwer verletzt, starb schließlich nach der Flucht. Yawaher und ihre Kinder sind in einem Witwenhaus untergekommen: ein Dach über dem Kopf, immerhin. Doch sie sieht hier keine Zukunft. O-Ton Jawaher Mubarak, Flüchtling: Unsere Situation ist nicht gut. Das hier ist ja eigentlich nur als Übergangslösung gedacht. Am liebsten will ich nach
3 Deutschland, aber das ist sehr schwierig. Sie will einfach nur weg - so wie ihre vier Brüder. Die haben es alle geschafft, nach Deutschland. Jawaher Mubarak zeigt uns ein Video. Einer ihrer Brüder hat es von seiner Flucht geschickt. O-Ton Jawaher Mubarak, Flüchtling: Ich dachte, ich könnte zurück nach Syrien und dann über die Türkei nach Griechenland, aber ich habe Angst vor dem Meer. Sehen Sie, wie voll das Boot ist, wie schnell könnte ich eines meiner Kinder verlieren. Ich habe nur noch meine Kinder. Sie telefonieren fast täglich. Ihr Bruder warnt sie vor der gefährlichen Reise. Er hat selbst gesehen, wie das Boot neben ihm sank und 30 Menschen sterben mussten. Wir suchen ihren Bruder. In einem kleinen Ort in Nordrhein- Westfalen finden wir Issa. Er ist froh, mit seiner Familie in Sicherheit zu sein. Aber auch er weiß nicht, wie es für seine Schwester weitergehen soll. O-Ton Issa, Bruder: Die Situation meiner Schwester ist furchtbar. Und es wird immer schwieriger in Jordanien. Ich würde sie sofort herholen. Aber noch geht es nicht. Flüchtlingscamps in Jordanien. Hier finden über Hunderttausend Menschen Schutz. Doch die meisten Flüchtlinge, 80 Prozent der Syrer, leben außerhalb, sind auf sich selbst gestellt. Seit vier Jahren sind Millionen Syrer auf der Flucht vor dem Krieg, suchen Hilfe in den Nachbarländern. Immer mehr Menschen aber immer weniger Hilfsgelder. Die reichen Staaten lassen die Flüchtlinge im Stich: Laut UN-Hilfsplan für syrische Flüchtlinge benötigen Hilfsorganisationen dieses Jahr 4,5 Milliarden Dollar. Davon hat die Staatengemeinschaft bislang lediglich 40 Prozent eingezahlt. Mehr als die Hälfte des notwendigen Geldes fehlt bis heute. Der deutsche Entwicklungshilfeminister Gerd Müller hat sich vor Ort informiert. Er hat vor den Folgen gewarnt, fand bisher wenig Gehör - weder in der eigenen Regierung noch in Europa. O-Ton Gerd Müller, CSU, Entwicklungshilfeminister: Das Welternährungsprogramm wurde jetzt gekürzt. Das ist doch zynisch, ist doch brutal. Wir kürzen die Nahrungsmittel, die Milchflaschen für die Babys, und wundern uns, dass die Menschen zu uns kommen. 50 Cent pro Tag stehen zur Versorgung der Flüchtlinge in Jordanien oder im Libanon zur Verfügung. Ein Vielfaches kosten sie hier und deshalb macht es wirklich Sinn, dort vor Ort zu helfen.
4 Zaatari, das größte Flüchtlingslager in Jordanien. Kilian Kleinschmidt hat es mit aufgebaut und geleitet. Es sei ein schwerer Fehler, dass in Krisenregionen immer weniger Hilfsgelder ankommen, dass es keine Arbeit und keine Schulen gibt. O-Ton Kilian Kleinschmidt, Krisenhelfer: Das heißt auch, dass ich meine Kinder zur Arbeit schicke, illegal, dass ich meine Töchter jünger verheirate, im Grunde verkaufe, oft an ältere Männer aus der Region, und dass ich auch unter Umständen daran denke, wie meine Söhne auch einer der Milizen in Syrien beitreten können. Und das ist gefährlich, das ist genau das, was wir nicht brauchen und wollen. Flüchtlingsleben in Armut, Kinder ohne Bildung, ohne Perspektive. Die Folgen sind fatal. Was passiert, dschihadistische Bewegungen, wie zum Beispiel der Islamische Staat, richten ihre eigenen Schulen ein, wo kleine Kinder im Alter von acht bis 16 Jahren darauf gedrillt werden, später als Selbstmordattentäter in die Geschichte einzugehen, sozusagen. Und sie lernen, wie man Menschen köpft und dergleichen Dinge mehr. Hier wächst die nächste Generation heran von Dschihadisten, Gewalttätern und Kriminellen. Bislang sind insgesamt Syrer vor dem Krieg in das Nachbarland Jordanien geflohen. In der Türkei sind sogar 1,9 Millionen syrische Flüchtlinge untergekommen. Und 1,1 Millionen geflohene Syrer leben in dem kleinen Nachbarland Libanon. Aktuelle Fotos aus dem Libanon. O-Ton: Das kann man sich gar nicht vorstellen, wie die Menschen da leben, seit fast fünf Jahren in diesen Camps. Sie leben auf 20 Quadratmeter, 20 Personen. Sie haben auf 800 Leute zwei Toiletten zur Verfügung. Die Kinder haben wirklich nichts mehr. Das ist eine vergessene Generation, diese Kinder. Sie beide sind in der Schweiz aufgewachsen und haben Familie im Libanon. Weil es dort an allem fehlt, unterstützen sie mit einer eigenen Organisation die Flüchtlinge. O-Ton Tamer Amr, Gründer swiss4syria: Es gibt viel weniger Geld vor Ort, weniger Essen und viel mehr Flüchtlinge. Der Bürgerkrieg in Syrien geht weiter und wir kriegen über 1000 Flüchtlinge pro Tag im Libanon. Das heißt, jedes Flüchtlingslager ist jetzt drei-, vier, fünffach
5 größer geworden. Wer noch Geld hat, macht sich auf den Weg, berichtet ihr Kollege via Skype aus dem Libanon. Was passiert jetzt, Europa hat seine Grenzen dicht macht. Aber wird das die Menschen aufhalten? O-Ton: Selbst wenn Deutschland und Europa seine Grenzen zu machen, es sind schon Tausende auf dem Weg. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass sie, nur weil die Grenzen geschlossen werden, umkehren und alle Zehntausende Kilometer zurückmarschieren. Wohin auch? Ihre Heimat in Syrien ist zerstört. Die Bevölkerung zerrieben zwischen den Fronten des Bürgerkriegs. Auf der einen Seite die Truppen von Diktator Assad auf der anderen die Terrortruppen des IS. Das Versagen der politischen Großmächte hat die humanitäre Katastrophe heraufbeschworen. Jetzt müssen sie endlich handeln. Das Mindeste, was geschehen muss, ist, dass die Akteure, die von außen Einfluss nehmen, die westlichen Staaten, die Türkei, Saudi-Arabien, die versuchen, Baschar al-assad um jeden Preis zu stürzen - und andererseits Russland, China und der Iran, die ihn um jeden Preis in der Macht erhalten wollen. Zwischen diesen verschiedenen Kräften muss es ein Miteinander geben, ein Abstecken gegenseitiger Claims und machtpolitischer Interessen. Geschieht das nicht, glauben die Amerikaner, sie könnten die Russen über den Tisch ziehen - und umgekehrt die Russen, sie könnten die Amerikaner über den Tisch ziehen, wird dieser Krieg endlos weitergehen, werden wir auch weiterhin Hunderttausende Flüchtlingen aus dieser Region aufnehmen müssen. Hier in Nickelsdorf kamen gestern Menschen - weder Stacheldraht noch Grenzkontrollen haben sie bisher aufgehalten. Zur Beachtung: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der vorliegende Abdruck ist nur zum privaten Gebrauch des Empfängers hergestellt. Jede andere Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtgesetzes ist ohne Zustimmung des Urheberberechtigten unzulässig und strafbar. Insbesondere darf er weder vervielfältigt, verarbeitet oder zu öffentlichen Wiedergaben benutzt werden. Die in den Beiträgen dargestellten Sachverhalte entsprechen dem Stand des jeweiligen Sendetermins.
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