William Shakespeare. Maß für Maß (Originaltitel: Measure for Measure ) Aus dem Englischen von Marius von Mayenburg Spielfassung der Erstaufführung

Transkript

1 William Shakespeare Maß für Maß (Originaltitel: Measure for Measure ) Aus dem Englischen von Marius von Mayenburg Spielfassung der Erstaufführung

2 (c) henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH Als unverkäufliches Manuskript vervielfältigt. Alle Rechte am Text, auch einzelner Abschnitte, vorbehalten, insbesondere die der Aufführung durch Berufs- und Laienbühnen, des öffentlichen Vortrags, der Buchpublikation und Übersetzung, der Übertragung, Verfilmung oder Aufzeichnung durch Rundfunk, Fernsehen oder andere audiovisuelle Medien. Werknutzungsrechte können vertraglich erworben werden von: henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH Alte Jakobstraße 85/ Berlin Tel.:

3 PERSONEN Vincentio, der Angelo, der Stellvertreter Isabella, s Schwester, ein alter Adliger, ein Dandy Bruder Thomas, ein junger Herr Mariana, Angelos Verlobte Ein Aufseher, eine Puffmutter ORT Wien und Umgebung Die vorliegende Neuübertragung verzichtet auf die Einteilung in Akte. Auch verzichtet sie auf folgende Figuren des Originals: Varrius, Ein Richter, Peter (zweiter Mönch), Ellbogen, Schaum, Der Clown, Abscheußlich, Bernardin, Juliet, Francisca.

4

5 Szene 1 Angelo Angelo. Mein Fürst. Es käme mir vor wie eitles Geschwätz, wenn ich versuchen würde, Ihnen die Prinzipien des Regierens zu erklären. Schließlich ist mir bewusst, dass Ihre eigene Kompetenz darin viel weiter geht als alles, was ich mit meiner begrenzten Erfahrung an Ratschlägen geben kann. Deshalb bleibt uns nichts weiter, als Ihre umfassenden Fähigkeiten um die entsprechende Machtbefugnis zu ergänzen, und Sie arbeiten zu lassen. Hier ist unsere Vollmacht, wir wünschen nicht, dass Sie von ihr abweichen. Ruft - Hallo? Angelo soll bitte vor uns erscheinen. Was meinen Sie, wie wird er uns verkörpern? Sie müssen nämlich wissen, dass wir ihn mit besonderer Absicht ausgesucht haben, damit er uns in unserer Abwesenheit vertritt. Was halten Sie davon? Wenn irgendjemand in Wien so umfangreiche Gnade und Ehre verdient hat, dann Lord Angelo. Sehen Sie, da kommt er. Stets zu Diensten, Euer Gnaden, ich komme, um zu erfahren, was Sie wünschen. Angelo, dein Leben hat eine eigene Handschrift, aus der man als Beobachter deine ganze Persönlichkeit ablesen kann. Du selbst und dein Charakter gehören nicht ausschließlich dir. Es wäre Verschwendung, wenn du nur für deine Tugend da wärst, und sie nur für dich. Gott macht es mit uns so wie wir mit den Fackeln, die wir ja auch nicht um ihrer selbst willen anzünden. Weil, wenn unsere Tugenden nicht nach außen wirken, dann ist das so, als hätten wir sie gar nicht. Aber ich wende mich hier an jemanden, der mich selbst belehren könnte. Nimm also, Angelo: Solang ich fort bin, sollst du voll und ganz ich selbst sein. Todesstrafe und Begnadigung in Wien sollen von deiner Zunge und aus deinem Herzen kommen. Der alte ist dir, obwohl ich ihn als erstes in Erwägung gezogen habe, als zweithöchster unterstellt. Nimm deine Vollmacht. Aber, mein guter Herr, lassen Sie meine Münze lieber noch eingehender prüfen, ehe so ein edles und berühmtes Gesicht darauf geprägt wird. Keine Ausflüchte mehr. Wir haben uns nach reiflicher und sorgfältiger Überlegung für Sie entschieden. Deshalb: Nehmen Sie Ihre Ernennung an. Mein überstürzter Aufbruch hat schwerwiegende Gründe, die keinen Aufschub dulden, ich lasse drängende Probleme ungelöst zurück. Also, leben Sie wohl. Sie müssen auch gar keine Skrupel haben, das meine ich 5

6 ganz ernst. Ihr Gestaltungsspielraum ist so groß wie mein eigener, Sie können die Gesetze verschärfen oder abmildern, wie es Ihnen persönlich gut scheint. Geben Sie mir die Hand. Ich mache mich heimlich davon. Ich liebe die Menschen, aber ich mags nicht, mich vor ihnen zu produzieren. Auch wenns gut gemeint ist, ich kann ihren lauten Beifall nicht gut vertragen. Wer sich von so etwas beeindrucken lässt, dem traue ich auch kein klares Urteil zu. Also überlasse ich Sie der hoffentlich erfolgreichen Ausübung Ihres Amtes. Angelo Der Himmel schütze Ihre Unternehmungen. Er bringe Sie glücklich hin und zurück! Ich danke Ihnen. Leben Sie wohl. Er geht. Angelo Ich möchte Sie bitten, Herr, gestatten Sie mir, offen mit Ihnen zu sprechen; es ist mir wichtig, genau zu wissen, was meine Funktion ist. Eine gewisse Machtbefugnis habe ich, aber wie weit sie geht und worauf sie sich bezieht, das hat man mir noch nicht gesagt. So gehts mir auch. Setzen wir uns zusammen, dann werden wir diesen Punkt bald zu beiderseitiger Zufriedenheit geklärt haben. Ich begleite Sie, mein Herr. Sie gehen. Szene 2 Bruder Bruder Nein, frommer Pater, vergiss diesen Gedanken; der läppische Pfeil der Liebe dringt nicht in eine gestählte Brust, glaub das nicht. Ich habe wichtigere Gründe, dich um heimliche Zuflucht zu bitten, die vom Alter runzliger sind als die Absichten und Ziele entflammter Jugend. Möchten Sie darüber sprechen, Euer Gnaden? Ich habe Lord Angelo, einem Mann von Strenge und strikter Enthaltsamkeit, meine unumschränkte Macht und Stellung hier in Wien übertragen. Jetzt, frommer Mann, wirst du wahrscheinlich wissen wollen, warum ich das mache. Sehr gern, mein Herr. 6

7 Bruder Wir haben strikte Richtlinien und äußerst scharfe Gesetze, als notwendiges Zaumzeug und Zügel für störrische Gäuler, Zügel, die wir in den letzten vierzehn Jahren haben schleifen lassen, wie ein fettgewordener Löwe in der Höhle, der nicht mehr jagt, und aller Anstand geht den Bach runter. Es lag bei Euer Gnaden, diese gefesselte Gerechtigkeit von der Leine zu lassen, wann immer es Ihnen gefallen hätte. Und bei Ihnen hätte das schockierendere Wirkung gezeigt als bei Lord Angelo. Zu schockierend, fürchte ich. Es war ja mein Fehler, den Leuten so viel Spielraum zu lassen. Genau deshalb, Pater, habe ich Angelo das Amt aufgebürdet, er kann jetzt aus dem Hinterhalt meines Namens zuschlagen, ohne dass ich persönlich zwischen die Fronten gerate, was meinem Ruf schaden könnte. Und um seine Regierung im Auge zu behalten, will ich mit dem Volk und den Mächtigen ins Gespräch kommen, als wär ich ein Mönch aus deinem Orden. Ich bitte dich also, leih mir die Kutte und bring mir bei, wie ich mich äußerlich als echter Mönch verhalte. Lord Angelo ist puritanisch, er hütet sich vor Anfechtung; er gibt nur ungern zu, dass Blut in seinen Adern fließt, oder dass er mehr Appetit auf Brot hat als auf Steine. Insofern werden wir sehen, falls Macht Moral zersetzt, was die, die scheinen, wirklich sind. Szene 3 Schaut, schaut, da kommt die Entlastungsfrau! Ja, ja; da drüben haben sie einen verhaftet und abgeführt, der war mehr wert als fünftausend von euch. Wer denn, bitte? Na, Mann, Signor. im Gefängnis? Das stimmt nicht. Doch, ich weiß, dass es stimmt. Ich hab selbst gesehen, wie sie ihn verhaftet haben, hab gesehen, wie sie ihn weggebracht haben, und vor allem: innerhalb von drei Tagen soll ihm der Kopf abgeschlagen werden. Aber - ich kanns nicht glauben. Bist du dir sicher? 7

8 Aufseher Aufseher Mehr als sicher; und zwar, weil er Julia ein Kind gemacht hat. Das könnte stimmen. Und es passt zur Proklamation. Was für eine Proklamation, Mann? Alle Häuser in Wien müssen mit Stumpf und Stiel ausgejätet werden. Und unsere ganzen Häuser der Begegnung sollen abgerissen werden? Bis auf den Grund,. Na, das ist wirklich eine Umwälzung im Staat; was soll aus mir werden? Komm, du musst dir keine Sorgen machen; gute Anwälte haben immer Klienten. Du wechselst zwar den Ort, aber das Gewerbe brauchst du nicht zu wechseln. Mann, warum stellst du mich so öffentlich zur Schau? Schaff mich zum Gefängnis, wo ich eingeliefert werden soll. Sag mal, unterstellst du mir hier böse Absichten? Ich mache das doch nur auf ausdrücklichen Befehl von Lord Angelo. Na so was,? Was hast du denn verbrochen? Das auszusprechen wär schon wieder ein Verbrechen. Was, einen Mord? Nein. Ein Sexualdelikt? Wenn du so willst. Jetzt weiter, Herr. Ein Wort nur, lieber Freund., ein Wort mit dir. Gern auch hundert, wenns dir irgendwie hilft. Sind die jetzt bei Sexualdelikten so hinterher? 8

9 Um mich steht es so: Durch eine rechtlich bindende Verlobung hab ich mir Zugang zu Julias Bett verschafft. Du kennst das Mädchen, sie ist praktisch meine Ehefrau, uns fehlt bloß noch die Beglaubigung von offizieller Seite, und dazu sind wir nur deshalb nicht gekommen, weil wir auf eine Mitgift aus den Geldschränken ihrer Verwandten gewartet haben. Wir dachten, es wäre geschickt, unsere Beziehung geheimzuhalten, bis diese Verwandten uns mit der Zeit liebgewinnen. Aber jetzt ist es so, dass die Heimlichkeit unserer sehr intimen Freizeitbeschäftigung Julietta allzu fettgedruckt auf den Leib geschrieben steht. Schwanger, oder wie? Leider, genau das. Und der neue Stellvertreter des s erweckt mir alle eingetragenen Strafen wieder zum Leben, die wie ungeputzte Rüstungen neunzehn Jahre ungetragen an der Wand gehangen haben; und weil er ein Exempel statuieren will, wendet er dieses verschlafene und vernachlässigte Gesetz jetzt neu auf mich an: es geht eindeutig nur um ein Exempel. Garantiert, und dein Kopf sitzt dir so wacklig auf den Schultern, dass ein verliebtes Milchmädchen ihn runterseufzen kann. Wende dich an den und appelliere an ihn. Hab ich schon, aber der ist nirgends zu finden. Ich bitte dich,, sei so nett und tu mir folgenden Gefallen: Heute soll meine Schwester ins Kloster eintreten und als Novizin anfangen. Sag ihr, in was für einer bedrohlichen Lage ich stecke. Beschwöre sie in meinem Namen, sich mit diesem strengen Stellvertreter anzufreunden; bitte sie, es bei ihm zu versuchen. Das ist meine letzte Hoffnung, ihre Jugend ist nämlich auch ohne Worte so eloquent - dem können sich Männer nicht entziehen. Außerdem ist sie geschickt, in Diskussionen mit Argumenten zu jonglieren, und sehr überzeugend. Ich bete, dass sies hinkriegt, sowohl um andern Leuten Mut zu machen, die sich sonst auf schlimme Sanktionen gefasst machen müssten, als auch, damit du dein Leben genießen kannst, es täte mir leid, wenn du es so idiotisch bei einer Partie Rein-Raus verlieren müsstest. Ich will zu ihr. Ich dank dir, lieber. Bis in zwei Stunden. 9