1. 50 Jahre Reformen in der gesetzlichen Rentenversicherung...
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- Silke Hauer
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1 1. 50 Jahre Reformen in der gesetzlichen Rentenversicherung... Wenn dieses Buch in seiner 3. Auflage erscheint, befinden wir uns bereits im 55. Jahr nach der ersten großen Rentenreform des Jahres Insgesamt kann die gesetzliche Rentenversicherung in Deutschland seit 1891 bereits auf eine mehr als 120-jährige Geschichte zurückblicken. Dass es sich dabei um eine Erfolgsgeschichte handelt, ist durch die Fakten belegt. Hervorzuheben ist insbesondere die Sicherheit und Stabilität der gesetzlichen Rentenversicherung. Die gesetzliche Rente hat außergewöhnliche Krisensituationen in ihrer langjährigen Geschichte mit Bravour gemeistert. Keiner der heute 30 bis 60-Jährigen, aber auch vieler Älterer kann sich heute noch die gravierenden wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen ausmalen, die von der Bevölkerung während und nach den beiden Weltkriegen zwischen 1914 und 1918 sowie zwischen 1939 und 1945 zu bewältigen waren. Selbst die Hyperinflation des Jahres 1923 in der Weimarer Republik, eine der stärksten Geldentwertungen, die eine der großen Industrienationen in der Neuzeit je erleben musste, konnte der Rentenversicherung etwas anhaben. Die Weltwirtschaftskrise 1929, die die sog. Goldenen Zwanziger Jahre beendete, und die Währungsreform 1948 mit Einführung der DM konnten das Leistungsgefüge der Rentenversicherung ebenfalls nicht erschüttern. Die Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung war bis 1956 auf ein Anwartschaftsdeckungsverfahren gegründet. Danach sollten aber die Rentenzahlungen ursprünglich keine Lohnersatzfunktion besitzen, sondern lediglich einen Zuschuss zum Lebensunterhalt darstellen. Wie war es möglich, unser Rentensystem durch eine Vielzahl von Reformen immer up to date zu halten? Als besonderen Vorteil für die Entwicklung einer modernen Rentenversicherung hat es sich dabei erwiesen, dass die im Sozialgesetzbuch vorgesehene Selbstverwaltung der Rentenversicherungsträger, die gesetzgebenden Körperschaften und die sie tragenden Parteien, die Verbände und die Gewerkschaften, Organisationsstruktur, Leistungsumfang und Leistungsniveau der gesetzlichen Rentenversicherung vorausschauend und flexibel an die grundlegenden gesellschaftlichen Umwälzungen in der Bundesrepublik anpassen konnten. Themen dieses Paradigmenwandels sind z. B. die überwundene Stagnation unserer volkswirtschaftlichen Entwicklung als Folge der weltweiten Globalisierung, der Geburtenrückgang, das ständig steigende Lebensalter und die damit sich verändernde Altersstruktur der Rentenversicherten und Leistungsempfänger. 1
2 Heute im Jahr 2012, nach Inkrafttreten der letzten großen Reform mit Anhebung der Regelaltersgrenze vom 65. auf das 67. Lebensjahr steht das bundesdeutsche Rentensystem wieder auf stabilen Füßen. Die Nachhaltigkeitsrücklage der Rentenversicherung beträgt zum Ende des Jahres 2011 fast 1,4 Monatsausgaben. Das sind fast 0,3 Monatsausgaben mehr als Ende Der Rentenbeitragssatz sinkt zum 1. Januar 2012 von 19,9 auf 19,6 Prozent; das bedeutet jeweils 1,3 Milliarden Euro Entlastung für Beschäftigte und Arbeitgeber allein im nächsten Jahr. Zudem stehen die Zeichen für eine merkliche Rentensteigerung 2012 gut. Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (im Dezember 2011): Die Rentenversicherung ist demografie- und zukunftsfest, die Rentenfinanzen sind stabil. Das verdanken wir umsichtigen Reformen, die weder Alt noch Jung überfordern. Und es ist ein Ausweis dafür, wie gut Wirtschaft und Arbeitsmarkt durch die Krise gekommen sind. Deswegen freut mich, dass wir nun mit der Beitragssatzsenkung im kommenden Jahr nicht nur die arbeitende Generation entlasten können, sondern zugleich die Rentnerinnen und Rentner von der guten Entwicklung profitieren. Solide Finanzen und Generationengerechtigkeit machen die Rente stark und schaffen Sicherheit im Alter. Was waren nun in den letzten 55 Jahren die Highlights der bundesdeutschen Sozialpolitik, die der gesetzlichen Rentenversicherung ihr Gepräge gaben? Am Anfang stand die grundlegende Rentenreform des Jahres 1957, mit der die gesetzliche Rentenversicherung mit so viel Energie aufgeladen wurde, dass sie ihre herausragende sozialpolitische Bedeutung bis in die Gegenwart hinein bewahren konnte Die grundlegende Rentenreform 1957 Diese Reform wird zu Recht als Jahrhundertwerk bezeichnet. Sie war notwendig geworden, nachdem sich in der wirtschaftlich aufstrebenden Bundesrepublik in den 50-ziger Jahren der Abstand zwischen Löhnen und Renten ständig vergrößerte und mit Rentenzulagen bzw. pauschalen Rentenerhöhungen kein Anschluss an die Einkommensentwicklung erzielt werden konnte. Schwerpunkte der Reform waren eine Gleichstellung der rentenrechtlichen Ansprüche für Arbeiter und Angestellte und die Einführung der neuen bruttolohnbezogenen dynamischen Rente. Damit verbunden war auch die wegweisende Umstellung der Finanzierung der Rentenversicherung vom Anwartschaftsdeckungsverfahren auf das Umlageverfahren. 2
3 Abbildung 1: Die grundlegende Rentenreform 1957 Gleiches Recht für Arbeiter und Angestellte Durch die getrennte Entwicklung der gesetzlichen Rentenversicherung für die Berufsgruppe der Arbeiter in der Reichsversicherungsordnung und für die Berufsgruppe der Angestellten in dem Angestelltenversicherungsgesetz existierten einige Leistungsunterschiede bei den Ansprüchen auf eine Invaliditäts- bzw. Berufsunfähigkeitsrente, den jeweiligen Hinterbliebenenrenten und bei der Ermittlung der Rentenhöhe. Seit 1957 ist gewährleistet, dass es beitrags- und rentenrechtlich keinerlei Unterschiede mehr zwischen Arbeitern und Angestellten gibt. Die neue lohnbezogene Rentenformel Die neue dynamische Rentenformel basierte auf vier miteinander verknüpften Faktoren. Dabei ging es um die Zahl der jeweils anrechnungsfähigen Versicherungsjahre das Verhältnis des jeweils versicherten Bruttolohnes zum Durchschnittsbruttolohn aller Versicherten während der gesamten Versicherungszeit (persönliche Bemessungsgrundlage) eine durch den Gesetzgeber festgelegte allgemeine Bemessungsgrundlage, die das aktuelle durchschnittliche Lohnniveau widerspiegelt und einen Steigerungssatz je Versicherungsjahr in Höhe von 1,5 % (Erwerbsminderungsrente, Altersrente) und 1 % (Berufsunfähigkeitsrente). 3
4 Wer z. B. 45 anrechnungsfähige Versicherungsjahre geleistet hatte, erhielt als Altersrente jährlich 67,5 % der persönlichen Bemessungsgrundlage. Die Rente hatte erstmals Lohnersatzfunktion, nachdem sie bezüglich ihrer Höhe auch abhängig wurde von der aktuellen Entwicklung der Bruttolöhne und Gehälter. Die Umstellung der Rentenformel 1957 führte seinerzeit sofort zu einer durchschnittlichen Steigerung der Renten aus der Arbeiterrentenversicherung um 65 und aus der Angestelltenversicherung um 72 Prozent. Finanzierung der Rente durch die aktiv Versicherten (Umlageverfahren) 4 Nach dem Umlageprinzip zahlen Arbeitnehmer und Arbeitgeber ab 1957 je zur Hälfte in die Rentenkassen ein, die zudem noch von einem Bundeszuschuss gespeist werden. Heute (2012) werden die Renten in erheblichem Umfang (etwas mehr als 30 %) mit Mitteln aus dem Bundeshaushalt also aus Steuermitteln finanziert. Beim Bundeszuschuss wird zwischen dem allgemeinen und dem zusätzlichen Zuschuss unterschieden. Der allgemeine Zuschuss dient der Finanzierung der Leistungen in gleicher Weise wie die Beiträge der Versicherten und der Arbeitgeber. Der zusätzliche Zuschuss, der aus einer Mehrwertsteuererhöhung um 1 % im Jahr 1998 resultiert und seit 1999 um die Ökosteuer ergänzt wurde, soll die nicht beitragsgedeckten Leistungen der Rentenversicherung abdecken. Bundeszuschuss und zusätzlicher Bundeszuschuss haben folgenden Hintergrund: Die gesetzliche Rentenversicherung übernimmt eine Reihe von Leistungen, die nicht auf den Kreis der Versicherten und Beitragszahler begrenzt sind, so dass die Leistungen nicht in vollem Umfang durch entsprechende Beitragseinnahmen gedeckt sind. Zu den ungedeckten Leistungen zählen u. a. Ersatzzeiten, wie Wehr- und Kriegsdienst, Fremdrenten, Kindererziehungszeiten, Anrechnungs- und Berücksichtigungszeiten sowie die Rentenfinanzierung in den neuen Bundesländern. Generationenvertrag So bezeichnet man ein ungeschriebenes Übereinkommen zwischen den Generationen, mit der die Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung gesichert werden soll. Die derzeitigen Erwerbstätigen zahlen mit ihren Beiträgen die Renten der aus dem Erwerbsleben ausgeschiedenen Personen und erwerben dabei gleichzeitig Ansprüche auf ähnliche Leistungen der nachfolgenden Generationen an sich selbst. Rehabilitation vor Erwerbsminderungsrente Rehabilitationsleistungen erhalten Vorrang vor Rentenleistungen, die bei einer erfolgreichen Rehabilitation nicht oder voraussichtlich erst zu einem späteren Zeitpunkt zu erbringen sind. Dieser Grundsatz hat bis heute herausragende Bedeutung. Er wurde durch die spätere Gesetzgebung mit dem Rehabilitations-Angleichungsgesetz von 1974 und dem Sozialgesetzbuch IX
5 Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen im Jahr 2001 nachhaltig verfestigt Die Rentenreform 1972 Die Rentenfinanzen gestalteten sich in der ersten Dekade nach den Reformen des Jahres 1957 außerordentlich gut und wurden gestützt durch die expansive Wirtschaftsentwicklung der Bundesrepublik Deutschland in diesem Zeitraum. Trotz Leistungsverbesserungen durch Novellierung der Reformgesetze im Laufe der 60-ziger Jahre entwickelte sich ein sozialpolitischer Grundkonsens zu weiteren strukturellen Reformen, der die gesellschaftliche Aufbruchstimmung nach Amtsübernahme durch die sozialliberale Koalition in Bonn widerspiegelte. Als die abschließenden Beratungen zur Rentenreform 1972 allerdings im Bundestag anstanden, erhielten sie durch die wechselnden Machtverhältnisse zwischen Regierung (SPD/FDP) und Opposition (CDU/CSU) eine besonders pikante Note. Zur Erinnerung: Obwohl nach dem Übertritt mehrerer Koalitionsabgeordneter zur Opposition, das konstruktive Misstrauensvotum im April 1972 scheiterte und letztlich zu den Neuwahlen im Herbst 1972 führte, war die Verabschiedung der Rentenreform im Spätsommer 1972 von einer parlamentarischen Pattsituation gekennzeichnet. Dadurch konnten die Rentengesetze nur durch Kompromisse im Sinne der CDU/CSU beschlossen werden. So blieb z. B. das von der Regierung vorgesehene Babyjahr für erwerbstätige Mütter unberücksichtigt. Erst 1986 war die Zeit reif für entsprechende familienpolitische Reformen in der Rentenversicherung. Dennoch konnten sich die erreichten Leistungsverbesserungen für Versicherte und Rentner sehen lassen. Abbildung 2: Die Rentenreform
6 Öffnung der Rentenversicherung für Selbständige und Hausfrauen Alle Personen ab dem 16. Lebensjahr erhielten die Möglichkeit zur freiwilligen Versicherung. Gleichzeitig wurde allen Nichtversicherten (vor allem Hausfrauen) die Möglichkeit der Nachentrichtung von freiwilligen Beiträgen zurück bis zum eingeräumt. Den bislang nicht versicherungspflichtigen Selbständigen wurde die Möglichkeit eingeräumt, auf Antrag versicherungspflichtig zu werden. Außerdem konnten sie von einer äußerst vorteilhaften Beitragsnachentrichtung bis zum zur Schließung vorhandener Beitragslücken Gebrauch machen. Die dabei erzielbare Rendite des eingezahlten Beitrages betrug dabei zum Teil mehr als 30 bzw. 40 % p.a.. Einführung flexibler Altersgrenzen Die starre Regelaltersgrenze mit 65 Jahren gehörte ab der Vergangenheit an. Wer die besondere Wartezeit von 35 Versicherungsjahren (Beitrags-, Ersatz- und Ausfallzeiten sowie der Zurechnungszeit) erfüllte, konnte die flexible Altersrente abschlagsfrei bereits ab dem 63. Lebensjahr beziehen. Bis zur Änderung durch den neugewählten Bundestag war der Rentenbezug sogar ohne jegliche Einschränkungen neben dem vollen Arbeitsverdienst zugelassen. Erst ab wurden die Hinzuverdienstmöglichkeiten neben der flexiblen Altersrente auf 30 % der monatlichen Beitragsbemessungsgrenze festgelegt. Schwerbeschädigte Versicherte (heute: Schwerbehinderte) erhielten diese flexible Altersrente auf Antrag bereits ab dem 62. Lebensjahr. Rente nach Mindesteinkommen Dadurch wurden Kleinstrenten langjährig pflichtversicherter Arbeitnehmer deutlich angehoben. Wer mindestens 25 anrechnungsfähige Versicherungsjahre ohne freiwillige Beiträge und Ausfallzeiten zurückgelegt hatte, erhielt einen Zuschlag an Werteinheiten in der Rentenberechnung (dies aber begrenzt auf die Pflichtbeiträge bis zum ). Die Werte für die Pflichtbeiträge wurden um die Hälfte höchstens aber auf 75 Prozent des Durchschnittsverdienstes aller Versicherten angehoben. Die Rente nach Mindesteinkommen führte allein zur Anhebung von mehr als 12 % aller Renten, wobei in 4 von 5 Fällen diese Erhöhung Frauen zugute kam. Dadurch wurde das vom Gesetzgeber anvisierte Ziel, die geschlechterspezifisch bedingte Lohnminderung langjährig erwerbstätiger Frauen zu beseitigen, erfüllt. 6
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