Kurzfassung der Dissertation. Microscopic Modeling of Human and Automated Driving: Towards Traffic-Adaptive Cruise Control
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- Johann Beck
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1 der Dissertation Microscopic Modeling of Human and Automated Driving: Towards Traffic-Adaptive Cruise Control Mikroskopische Verkehrsmodellierung menschlichen und automatisierten Fahrverhaltens: Verkehrsadaptive Strategie für Geschwindigkeitsregler Dipl.-Phys. Arne Kesting Fakultät Verkehrswissenschaften Friedrich List Dresden, Februar 2008
2 Von der Fakultät Verkehrswissenschaften Friedrich List an der Technischen Universität Dresden zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Ingenieurwissenschaften genehmigte Dissertation. Vorgelegt von Dipl.-Phys. Arne Kesting. Tag des Rigorosums: 9. Januar 2008, Tag der Disputation: 22. Januar Deutsche Übersetzung des Titels: Mikroskopische Verkehrsmodellierung menschlichen und automatisierten Fahrverhaltens: Verkehrsadaptive Strategie für Geschwindigkeitsregler Promotionskommission: Prof. Dr. phil. habil. Bernhard Schlag (Vorsitzender) Professur für Verkehrspsychologie Prof. Dr. rer. nat. habil. Dirk Helbing (Betreuer) Chair for Sociology, in particular of Modeling and Simulation Eidgenössische Technische Hochschule Zürich Prof. Dr. rer. nat. habil. Karl Nachtigall Professur für Verkehrsströmungslehre Prof. Dr.-Ing. Bernhard Bäker Professur für Fahrzeugmechatronik PD Dr.-Ing. habil. Christian Schiller Theoretische Verkehrsplanung Dr.-Ing. Hans-Jürgen Stauss Konzernforschung Mobilität Volkswagen AG, Wolfsburg Copyright c 2008 by Arne Kesting. All rights reserved. mail@akesting.de Institut für Wirtschaft und Verkehr Andreas-Schubert-Straße 23 Fakultät Verkehrswissenschaften Friedrich List D Dresden Homepage: URL: 2
3 Kontext und Ausgangspunkt Leistungsfähige und effiziente Verkehrssysteme bilden die Grundlage für eine stabile wirtschaftliche Entwicklung unserer heutigen globalen Industriegesellschaften. Darüber hinaus ist die individuelle Mobilität ein wichtiger Bestandteil persönlicher Freiheit und Selbstverwirklichung. Der Hauptanteil der Verkehrsleistung wird von motorisiertem Individualverkehr erbracht. Allgegenwärtige Verkehrsstaus verdeutlichen allerdings, dass die Straßenkapazität begrenzt ist. Sie verursachen zudem beträchtliche volkswirtschaftliche Schäden. 1 Während die Verkehrsnachfrage nur indirekt beeinflusst werden kann (v.a. durch politische Steuerung), erfordert ein Ausbau des Straßennetzes langfristige Planungen sowie hohe Investitions- und Unterhaltskosten. Zudem ist in dicht besiedelten Großräumen der Ausbau des Straßennetzes oft weder möglich noch politisch erwünscht. Daher kommt einer effizienten Nutzung der vorhandenen Straßeninfrastruktur eine entscheidende Bedeutung zu. Die Vision der Verkehrstelematik besteht seit langem darin, diese Effizienz durch eine automatisierte Fahrzeugsteuerung zu erreichen. Durch Fortschritte in den Bereichen der Sensor-, Steuerungs- und Kommunikationstechnologie ist automatisiertes Fahren zumindest auf Autobahnen und innerhalb einer Spur schon heute Realität: Adaptive-Cruise-Control-Systeme (ACC) 2 greifen in die Fahrzeugkontrolle ein und regeln das Beschleunigen und Bremsen. Über einen Radarsensor wird der Abstand zum Vorderfahrzeug gemessen und in Kombination mit den Fahrzeuggeschwindigkeiten die notwendige Beschleunigung berechnet, die für das Einhalten einer vom Benutzer vorgegebenen Wunschgeschwindigkeit bzw. eines zeitlichen Abstands zum Vorderfahrzeug notwendig ist. Heutige ACC-Systeme sind für ein sicheres und komfortables Fahren auf Autobahnen bei Geschwindigkeiten über 30 km/h ausgelegt. Bereits die nächste Generation wird jedoch im gesamten Geschwindigkeitsbereich (inkl. Stop-and-go-Verkehr) anwendbar sein. 3 Fragestellung und Beitrag In der Arbeit wird ein neues verkehrstelematisches Konzept für ein verkehrseffizientes Fahrverhalten entwickelt und als dezentrale Strategie zur Vermeidung und Auflösung von Verkehrsstaus auf Richtungsfahrbahnen vorgestellt. Die operative Umsetzung erfolgt durch ein ACC-System, das um eine, auf Informationen über die lokale Verkehrssituation basierende, automatisierte Fahrstrategie erweitert wird. Die Herausforderung bei einem Eingriff in das individuelle 1 Die Europäische Kommission hat die volkswirtschaftlichen Kosten durch Zeitverluste und Mehrverbrauch von Kraftstoff auf 0,5 % des Bruttosozialprodukts des Jahres 2001 geschätzt und prognostiziert aufgrund einer Steigerung der globalen Verkehrsnachfrage eine Verdopplung der Kosten bis zum Jahr Deutsch: adaptiver Geschwindigkeitsregler oder radargestützte Abstandsregelung. 3 Eine ACC-Implementierung in einem Forschungsfahrzeug wurde von der Volkswagen AG in Zusammenarbeit mit der TU Dresden im Rahmen des Forschungsprojekts Invent ( Intelligenter Verkehr und nutzergerechte Technik) demonstriert. 3
4 Fahrverhalten besteht unter Berücksichtigung von Sicherheits-, Akzeptanz- und rechtlichen Aspekten im Ausgleich der Gegensätze Fahrkomfort und Verkehrseffizienz. Während sich ein komfortables Fahren durch große Abstände bei geringen Fahrzeugbeschleunigungen auszeichnet, erfordert ein verkehrsoptimierendes Verhalten kleinere Abstände und eine schnellere Anpassung an Geschwindigkeitsänderungen der umgebenden Fahrzeuge. Als allgemeiner Lösungsansatz wird eine verkehrsadaptive Fahrstrategie vorgeschlagen, die ein ACC-System mittels Anpassung der das Fahrverhalten charakterisierenden Parameter umsetzt. Die Wahl der Parameter erfolgt in Abhängigkeit von der lokalen Verkehrssituation, die auf der Basis der im Fahrzeug zur Verfügung stehenden Informationen automatisch detektiert wird. Durch die Unterscheidung verschiedener Verkehrssituationen wird ein temporärer Wechsel in ein verkehrseffizientes Fahrregime (zum Beispiel beim Herausfahren aus einem Stau) ermöglicht. Machbarkeit und Wirkungspotenzial der verkehrsadaptiven Fahrstrategie werden in der Dissertation im Rahmen eines mikroskopischen Modellierungsansatzes simuliert und hinsichtlich der kollektiven Verkehrsdynamik, insbesondere der Stauentstehung und Stauauflösung, auf mehrspurigen Richtungsfahrbahnen bewertet. Die durchgeführte Modellbildung, insbesondere die Formulierung eines komplexen Modells des menschlichen Fahrverhaltens, ermöglicht eine detaillierte Analyse der im Verkehr relevanten kollektiven Stabilität und einer von der Stabilität abhängigen stochastischen Streckenkapazität. Ein tieferes Verständnis der Stauentstehung und -ausbildung wird durch das allgemeine Konzept der Engstelle erreicht. Dieses findet auch bei der Entwicklung der Strategie für ein stauvermeidendes Fahrverhalten Anwendung. In der Arbeit wird die stauvermeidende und stauauflösende Wirkung eines individuellen, verkehrsadaptiven Fahrverhaltens bereits für geringe Ausstattungsgrade nachgewiesen. Vor dem Hintergrund einer zu erwartenden Verbreitung von ACC-Systemen ergibt sich damit eine vielversprechende Option für die Steigerung der Verkehrsleistung durch ein teilautomatisiertes Fahren. Der entwickelte Ansatz einer verkehrsadaptiven Fahrstrategie ist unabhängig vom ACC-System. Er erweitert dessen Funktionalität im Hinblick auf zukünftige, informationsbasierte Fahrerassistenzsysteme um eine neue fahrstrategische Dimension. Die lokale Interpretation der Verkehrssituation kann neben einer verkehrsadaptiven ACC-Regelung auch der Entwicklung zukünftiger Fahrerinformationssysteme dienen. Ergebnisse der Arbeit Die Arbeit gliedert sich in zwei Hauptteile. Gegenstand des ersten Teils ist eine mikroskopische Theorie der Verkehrsdynamik. Es werden Modelle zur Beschreibung des individuellen Beschleunigungs-, Brems- und Spurwechselverhaltens formuliert und die daraus resultierende kollektive Verkehrsdynamik und Stabilität numerisch untersucht. Die entwickelten Modelle 4
5 und Simulationswerkzeuge bilden die methodischen Voraussetzungen für den zweiten Teil der Arbeit, in dem ein Konzept für eine verkehrsadaptive Regelungsstrategie von ACC-Systemen vorgestellt wird und deren Auswirkungen auf die Verkehrsdynamik auf Autobahnen mittels Verkehrssimulationen untersucht und bewertet werden. Das mikroskopische Fahrzeugfolgemodell Intelligent Driver Model (IDM) 4 dient als Ausgangspunkt der Arbeit. Aus der Literatur ist bekannt, dass das IDM alle wesentlichen Phänomene der Verkehrsdynamik auf Autobahnen reproduziert. Darüber hinaus ermöglichen die leicht zu interpretierenden Modellparameter des IDM eine intuitive Charakterisierung verschiedener Fahrzeugklassen (wie PKW und LKW) sowie unterschiedlichen Fahrverhaltens. Bei der Modellierung einer verkehrsadaptiven Longitudinalsteuerung mittels eines ACC-Systems erweist sich diese Eigenschaft als vorteilhaft. Mikroskopische Modellkalibrierung und -validierung Für ein grundsätzliches Verständnis der Eigenschaften des IDM werden die Dynamik einzelner Fahrzeuge, die Gleichgewichtseigenschaften eines Verkehrsflusses identischer Fahrzeuge sowie das Auftreten kollektiver Instabilitäten untersucht. In der Literatur ist das Verkehrsmodell IDM anhand makroskopischer Verkehrsgrößen, welche sich z.b. aus empirischen Fluss-Dichte- Beziehungen ergeben, kalibriert worden. In der vorliegenden Arbeit wird eine mikroskopische Kalibrierungs- und Validierungsmethode für Fahrzeugfolgemodelle vorgestellt, um eine simulierte Trajektorie bestmöglich an eine empirisch gemessene Trajektorie anzupassen. Für die numerische Lösung dieses nichtlinearen Optimierungsproblems wurde ein genetischer Algorithmus entwickelt und es wurden drei verschiedene Zielfunktionen formuliert, um die Sensitivität der Kalibrierungsresultate bewerten zu können. Das IDM konnte das individuelle Fahrverhalten reproduzieren. Die anhand verschiedener Trajektorien und Optimierungskriterien kalibrierten Modellparameter lagen im erwarteten Wertebereich. Die Kalibrierungsfehler betrugen zwischen 10 und 30 %, wovon der größte Teil auf dynamische Anpassungsprozesse des Fahrers (sog. intra-driver variability) zurückgeführt werden konnte. Die Unterschiede zwischen den kalibrierten und validierten Modellparametern waren deutlich kleiner und ließen sich im wesentlichen durch die unterschiedlichen Fahrstile verschiedener Fahrer (sog. inter-driver variability) erklären. Ein Modell des menschlichen Fahrverhaltens In der Kalibrierungsstudie wurde gezeigt, dass das IDM das menschliche Fahrverhalten auch in Einzelsituationen befriedigend beschreibt. Hinsichtlich der offensichtlichen operativen Unterschiede zwischen einem autofahrenden Menschen und einem simplifizierenden Fahrzeugfol- 4 M. Treiber, A. Hennecke, D. Helbing, Congested traffic states in empirical observations and microscopic simulations, Physical Review E 62, (2000). 5
6 gemodell, welches instantan auf lediglich das unmittelbare Vorderfahrzeug reagiert, stellt sich die grundsätzliche Frage nach einer theoretischen Begründung, die auch für die Modellierungsannahmen im zweiten Teil der Arbeit relevant ist. In der Arbeit wird mit dem Human Driver Model (HDM) ein komplexes mikroskopisches Verkehrsmodell formuliert, das menschliche Eigenschaften explizit berücksichtigen soll. An erster Stelle ist eine nicht zu vernachlässigende menschliche Reaktionszeit zu nennen, die in der mathematischen Formulierung für die Beschleunigungsfunktion zu Delay- Differenzialgleichungen führt. Aus der Literatur ist bekannt, dass menschliche Reaktionszeiten, die in der Größenordnung von einer Sekunde liegen, zu sehr instabilem Modellverhalten führen. Weiterhin wird die Stabilität durch menschliche Wahrnehmungs- und Schätzfehler reduziert, die im HDM durch Wiener-Prozesse beschrieben werden und zu stochastischen Modellelementen führen. Zur Stabilisierung des Fahrverhaltens werden zwei Antizipationsmechanismen betrachtet: Der modellierte Fahrer reagiert nicht nur auf das unmittelbare Vorderfahrzeug, sondern auch (mit abnehmender Gewichtung) auf die Fahrzeuge davor ( räumliche Antizipation ), womit das HDM über die Näherung der einfachen Fahrzeugfolgemodelle hinausgeht. Zweitens wird modelliert, dass der menschliche Fahrer bei seiner Wahrnehmung des Abstandes zum nächsten Fahrzeug um seine Reaktionszeit weiß und die Verkehrssituation entsprechend extrapoliert ( zeitliche Antizipation ). Die aus dem Zusammenwirken der verschiedenen Modellelemente resultierenden Stabilitätseigenschaften des Modells wurden anhand von Fahrzeugkolonnen unter dem Einfluss endlicher Störungen numerisch untersucht. Die kollektive Stabilität wird dabei vor allem durch drei charakteristische Zeiten bestimmt, deren Einflüsse und Wechselwirkungen erstmals durch unabhängige Parameter analysiert wurden. Neben der expliziten Reaktionszeit der Fahrer, die in erster Linie eine physiologische Größe ist, wird die kollektive Stabilität durch eine endliche Adaptionszeit an Geschwindigkeitsänderungen determiniert, die sich aus der endlichen Beschleunigungsfähigkeit der Fahrzeuge und Beschleunigungswilligkeit der Fahrer ergibt. In Simulationen wurden beide Instabilitätsmechanismen untersucht und qualitative Unterschiede nachgewiesen. Vergleichsweise niedrige Fahrzeugbeschleunigungen verursachen eine kollektive Instabilität durch die Ausbildung langwelliger Störungen, während endliche Reaktionszeiten im Zusammenspiel mit höheren Beschleunigungen zunächst kurzwellige Störungen hervorrufen. Beide Instabilitätsmechanismen können aber zur Ausbildung von (langwelligen) Stop-and-go- Wellen führen. Weiterhin konnte gezeigt werden, dass in Gegenwart einer nicht zu vernachlässigenden Reaktionszeit eine Vergrößerung der Geschwindigkeitsadaptionszeit durch kleinere Beschleunigungen die kollektive Stabilität erhöhen, also eine langsamere Anpassung zur Stabilisierung von zeitverzögerten Systemen beitragen kann. Eine endliche Integrationsschrittweite, die ebenfalls eine verzögerte Anpassung bewirkt, kann als dritte, unabhängige Zeit aufgefasst werden. Obwohl sie nur eine Hilfsgröße für die numerische Integration der Differenzialgleichungen ist, 6
7 wird sie in einigen Modellen in der Literatur mit der Reaktionszeit identifiziert. Die Simulationen zeigen, dass der Einfluss der Integrationsschrittweite jedoch nur dem einer halben Reaktionszeit entspricht. Weiterhin wurde die makroskopische Verkehrsdynamik unter dem Einfluss von Reaktionszeit und Antizipation in einem komplexen Szenario mit einer flusserhaltenden Engstelle (z.b. einer Baustelle) in einem offenen System simuliert. Im Modell konnten verschiedene raumzeitliche Stauzustände, die aus der Literatur bekannt sind, durch eine Variation intrinsischer Modellparameter für die Reaktionszeit und räumliche Antizipation nachgewiesen werden. Die Simulationen zeigen, dass sich die menschliche Reaktionszeit in ihrer kollektiven Wirkung durch die eingeführten Antizipationsmechanismen quantitativ kompensieren lässt. Damit lässt sich im Rahmen des vorgestellten Modells erklären, warum die auf simplifizierten Annahmen beruhenden Fahrzeugfolgemodelle in der Lage sind, die empirischen Verkehrsphänomene quantitativ zu beschreiben. Modellierung von Spurwechselentscheidungen Die mikroskopische Simulation des Autobahnverkehrs erfordert neben der Beschreibung des spurgebundenen Brems- und Beschleunigungsverhaltens die explizite Modellierung von Spurwechseln. Erst die Möglichkeit zum Überholen von langsameren Fahrzeugen erlaubt eine realistische Berücksichtigung von Effekten, die durch heterogene Fahrertypen und Fahrzeugklassen hervorgerufen werden. Mit dem Modell MOBIL 5 wird ein allgemeines Entscheidungsmodell formuliert, das sowohl erzwungene als auch freie Spurwechsel beschreibt. Das Modell basiert auf einem Motivations- und einem Sicherheitskriterium. Die Abwägung zwischen dem zu erwartenden eigenen Vorteil in der neuen Spur und dem Risiko, das durch einen Spurwechsel hervorgerufen wird, erfolgt auf der Basis von longitudinalen Beschleunigungen, die sich wiederum mit Hilfe eines longitudinalen Verkehrsmodells berechnen lassen. Diese Metaformulierung des diskreten Entscheidungsproblems ermöglicht eine einfache und konsistente Modellformulierung, bei der die Eigenschaften des Longitudinalmodells auch in die Spurwechselentscheidung einfließen. Der Spurwechselalgorithmus MOBIL geht über Modelle aus der Literatur hinaus, indem er neben dem individuellen Vorteil auch die Auswirkungen auf die durch den Spurwechsel beeinflussten nächsten Nachbarn berücksichtigt. Dieser Abwägungsprozess wird anschaulich durch einen Höflichkeitsparameter beschrieben. Der Einfluss der Modellparameter für symmetrische und asymmetrische Spurwechselregeln (letztere mit einem Rechtsfahrgebot und einem Rechtsüberholverbot) auf das Spurwechselverhalten wurde in Verkehrssimulationen untersucht. Die resultierenden Spurwechselraten als Funktion der Verkehrsdichte liegen in einer realistischen Größenordnung und stimmen semiquantitativ mit empirischen Untersuchungen überein. 5 Das Akronym steht für Minimizing Overall Braking Induced by Lane Changes. 7
8 Verkehrsadaptive Strategie für ACC-Systeme Im zweiten Teil der Arbeit wird ein Konzept für zukünftige ACC-Systeme vorgestellt, das neben dem individuellen Fahrkomfort und der Verkehrssicherheit als drittes Kriterium eine positive Beeinflussung der kollektiven Verkehrsleistung berücksichtigt. Während ein komfortorientiertes Fahrverhalten mit geringen Fahrzeugbeschleunigungen bei großen Abständen umgesetzt werden kann, ist ein auf Verkehrseffizienz ausgelegtes Fahrverhalten mit kleineren Zeitlücken und höheren Beschleunigungen verbunden. Um diese gegensätzlichen Zielkriterien miteinander vereinbaren zu können, wird eine verkehrsadaptive Regelungsstrategie für ACC-Systeme vorgeschlagen und im Rahmen von mikroskopischen Simulationen auf ihre kollektive Wirkung untersucht. Das Konzept umfasst als Modellkomponenten eine verkehrszustandsabhängige Fahrstrategie, ein autonomes Detektionsmodell zur Bestimmung der lokalen Verkehrssituation und eine Umsetzung der Fahrstrategie in einem ACC-Modell. Die entwickelte verkehrsadaptive Fahrstrategie unterscheidet fünf Verkehrszustände, deren unterschiedliche Zielsetzungen durch eine Anpassung des aktuellen Fahrverhaltens in Form der folgenden Fahrstrategiematrix umgesetzt werden: Im Zustand Freier Verkehr ist das Zielkriterium ein komfortabler Fahrstil, der von den benutzerdefinierten Standardeinstellungen des ACC-Systems gewährleistet wird. Bei der Annäherung an einen Stau soll so frühzeitig und sanft wie möglich gebremst werden, um das Risiko von Auffahrunfällen zu reduzieren. Im Zustand Stau wird ebenfalls die Standardeinstellung des ACC-Systems gewählt, weil ein Fahrer im Stau die Verkehrsleistung nicht direkt beeinflussen kann. Dagegen kommt es bei der Ausfahrt aus dem Stau darauf an, dass die Fahrzeuge rechtzeitig und zügig beschleunigt werden, um den Ausfluss aus dem Stau zu erhöhen. Im Hinblick auf das Kriterium einer Steigerung der Verkehrsleistung ist darüber hinaus das Fahrverhalten beim Passieren einer Engstelle von Bedeutung. Da eine lokale Kapazitätsreduktion das definierende Merkmal einer Engstelle ist, ist das Ziel in dieser Verkehrssituation eine Abschwächung des Engpasses durch ein aufmerksames Fahren bei kleineren Zeitabständen. Die verkehrsabhängige Fahrstrategie erfordert eine autonome Bestimmung des lokalen Verkehrszustandes im Fahrzeug. Das formulierte Detektionsmodell enthält Kriterien für die eingeführten Verkehrszustände sowie eine Heuristik für das korrespondierende Entscheidungsproblem bei der Auswahl eines Verkehrszustandes. Die Kriterien basieren auf lokalen, im Fahrzeug zur Verfügung stehenden Informationen wie der Zeitreihe der Geschwindigkeit oder der georeferenzierten Fahrzeugposition in Verbindung mit einer digitalen Karte. Die digitale Karte ist um Attribute infrastruktureller Engstellen, wie z.b. Auf- und Abfahrten von Autobahnen, Steigungsstrecken oder Baustellen, ergänzt, da aus empirischen Untersuchungen von Verkehrsstaus bekannt ist, dass die meisten Verkehrszusammenbrüche an diesen stationären Engstellen lokalisiert sind. In Abhängigkeit vom lokal detektierten Verkehrszustand wird die zugehörige Fahrstrate- 8
9 gie von einem ACC-Modell umgesetzt. Formal entspricht dies einem Fahrzeugfolgemodell mit einer automatischen, ereignisgesteuerten Wahl der Modellparameter, die damit zeitabhängig werden. Die Anpassung der Modellparameter ist in der Fahrstrategiematrix relativ formuliert, um individuelle ACC-Einstellungen des Fahrers zu berücksichtigen. Analyse und Bewertung in der mikroskopischen Simulation Die Auswirkungen eines (hypothetischen) Anteils von ACC-Fahrzeugen auf die kollektive Verkehrsdynamik kann nur im Rahmen von Simulationen untersucht werden. Die Bewertung der vorgestellten verkehrsadaptiven ACC-Fahrstrategie mit ihrer fahrzeugbasierten Verkehrszustandsdetektion erfordert einen mikroskopischen Simulationsansatz. Mit Hilfe der entwickelten Software wurden mehrspurige Streckenabschnitte mit verschiedenen Engstellen und Randbedingungen simuliert. Für eine realistische Wahl der stromaufwärtigen Randbedingungen des offenen Systems wurden u.a. zeitabhängige Detektordaten der deutschen Autobahn 9 (München- Salzburg) für den Verkehrsfluss und einen variablen LKW-Anteil benutzt. Im Rahmen der Simulation von Verkehrszusammenbrüchen konnte bereits ab einem ACC- Anteil von zehn Prozent eine positive Wirkung der verkehrsadaptiven Fahrstrategie beobachtet werden. Abhängig vom ACC-Ausstattungsgrad bewirkt die Fahrstrategie im Verkehrszustand Passieren einer Engstelle eine Reduzierung der Engpassstärke und damit eine Verzögerung bzw. Verhinderung des Verkehrszusammenbruchs. Ein Wechsel des Fahrregimes im Zustand Ausfahrt aus dem Stau bewirkt einen höheren Ausfluss bei geringeren Rückstaulängen und damit eine schnellere Stauauflösung. Zur Bewertung wurde die aktuelle Reisezeit (als wichtiges Kriterium für die Verkehrsteilnehmer) sowie die kumulierte Reisezeit (als Indikator für die Systemleistung) herangezogen. Eine systematische Untersuchung der kumulierten Reisezeiten ergab einen monoton abnehmenden Zusammenhang bei zunehmendem Anteil von ACC- Fahrzeugen, wodurch eine graduelle Verbesserung der Verkehrseffizienz auch bei kleinen (und damit realistischen) ACC-Ausstattungsgraden nachgewiesen wurde. Für eine systematische Untersuchung der Dynamik wurden die externen Parameter wie der ACC-Anteil, der LKW-Anteil sowie die Parametrierung der Fahrstrategiematrix variiert, wobei die maximale freie Kapazität im freien Verkehr und die dynamische Kapazität, die den Ausfluss aus dem Stau beschreibt, als relevante dynamische Größen betrachtet wurden. Die freie Kapazität bestimmt den maximal möglichen Durchsatz des Systems, bis es zum Verkehrszusammenbruch kommt. Als dynamische Größe hängt sie von der kollektiven Stabilität ab und ist damit von der statischen Streckenkapazität zu unterscheiden. Zur Verdeutlichung der stochastischen Natur des Verkehrszusammenbruchs wurde die maximale Kapazität als Zufallsvariable betrachtet, die sich in guter Näherung durch eine Gaußverteilung beschreiben ließ. Die Varianz hängt von der Heterogenität des Fahrer-Fahrzeug-Ensembles ab, wobei die Berücksichtigung unterschiedlicher Fahrzeugklassen einen größeren Einfluss hatte als die Berücksichtigung statistisch verteilter Modellparameter innerhalb der Fahrzeugklassen. 9
10 Die Grenzen der autonomen Verkehrszustandsdetektion wurden im Rahmen der Simulationen identifiziert. Auf der Basis der lokal verfügbaren Informationen können propagierende Staufronten (z.b. Stop-and-go-Wellen) nicht zuverlässig für eine rechtzeitige Anpassung der Fahrstrategie detektiert werden. Daher wird eine Erweiterung des Detektionsmodells um nichtlokale Informationen diskutiert, welche in der Zukunft z.b. durch eine Kommunikation zwischen Fahrzeugen (inter-vehicle communication) oder mit stationären Sendern (sog. road-side units) zur Verfügung gestellt werden können. In einer Machbarkeitsstudie wurde die Informationsgenerierung und eine ausreichend schnelle Informationsübermittlung, auch unter den Einschränkungen, dass nur sehr wenige Fahrzeuge mit einem Kommunikationsmodul ausgestattet sind und die Senderreichweite begrenzt ist, demonstriert, wobei die ausgestatteten Fahrzeuge in der Gegenrichtung als dynamische Relaisstationen genutzt wurden (store-and-forward), um eine ausreichende Konnektivität zu gewährleisten. Eine Detektion, Interpretation und Voraussage der lokalen Verkehrssituation in Verbindung mit zukünftigen Kommunikationstechnologien kann neben einer verkehrsadaptiven ACC-Regelung auch der Entwicklung zukünftiger Fahrerinformationssysteme dienen. Eine Demonstration beider Anwendungsebenen ist von der Volkswagen AG im Rahmen des Forschungsprojekts Aktiv 6 geplant. 6 Das Akronym steht für Adaptive und kooperative Technologien für den intelligenten Verkehr. 10
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