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1 Soziale Inklusion und Exklusion psychisch erkrankter Menschen Dirk Richter Universitäre Psychiatrische Dienste Bern, Direktion Psychiatrische Rehabilitation Berner Fachhochschule Haute école spécialiséetbernoise Bern University of Applied Sciences Was erwartet Sie in den nächsten 35 Minuten? Herkunft und Anwendungsgebiete des Konzepts sozialer In-/Exklusion Soziale Exklusion: einige empirische Daten Soziale Exklusion durch das psychiatrische Versorgungssystem Soziale Inklusion und UN-Behindertenrechtskonvention Inklusion durch gegenseitige Anpassung von betroffener Person und sozialem Umfeld 1
2 Sozialer Ausschluss früher 2
3 USA: De- und Re-Institutionalisierung 3
4 Soziale Integration/Desintegration der Integrationsbegriff hat in der Soziologie eine lange theoretische und empirische Tradition üblicherweise ist damit eine gesamtgesellschaftliche Perspektive impliziert ( was hält die Gesellschaft zusammen? ) damit verbunden ist eine theoretische Diskussion um die Begriffe Sozialintegration (soziokulturelle Netzwerke) vs. Systemintegration (soziale Funktionssysteme wie Wirtschaft, Politik, Bildung) Soziale Teilhabe/ In-/Exklusion der soziologische Inklusionsbegriff stammt aus einer sozialrechtlichen Theorielinie, die Rechte über Teilhabe/Partizipation definiert ( citizenship ) in dieser Theorielinie bezeichnet Inklusion den Zugang zu materiellen, kulturellen, sozialen und rechtlichen Ressourcen parallel ist der Exklusionsbegriff in Frankreich und den USA vor dem Hintergrund der sozialen Marginalisierung breiter sozialer Gruppen gebraucht worden ( les exclus ) in der europäischen Sozialpolitik hat sich daraus ein Anspruch auf Inklusion entwickelt 4
5 Die ursprüngliche Zielsetzung: Gemeindepsychiatrie und soziale Integration "Gemeindepsychiatrie bedeutet (...) idealtypisch eine psychiatrische 'Intervention' im Lebenskontext, unter Berücksichtigung von sozialen Faktoren und unter Benutzung von sozialen Beziehungen, und mit der Perspektive der sozialen Eingliederung in das Alltagsleben einer Gemeinschaft." Rudolf Forster: Psychiatriereformen zwischen Medikalisierung und Gemeindeorientierung: Eine kritische Bilanz. Opladen: Westdeutscher Verlag 1997, S. 22 Überwiegende aktuelle Arbeitstätigkeit/ Tagesstruktur DE Bewohnende verschiedener Wohnsettings 2011 Prozent DE (N=1829) stat. stat. stat. amb. WG amb. Familien Gesamt geschl. offen Einzelw. Einzelw. Pflege erster Arbeitsmarkt Zuverdienst keine
6 Aktuell bestehende Partnerschaft (Psychische Behinderung); 2011 Prozent DE ,9 13,02 10,94 20,47 20,85 7,69 14,95 Auf wie viele Freunde können Sie sich im Ernstfall verlassen? 2011 Prozent DE (N=1573) 100,0 90,0 80,0 70,0 60,0 50,0 40,0 30,0 20,0 10,0 0,0 15,8 43,5 23,1 48,5 keine 12,8 55,3 ein bis zwei 21,2 39,4 58,8 13,6 12,1 32,8 17,7 48,3 6
7 Soziale Bereiche mit Exklusionsrisiko Arbeit und Einkommen berufliche Bildung soziale Netzwerke (Freunde und Bekannte) Partnerschaft, Intimität und Sexualität Freizeit- und Konsumverhalten Zugang zu elektronischen Medien politische Partizipation individuelle Rechte körperliche Gesundheit individuelle Anerkennung (Stigma) Stigma im Zeitverlauf Akzeptanz als Arbeitskollege Akzeptanz als Nachbar/in Schomerus G et al: Evolution of public attitudes about mental illness: A systematic review and meta-analysis. Acta Psychiatrica Scandinavica 125 (2012),
8 Soziologische Modelle sozialer Teilhabe Sozialintegration Inklusion Worauf basiert ein 'erfolgreiches' Leben in der modernen Gesellschaft? "In der individualisierten Gesellschaft muss der Einzelne (...) bei Strafe seiner permanenten Benachteiligung lernen, sich selbst als Handlungszentrum, als Planungsbüro in bezug auf seinen eigenen Lebenslauf, seine Fähigkeiten, Orientierungen, Partnerschaften usw. zu begreifen." Ulrich Beck: Risikogesellschaft: Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1986, S
9 Exklusion durch Eigenlogik der sozialen Teilsysteme die Bedingungen der Teilhabe werden aus den Teilsystemen heraus definiert, nicht aus Sicht ihrer Umwelten (oder gar bedürftiger Individuen) im Wandel der Teilsysteme werden soziale Lasten auf die Umwelt und die Individuen abgewälzt der ökonomische Druck führt zur Vernachlässigung und Exkludierung sozialer Härtefälle; zunehmende Temporalisierung von Beschäftigungsverhältnissen die hohe Temporalisierung intimer Beziehungen zwingt zur permanenten Neu-Orientierung; Folge: Exklusion von nicht-marktfähigen Individuen Richter D: Psychisches System und soziale Umwelt: Soziologie psychischer Störungen in der Ära der Biowissenschaften. Bonn 2003: Psychiatrie-Verlag Inklusion durch Anschlussfähigkeit eine 'gelungene' Lebens-Karriere besteht soziologisch aus adäquaten Selbstselektionen des Individuums und Fremdselektionen der sozialen Umwelt: adäquate Angebote an potenzielle Partner, Arbeitgeber etc. (Selbstselektion) Auswahl durch Partner, Arbeitgeber etc. die auf der Attraktivität des Angebots für diese beruht (Fremdselektion) über die tatsächliche Inklusion entscheidet die Anschlussfähigkeit des Angebots! Richter D: Psychisches System und soziale Umwelt: Soziologie psychischer Störungen in der Ära der Biowissenschaften. Bonn 2003: Psychiatrie-Verlag 9
10 Das grosse Problem in diesem Zusammenhang......besteht in der deutlich geringer ausgeprägten Adaptionsfähigkeit psychisch kranker Menschen an den sozialen Wandel, bedingt durch Behinderungen kognitive Inflexibilität Ausbildungsdefizite biografische Defizite (unbewältigte Lebensaufgaben) z.t. inadäquates Sozialverhalten (Aussehen, Zeitmanagement, Suchtmittelkonsum etc.) Motivationsmangel und soziale Ängste soziale Diskriminierung Sozialintegration in Psychiatriegemeinde die zeitgenössische Gemeindepsychiatrie hat einen relativ hohen Grad der Sozialintegration für Betroffene in die Psychiatriegemeinde erreicht die systemische Inklusion in Bildung, Wirtschaft (Arbeit), Recht etc. ist bisher nur schwach ausgeprägt in Teilen hat sich ein ambulantes Ghetto entwickelt 10
11 Gehen Sie ins Kino, Disco, Veranstaltungen? jede Woche/jeden Monat - Prozent , ,7 13,46 20,34 16,23 22,39 22, Ich verfüge über ausreichend Geld Stimme (eher) zu - Prozent ,86 53,97 48,72 63,08 46, ,37 33,
12 Cochrane Review Supported Housing Version 2008, Zusammenfassung Dedicated schemes whereby people with severe mental illness are located within one site or building with assistance from professional workers have potential for great benefit as they provide a 'safe haven' for people in need of stability and support. This, however, may be at the risk of increasing dependence on professionals and prolonging exclusion from the community. Whether or not the benefits outweigh the risks can only be a matter of opinion in the absence of reliable evidence. There is an urgent need to investigate the effects of supported housing on people with severe mental illness within a randomised trial. Stand der Forschung zur Exklusionsrisiko durch geschützte Arbeitsplätze Dass Werkstätten (WfBM) auch für seelisch behinderte Menschen in Deutschland flächendeckend und mit hohen Kapazitäten vorhanden sind, muss teilweise kritisch gesehen werden: Rehabilitation und Wiedereingliederung in den ersten Arbeitsmarkt findet dort nur ausnahmsweise statt. Die Mehrzahl der Werkstattbesucher findet sich diesbezüglich in einer exkludierenden und institutionalisierten Sackgasse (auch wenn solche Angebote sicherlich für einzelne Teilnehmer Schutz und Hilfe bedeuten). Brieger P, Hoffmann H: Was bringt psychisch Kranke nachhaltig in Arbeit? Supported employment vs. pre-vocational training. Nervenarzt 83 (2012),
13 Risiko der Berentung für Menschen mit einer Diagnose Schizophrenie ; Dänemark 1980er/1990er-Jahre Agerbo, E. et al. Arch Gen Psychiatry 2004;61: Soziale Inklusion Der aktuelle Forschungsstand 13
14 Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK) nach langjährigen Diskussionen unter Beteiligung von Behinderten-Organisationen erarbeitet Internationales Recht, das in vielen Ländern erst durch Umsetzung in staatliches Recht Rechtskraft entfalten kann die Schweiz ist im April 2014 der Konvention beigetreten findet in Deutschland schon jetzt bei höchstrichterlichen Entscheiden Berücksichtigung aufgrund der z.t. sehr kontroversen Diskussionen nicht in jedem Fall konsistente und klare Inhalte UN BRK Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik traditionelle Behindertenpolitik sah behinderte Menschen als Personen mit Anrechten für Unterstützung, damit sie besser in der Gesellschaft zurecht kommen UN BRK stellt auf einen Menschenrechtsansatz um: Menschen mit Behinderungen haben das gleiche Recht zur sozialen Teilhabe wie Menschen ohne Behinderungen Menschen mit Behinderungen sind nicht mehr Objekte einer karitativen Politik, sondern Subjekte, die mit (sozialen) Menschenrechten ausgestattet sind 14
15 UN-Behindertenrechtskonvention Artikel 1 Nicht-Diskriminierung Zweck dieses Übereinkommens ist es, den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die Achtung der ihnen innewohnenden Würde zu fördern. Soziales Modell der Behinderung Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige und Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigen Teilhabe an der Gesellschaft hindern können. Inklusion als Folgerung aus der UN- Behindertenrechtskonvention Ziele: unabhängige Lebensführung und die volle Teilhabe in allen Lebensbereichen Art. 9 Arbeit und Beschäftigung: das Recht auf die Möglichkeit, den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, die ( ) frei gewählt oder angenommen werden kann. Art. 27 das gleiche Recht ( ) auf gerechte und günstige Arbeitsbedingungen, einschliesslich Chancengleichheit und gleichen Entgelts für gleichwertige Arbeit Art. 27 wirksamen Zugang zu allgemeinen fachlichen und beruflichen Beratungsprogrammen, Stellenvermittlung sowie Berufsausbildung und Weiterbildung Art
16 Soziale Inklusion durch Abbau von Barrieren die Perspektive der Theorie der Behinderung Eigentlich funktioniert Inklusion ganz einfach: Jeder Mensch mit Psychiatrie-Erfahrung oder einer Benachteiligung welcher Art auch immer soll die Wahl haben, dort zu leben, zu wohnen, zu arbeiten und zu lernen, wo alle anderen Menschen es auch tun. Normalitäts-Anspruch in jedem Lebensbereich Spezialinstitutionen wie Wohnheime, Werkstätten und Kliniken wirken exkludierend Steinhart I: Teilhabe für alle im Quartier Herausforderungen für die Sozialpsychiatrie. In: Aktion Psychisch Kranke (Hg.): Psychiatriereform 2011 Der Mensch im Sozialraum. Bonn: APK 2012, Capabilitites-Ansatz (Amartya Sen): Stärkung der Verwirklichungschancen Gleichheit/Ungleichheit in einer Gesellschaft bemisst sich nicht objektiv nach Ressourcen, sondern daran, welche Chancen zur Verwirklichung eines guten Lebens nach eigener Wahl bestehen die Verwirklichungschancen bestimmen über die reale Freiheit eines Menschen auch die Freiheit der Auswahl (Choice) auf gesellschaftlicher Ebene müssen die Voraussetzungen zur individuellen Befähigung geschaffen werden Sen A: Inequality Reexamined. Cambridge, MA: Harvard UP
17 Anschlussfähigkeit Anschlussfähigkeit kann sowohl vom sozialen Umfeld als auch vom Individuum her verbessert werden soziales Umfeld kann inklusiver gestaltet werden politische, rechtliche und finanzielle Anreize können unterstützen Individuum kann besser auf die Anschlussvoraussetzungen vorbereitet werden Motivation kann gesteigert werden finanzielle Anreize können unterstützen Community Reinforcement Approach Integration vs. Inklusion Integration zielt primär auf die Eingliederung benachteiligter Personengruppen in bestehende normale soziale Systeme train, then place (z.b. in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen, Wohnheimen für psychisch kranke Menschen) Inklusion zielt primär auf die gegenseitige Anpassung von sozialer Umgebung und Individuum, indem die Person im normalen Umfeld unterstützt wird place, then train (z.b. im Supported Employment/Job Coaching bzw. im Wohn-Coaching) 17
18 Inklusion umsetzen Top down oder bottom up? Anpassung der Sozialsysteme soweit möglich z.b. Supported Employment Selbstbefähigung der Person Soziale Inklusion: Wie umsetzen? Wahlmöglichkeiten erhöhen (Choice!); Inklusion darf nicht zur Norm werden Sozialsysteme inklusiv ausrichten soweit möglich Betreuungsansatz folgt einen Coaching-Verständnis: Der Klient/die Klientin ist primär für die Umsetzung verantwortlich; er/sie wird dabei beraten und gestützt Behandlungs- und Betreuungsmöglichkeiten ausserhalb traditioneller Sonderwelten ausbauen (Achtung: Risiko Ambulantes Ghetto) Risiken eingehen (positive risk taking) 18
19 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Soziale Inklusion/Exklusion ist ein relativ neues Thema mit heterogenem theoretischen Hintergrund aktueller Forschungsstand: wir wissen viel über Exklusion, aber wenig über Strategien zur Inklusion einzige, bis anhin empirisch gesicherte Inklusions- Strategie: Supported Employment UN BRK stellt die Versorgungslandschaft für behinderte Menschen vor erhebliche Herausforderungen Inklusionsstrategie zielt auf die gegenseitige Anpassung von betroffener Person und sozialem Umfeld Danke für Ihre Aufmerksamkeit Dr. phil. habil. Dirk Richter Berner Fachhochschule Fachbereich Gesundheit 19
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