Formwahrnehmung bei Säuglingen
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- Clara Hase
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1 PSYCHOLOGISCHES INSTITUT DER UNIVERSITÄT BONN Abt. Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie Römerstr. 164, D Bonn DFG-Forschungsprojekt WAHR Wahrnehmungsentwicklung in der frühen Kindheit Priv.-Doz. Dr. Michael Kavšek Die Entwicklung des räumlichen Sehens im ersten Lebensjahr Ergebnisse aus den DFG-Forschungsvorhaben Formwahrnehmung bei Säuglingen und Wahrnehmungsentwicklung in der frühen Kindheit Förderung: Deutsche Forschungsgemeinschaft Projektleiter: PD Dr. Michael Kavšek Tel.: Fax: Wissenschaftliche Mitarbeiterin: Laura Hemker, M.A. Tel.: Studentische Hilfskräfte: Frau cand. psych. Margarete Kloss Frau cand. psych. Catharina Degenhardt Frau cand. psych. Julia Niehl Frau cand. psych. Sabrina Blawath Frau cand. psych. Hyeri Kim 1
2 1. Über die Fähigkeiten von Säuglingen Während die Entwicklung der visuellen Wahrnehmung im ersten Lebensjahr vor allem im angloamerikanischen Sprachraum bereits seit Jahrzehnten ein etabliertes Forschungsfeld darstellt, wird sie in der deutschsprachigen Psychologie erst seit einigen wenigen Jahren intensiver behandelt. Die breite Aufmerksamkeit, die Darstellungen empirischer Befunde zum visuellen Leistungsvermögen von Kleinstkindern erregen, ist vor dem Hintergrund traditioneller Auffassungen zu sehen. Lange Zeit nämlich war das Bild vom dummen ersten Vierteljahr, vom Säugling als bloßem Triebwesen und Reflexbündel weit verbreitet. Man ging allgemein davon aus, daß die Wahrnehmungswelt von Babys konfus und chaotisch ist, und daß sich das Erkennen von Gegenständen und Personen erst in einem langen Prozeß entwickelt. Wissenschaftliche Untersuchungen konnten jedoch mittlerweile diese Vorurteile widerlegen. Nachdem in den 60er Jahren neue Untersuchungsverfahren in die Säuglingsforschung eingeführt wurden, die schnell und einfach zu handhaben sind, begann ein bis heute anhaltender Forschungsboom. Die Verfahren haben zu erstaunlichen Erkenntnissen geführt. Man weiß jetzt, daß die Fähigkeiten von Säuglingen weit unterschätzt wurden. So entwickelt sich beispielsweise das Sehen sehr viel schneller entwickelt, als man früher vermutet hat: Schon Neugeborene können Farben unterscheiden. Sie erkennen das Gesicht ihrer Mutter wieder und blicken es lieber an als das Gesicht einer fremden Person. Eine weitere Wahrnehmungsleistung, auf die englische Psychologen vor einigen Jahren bei Neugeborenen gestoßen sind, ist die Fähigkeit zu erkennen, daß ein Objekt dieselbe Größe und Form hat, egal, in welcher Entfernung und in welcher räumlichen Lage es sich befindet. Dieses Ergebnis belegt, daß die Phänomene der Größenkonstanz" sowie der Formkonstanz angeborene Leistungen sind. Im Verlaufe des ersten Lebensjahres erwerben Säuglinge aber noch eine Vielzahl weiterer Fähigkeiten. Beispielsweise verbessert sich rapide die Raumwahrnehmung, d.h. die Fähigkeit, die Richtung und die Distanz von Objekten von der eigenen Person weg einschätzen zu können. 2. Ziele des Projekts Hauptsächliches Anliegen unseres Forschungsvorhabens ist die Aufdeckung der Entwicklung der Objekt- und Distanzwahrnehmung im ersten Lebensjahr. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Entstehung der Sensitivität für bildhafte und kinetische Tiefensignale. Bildhafte Tiefensignale sind Hinweise, mit deren Hilfe wir Entfernungen auf Bildern ablesen, kinetische Tiefensignale zeigen uns unterschiedliche Distanzen in sich bewegenden Umweltszenen an. Speziell haben wir uns bislang die folgenden Fragen gestellt: Ab welchem Alter erkennen Säuglinge Tiefenhinweise, welche die dreidimensionale Struktur von Objekten beschreiben? Ab wann können Säuglinge dreidimensionale Objekte auf der Basis bildhafter und kinetischer Tiefensignale voneinander unterscheiden? Nehmen Säuglinge Wahrnehmungstäuschungen (z.b. subjektive Konturen) wahr? Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Weiterentwicklung der von uns eingesetzten Untersuchungsmethode, der Habituations-Dishabituationstechnik, da diese das zur Zeit gängigste experimentelle Verfahren ist. Ziel dabei ist die Gewinnung von Erkenntnissen, die nicht nur grundlegende theoretische Probleme lösen, sondern darüber hinaus Anhaltspunkte für die Diagnostik und Behandlung von Wahrnehmungsstörungen geben. Mittlerweile haben wir einige Untersuchungen durchgeführt, von denen wir Ihnen eine Auswahl hier vorstellen. 2
3 3. Die Röhre -Studie Bei der Röhre -Studie haben wir uns für die Frage interessiert, ab welchem Alter Säuglinge diejenigen Linien erkennen, die in der zeichnerischen Abbildung eines Objektes dafür sorgen, das wir dieses als dreidimensional wahrnehmen. In der Abbildung 1 geben Erwachsene spontan an, auf der linken Seite zwei zylindrische Objekte, auf der rechten Seite jedoch zwei flache, zweidimensionale Gegenstände zu sehen. Verantwortlich für den räumlichen Eindruck der links eingezeichneten Objekte sind die Linien, die mit den durchgezogenen schwarzen Pfeilen markiert sind; sie stellen Oberflächenränder dar. Hingegen sind die Linien, die mit den gepunkteten Pfeilen gekennzeichnet sind, das sind sogenannte Oberflächenkonturen, für die Dreidimensionalität der Objekte weniger wichtig. Die bisherigen Ergebnisse zu der Frage, ab welchem Alter Babys die räumliche Bedeutung der angesprochenen Linien erfassen, sind uneinheitlich. Einige Untersuchungen sprechen dafür, daß schon 4 Monate alte Säuglinge hierzu in der Lage sind, andere Untersuchungen sprechen erst 7-8 Monate alten Babys diese Fähigkeit zu. Abbildung 1 Um diese Frage zu entscheiden, haben wir 5 und 8 Monate alte Säuglinge untersucht. Unsere Vorgehensweise, die typisch ist auch für unsere anderen Untersuchungen, besteht darin, das Baby zunächst an ein Bild zu gewöhnen und ihm dann zwei weitere Bilder zu zeigen. In dem Vorgang der Gewöhnung an das erste Bild bauen die Kinder ein Gedächtnisbild des dargestellten Gegenstandes auf. Wenn dann neue Bilder vorgelegt werden, vergleichen die Kinder das Gedächtnisbild mit diesen neuen Reizen und reagieren überrascht auf dasjenige Bild, in dem sie eine wesentliche Abweichung wahrnehmen. Den Grad der Überraschung lesen wir aus der Zeitdauer ab, über die hinweg ein Baby den Reiz betrachtet; je länger die Anblickzeit, desto überraschter das Baby, d.h. desto deutlicher ist ihm der Unterschied zu dem Objekt aus der ersten Phase der Untersuchung aufgefallen. Ein Teil der Kinder, die an dieser Studie teilgenommen haben, wurde an die Röhre oben links gewöhnt. Anschließend sahen diese Kinder die beiden Objekte unten links und unten rechts. Beide Objekte weichen darin von dem Gewöhnungsgegenstand ab, daß sie eine Linie weniger besitzen. Die Wegnahme der Oberflächenkontur aus dem Gewöhnungsgegenstand führt zu dem Objekt unten links und verändert nichts an dem Eindruck, eine Röhre zu sehen. Die Entfernung des Oberflächenrandes aus dem Gewöhnungsobjekt aber führt zu dem unten rechts dargestellten Reiz und hat zur Folge, daß man hier nun keinen drei-, sondern nur noch einen zweidimensionalen Gegenstand sieht. Unser Ergebnis war, daß alle Babys, d.h. sowohl die 5 wie auch die 8 Monate alten Kinder, gleichermaßen überrascht auf beide neuen Reize reagierten. Die 8 Monate alten Kinder jedoch waren überraschter, wenn sie den zweidimensionalen Gegenstand (unten rechts) sahen. Offensichtlich erkennen also alle Kinder, daß die beiden Testobjekte unten links und unten rechts infolge des Fehlens einer Linie gegenüber dem Gewöhnungsgegenstand verändert sind. Aber nur die 8 Monate alten Babys nehmen wahr, daß die Wegnahme derjenigen Linie, die einen Oberflächenrand signalisiert, zugleich einen Wechsel von einem drei- hin zu einem zweidimensionalen Objekt (unten rechts) bedeutet. Wir haben auch die Gegenprobe durchgeführt: In dieser wurden Säuglinge an das Objekt oben rechts gewöhnt, das einen zweidimensionalen Umriß darstellt. Wieder wurden anschließend die beiden unten in der Abbildung 1 aufgeführten Reize dargeboten. Beide Reize unterscheiden sich von dem Gewöhnungsobjekt nun dahingehend, daß nicht jeweils eine 3
4 Linie weggenommen, sondern hinzugefügt ist. Der neuere, d.h. der stärker veränderte der Reize ist nun der unten links gezeigte, denn dieser ist nicht wie das Gewöhnungsobjekt zwei-, sondern dreidimensional; der andere Testreiz (unten rechts) besitzt dieselbe (Zwei-)Dimensionalität wie der Gewöhnungsreiz. Wieder reagierten alle Kinder auf beide Testreize überrascht, wobei sich erneut nur die 8 Monate alten Kinder auf den Wechsel der Dimensionalität (unten rechts) hin überraschter zeigten. Alles in allem konnten wir mit diesen Ergebnissen demonstrieren, daß die Behauptung, die Sensitivität für in unbewegten bildhaften Darstellungen versteckte Tiefenhinweise ( bildhafte Tiefensignale ) entstehe um 4 Lebensmonate herum, falsch zu sein scheint. Diese Fähigkeit läßt sich vielmehr erst ab einem Alter von 7 bis 8 Monaten beobachten. Die nächste Fragestellung, mit der wir uns auseinandergesetzt haben, war, ob Säuglinge nicht nur die Räumlichkeit von Objekten in einem Bild an sich wahrnehmen, sondern ob sie darüber hinaus auch die genaue dreidimensionale Form unterschiedlicher Objekte voneinander unterscheiden können. 4. Die Quader versus Zylinder -Studie In dieser Studie haben wir 7 und 9 Monate alte Babys untersucht. Auch hier gab es wieder eine Gewöhnungsphase und eine zweite Phase, in der zwei neue Objekte dargeboten wurden. Alle Objekte wurden wieder in Form von unbewegten Bildern gezeigt. In der ersten Phase wurde den Kindern ein Quader oder ein Zylinder in unterschiedlichen Orientierungen vorgeführt; anschließend sahen sie das gewohnte Objekt in einer neuen Orientierung sowie den jeweils anderen Gegenstand. Ein Beispiel findet sich in der Abbildung 2: Im oberen Teil der Abbildung erkennt man einen Quader in verschiedenen Ausrichtungen, die nacheinander dem Kind in der Gewöhnungsphase gezeigt wurden. Im Test wurden die unteren beiden Objekte dargeboten. Der Orientierungswechsel des Gewöhnungsobjektes diente dazu, die Kinder von den zweidimensionalen Eigenschaften dieses Objektes abzulenken bzw. ihre Aufmerksamkeit auf die Tatsache der Dreidimensionalität des Objektes hinzulenken. Wenn, dies war unsere Vermutung, die Kinder die Unterschiedlichkeit der Testobjekte erkennen können, dann sollten sie in der Testphase das jeweils neue Objekt länger anschauen. Unser Ergebnis zeigte, daß dies für die 9, nicht aber für die 7 Monate alten Babys der Fall war. Abbildung 2 Interessant ist ein Vergleich dieses Resultats mit den Befunden aus der ersten Studie. Die erste Studie ergab, daß 7-8 Monate alte Babys in der Lage sind, die Räumlichkeit von Objekten wahrzunehmen, die in Form von Abbildungen dargeboten werden. Allerdings sind, und dies ist das Ergebnis der zweiten Studie, Kinder dieser Altersgruppe noch nicht dazu fähig, dreidimensionale Objekte voneinander zu unterscheiden, d.h. sie haben Schwierigkeiten, Objekte in ihrer genauen dreidimensionalen Form zu erkennen und auseinanderzuhalten. Diese Fertigkeit ist erst 2 Monate später, also mit 9 Lebensmonaten, nachweisbar. 4
5 5. Die subjektive Kontur -Studien Formwahrnehmung bei Säuglingen Auf der Basis der ersten beiden Studien haben wir unser Interesse etwas komplexeren Wahrnehmungsleistungen zugewandt. Wir wollten nun wissen, ob Säuglinge die im Alter von 7-8 Monaten auftauchende Fähigkeit, bildhafte Tiefensignale zu interpretieren, dazu verwenden können, sogenannte subjektive Konturen zu entschlüsseln. Erwachsene berichten bei Betrachtung des Reizes a in der Abbildung 3 in der Regel, in der Mitte des Gesamtreizes eine Ellipse wahrzunehmen, die auf den Linien aufliege. Tatsächlich ist diese Ellipse als vollständige Figur nicht vorhanden; unser Sehapparat ergänzt die Lücken zwischen den Linien derart, daß wir den Eindruck gewinnen, eine elliptische Form wahrzunehmen. Da diese Form faktisch nicht vorhanden ist, spricht man auch von einer Wahrnehmungstäuschung bzw. von einer subjektiven Kontur. Auch diese Täuschung beruht auf bildhaften Tiefenhinweisen: Wenn die weiße Ellipse auf den Linien scheinbar aufliegt, bedeutet dies nichts anderes, als daß die Punkte, an denen die Linien an der vermeintlichen Ellipse enden, einen Tiefenunterschied eben zwischen den Linien und der Ellipse signalisieren. Abbildung 3 Die Babys, die für diese Studie untersucht wurden, waren entweder 5 oder 7 Monate alt. Wir erwarteten, daß nur die älteren Säuglinge die subjektive Kontur (a) wahrnehmen sollten, da die Fertigkeit, auf bildhafte Distanzhinweise zu reagieren, ja erst um ca. 7 Monate herum entsteht. Die Ergebnisse bestätigten unsere Erwartung: 7, nicht aber 5 Monate alte Babys erkannten den Unterschied zwischen den Reizen a und b. Der Reiz b enthält keine subjektive Kontur, da hier die Linien so verschoben sind, daß diese zerstört ist. Ein Einwand gegen diese Studie jedoch ist, daß es sein könnte, daß die 7 Monate alten Säuglinge nicht auf das Verschwinden der subjektiven Kontur im Reiz b reagierten, sondern die Reize a und b einfach deswegen als unterschiedlich ansahen, weil die Linien verschoben waren. Deswegen haben wir eine Kontrollgruppe von 7 Monate alten Babys mit den Reizen b und c getestet. Auch diese Reize unterscheiden sich dadurch, daß die Linien verschoben sind, wobei der Unterschied in den Verschiebungen genau so gestaltet war wie die entsprechenden Verschiebungen zwischen a und b, also wie für die Hauptgruppe. Eine subjektive Kontur ist jedoch weder in b noch in c vorhanden. Wenn die Kinder in der Hauptgruppe nur auf die Unterschiedlichkeit in der Position der Linien reagieren (a versus b), dann sollten die Kinder der Kontrollgruppe auch die Reize b und c unterscheiden. Wenn die Kinder in der Hauptgruppe jedoch die Reize a und b deswegen als verschieden wahrnehmen, weil in a eine subjektive Kontur vorliegt, in b hingegen nicht, dann sollten die Babys in der Kontrollgruppe die Reize b und c nicht unterscheiden können. Genau dies trat ein: Die Reize b und c wurden von 7 Monate alten Kindern nicht unterschieden. In einer Nachfolgeuntersuchung konnten wir jedoch Bedingungen finden, unter denen sogar 4 Monate alte Babys die Ehrensteinfigur erkennen: Vor allem müssen die Reize dafür sehr klein sein. Dieses Ergebnis steht im Einklang mit neueren neurophysiologische Modellvorstellungen. Nach diesen Vorstellungen funktioniert der im visuellen Kortex angesiedelte Mechanismus, der für die Entdeckung subjektiver Konturen verantwortlich ist, um so besser, je kleiner die Lücken zwischen den Linien in der Abbildung 3a sind. Offensichtlich ist dieser Mechanismus bei 4 Monate alten Säuglingen noch wenig ausgereift, vermag aber dennoch, eine subjektive Kontur zu identifizieren, solange das Reizmaterial ausreichend klein ist. 5
6 Auch in einer anderen Untersuchung konnten wir das Alter, ab dem subjektive Konturen, hier das Kanizsa-Quadrat (siehe Abbildung 4), wahrgenommen werden, nach unten auf 4 Monate korrigieren. Dieser Reiz war insofern anders beschaffen, als daß er nicht unbeweglich war, sondern auf einem Computermonitor hin und her wanderte. Sich bewegende Objekte besitzen den Vorteil, daß sie die Aufmerksamkeit von Säuglingen leicht auf sich ziehen. Tatsächlich führte die Bewegung dazu, daß 4 Monate alte Babys das subjektive Quadrat in der Abbildung 4 wahrnahmen. Abbildung 4 6. Die Kugel -Studie Bei der Kugel -Studie geht es um die Frage, ob nicht doch auch Oberflächenkonturen die Dreidimensionalität von Objekten spezifizieren können, obwohl sie in der Röhre -Studie als hierfür weniger wichtig herausgestellt worden waren. In der Abbildung 5 erkennt man in den Zeichnungen a und b die Darstellungen von Kugeln. Dreht man die dunklen Elemente, d.h. die Oberflächenkonturen, auf diesen Kugeln, dann wird der Eindruck von Dreidimensionalität zerstört (Zeichnungen c und d). Nachdem uns unsere Studie mit dem subjektiven Kanizsa-Quadrat gezeigt hatte, daß die Einbindung der Wahrnehmungsreize in einen Bewegungsablauf dazu führt, daß auch jüngere Kinder bildhafte Tiefenhinweise erkennen, beschlossen wir, die kreisförmigen Objekte dieser Studie auf einem Bildschirm hin und her rollen zu lassen und 4 Monate alte Säuglinge zu untersuchen. Der Hauptbefund der Studie bestand darin, daß zwar die weiblichen, nicht aber die männlichen Säuglinge die Unterschiedlichkeit der Reize wahrnahmen. Abbildung 5 Derzeit wird untersucht, ob Säuglinge nur die Drehungen der dunklen Elemente auf den Kugeln an sich oder aber zusätzlich auch den damit einhergehenden Wechsel in der Dimensionalität (zwei- versus dreidimensional) wahrnehmen. An der Studie nehmen sowohl 5 als auch 7 Monate alte Babys teil. 7. Die Balken -Studie Zum einen wird hier wieder die Fähigkeit untersucht, Tiefensignale wahrzunehmen, wobei nicht nur bildhafte, sondern auch kinematische, d.h. mit Bewegung verbundene Distanzsignale Verwendung finden. In der Abbildung 5a sehen die meisten Erwachsenen einen hellen vertikalen 6
7 Balken, der hinter einem schwarzen Balken liegt, d.h. sie gehen davon aus, daß ein Teil des hellen Balkens verdeckt ist. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn man den hellen Balken hin und her bewegt, d.h. kinematische Distanzsignale hinzufügt. Dies führt zum zweiten Teil unserer Fragestellung, d.h. zu dem Problem, ob auch Säuglinge die hellen sichtbaren Teilelemente als zusammengehörig ansehen, d.h. ob sie nicht nur den Tiefenunterschied zwischen dem schwarzen und dem hellen Balken erkennen, sondern ob sie auch die Verbundenheit der hellen Teilbalken wahrnehmen. 4, 5 und 6½ Monate alte Säuglinge haben trotz der zusätzlichen kinematischen Distanzsignale bei dieser Aufgabe Schwierigkeiten, d.h. sie sind unsicher, ob bei Wegnahme des schwarzen Balkens die Abbildung 6b oder 6c erscheint. Bei einer weiteren Gruppe von 8 und 9 Monate alten Säuglingen haben wir jedwede Bewegung weggelassen. Unter dieser Bedingung gaben nur die weiblichen 9 Monate alten Kinder durch ihr Blickverhalten zu erkennen, daß sie wie wir Erwachsenen den durchgängigen hellen Balken (Abbildung 6c) erwarten würden, d.h. sie reagierten überrascht, wenn der unterbrochene Balken (Abbildung 6b) zu sehen war. Abbildung 6a Abbildung 6b Abbildung 6c 8. Die Kreise -Studie Der Fragestellung, ob Säuglinge teilweise verdeckte Objekte ergänzen können, sind wir noch weiter nachgegangen: Mit der in der Abbildung 7a dargestellten Reizkonfiguration läßt sich ü- berprüfen, ob die direkt neben dem schwarzen Balken plazierten Halbkreise eben als Halbkreise oder aber als teilweise von dem Balken abgedeckte vollständige Kreise wahrgenommen werden. Die links und rechts in der Figur zusätzlich eingetragenen Halb- (links) und vollständigen Kreise (rechts) dienen als Kontextreize, d.h. als zusätzliche Hinweise über die Form der mittleren Halbkreise nach Wegnahme des schwarzen Balkens. Auch hier geht es wieder um die Wahrnehmung von Tiefe: Wenn die Babys davon ausgehen, daß der schwarze Balken die daneben liegenden kreisförmigen Elementen überlagert, dann sollte seine Entfernung in dem Reiz 7c resultieren. In diesem Falle haben die Säuglinge einen Tiefenunterschied zwischen dem Balken und den angrenzenden vermeintlichen Halbkreisen wahrgenommen und diese Halbkreise zu kompletten Kreisen vervollständigt. Liegt die beschriebene Fähigkeit nicht vor, so sollte die Wegnahme des Balkens in dem Reiz 7b resultieren. 7
8 Abbildung 7 a b c Da weder 5 noch 7 Monate alte Säuglinge in der Konfrontation mit der Konfiguration in der Abbildung 7a eine eindeutige Leistung zeigten, wurden in weiteren Bedingungen die Kontextreize verändert. In einer Bedingung bestanden sie nur aus Halbkreisen, während sie in einer weiteren Bedingung durchweg ganze Kreise waren. Interessanterweise nahmen 7, nicht aber 5 Monate alte Säuglinge eine Vervollständigung der zentralen kreisförmigen Elemente vor, wenn alle Kontextreize vollständige Kreise waren. Dies weist darauf hin, daß sie bei der Interpretation der zentralen Elemente auf den Kontext achteten und verwirrt waren, sobald dieser auch Halbkreise enthält. Sobald aber alle Kontextelemente aus kompletten Kreisen bestehen, wurde die Situation für sie eindeutig und sie gingen davon aus, daß die zentralen Elemente von dem Balken teilweise abgedeckt werden und in Wirklichkeit ganze Kreise sind. Anders verhielten sich 5 Monate alte Babys: Die eindeutigste Situation war für sie diejenige, in der alle Kontextelemente Halbkreise waren. Hier gingen sie davon aus, daß auch die zentralen Elemente Halbkreise sind. Auch sie achteten also auf den Kontext, waren jedoch im Gegensatz zu 2 Monate älteren Kindern noch nicht in der Lage, die Halbkreise in der Mitte als von dem dunklen Balken teilweise abgedeckt wahrzunehmen. 10. Fazit Unsere Forschungsarbeiten, die nunmehr seit fast 8 Jahren durchgeführt werden, können wir insgesamt gesehen als überaus fruchtbar und aufschlußreich bewerten. Wir haben mehrere neue Forschungsansätze eingeführt und die unterschiedlichsten neuen Ergebnisse herausgefunden, mit denen wir auch in Fachzeitschriften und auf Kongressen vertreten sind. Wir möchten all den Kindern und ihren Eltern danken, ohne die unsere Untersuchungen nicht möglich gewesen wären. Die Arbeit gerade mit Säuglingen macht unsere Studie interessant und immer wieder spannend. Bonn, im Juni 2003 Stand: Juni 2003 elterninfo2.doc 8
Die Entwicklung des räumlichen Sehens im ersten Lebensjahr Ergebnisse aus dem DFG-Forschungsvorhaben Wahrnehmungsentwicklung in der frühen Kindheit
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