Handlungsbedarf bei Vorsorge- und Früherkennungsmedizin
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- Philipp Tomas Beltz
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1 Handlungsbedarf bei Vorsorge- und Früherkennungsmedizin Studie zu Darmkrebs-Screening: Gesundheitliche Vorteile und Sparpotenzial In der modernen Medizin zählen Vorsorge-Screenings zu den wichtigsten Fortschritten im Interesse der Gesundheit. Doch leider sind wir hier mit einer Reihe von gesundheitspolitischen Baustellen konfrontiert. Wir Ärzte gewinnen den Eindruck, dass die Gesundheitspolitik Vorsorgeuntersuchungen häufig als lästigen Kostenfaktor sieht. Etwa indem sie erfolgreiche und bewährte regionale Programme nicht ausweitet, sagte der Obmann der Bundeskurie niedergelassene Ärzte und Vizepräsident der Österreichischen Ärztekammer (ÖÄK), Johannes Steinhart, am Dienstag anlässlich einer Pressekonferenz zum Darmkrebsmonat März Die ÖÄK hat deshalb eine Studie in Auftrag gegeben, die den potenziellen gesundheitlichen und wirtschaftlichen Nutzen eines österreichweiten Dickdarmkrebs-Screening-Programms belegt. Basis für die Studie ist das in Vorarlberg seit 2007 sehr erfolgreich durchgeführte Darmkrebs-Vorsorgeprogramm. Dickdarmkrebs zählt zu den häufigsten und gefährlichsten Krebserkrankungen in den Industrienationen. Jedes Jahr erkranken in Österreich bis zu 5133 Menschen daran, sagte der Präsident der Ärztekammer für Vorarlberg und Facharzt für Gastroenterologie und Hepatologie, Michael Jonas. Vor Einführung der Darmkrebs- Vorsorgeuntersuchung mittels Darmspiegelung ist jeder zweite Neuerkrankte an den Folgen gestorben. Ziel der Koloskopie sei es, jeden Polypen zu entfernen und dadurch den Darmkrebs vorsorglich zu verhindern, oder in einem Frühstadium zu entdecken und dadurch eine dauerhafte Heilung zu erreichen. Vorarlberger Koloskopie-Programm Kosten rechnen sich um ein Vielfaches Zwischen Februar 2007 und Dezember 2015 wurde in Vorarlberg bei Personen eine qualitätsgesicherte Vorsorge-Koloskopie durchgeführt, also bei mehr als einem Viertel (26,2 Prozent) der Zielgruppe der über 50-Jährigen. Bundesweit wurden in diesem Zeitraum nur 6,7 Prozent der Zielbevölkerung erreicht. Berücksichtigt man auch die nicht evaluierten Vorsorge-Koloskopien, so waren es maximal 14 Prozent. Die medizinische Bilanz: Bei 387 (1,3 Prozent) Personen wurde Darmkrebs im Vorstadium erkannt und durch eine Polyp-Abtragung Seite: 1/5
2 geheilt. Bei 109 Untersuchten wurde Darmkrebs in einem frühen Stadium erkannt und durch Polyp-Abtragung während der Koloskopie oder mittels Operation geheilt. 28 Patienten hatten ein etwas weiter fortgeschrittenes Krebsstadium, bei dem zusätzlich eine Chemotherapie erforderlich war, wodurch die Heilungschancen sehr hoch sind. In 13 Fällen gab es bereits Metastasen, sodass eine sehr belastende, aufwändige und teure Behandlung notwendig wurde. Die investierten Kosten rechnen sich um ein Vielfaches, sagte Jonas: Jeder Fall von Darmkrebs mit Metastasierung verursacht Kosten in Höhe von etwa Euro. Unter Berücksichtigung sämtlicher volkswirtschaftlicher Faktoren bedeutet das für Vorarlberg eine Kostenersparnis von rund 70 Millionen Euro innerhalb von zehn Jahren. Studie zu Gesamtkosten und Einsparungspotenzialen bei Dickdarm-Krebs In der von Agnes Streissler/Wirtschaftspolitische Projektberatung erstellten aktuellen Studie werden auf Basis der Ergebnisse aus Vorarlberg zwei Szenarien verglichen und auf ganz Österreich hochgerechnet: Die Kostenentwicklung unter der Annahme, es gäbe kein Darmkrebs-Vorsorgeprogramm, und die Gesamtkosten bei einem existierenden Vorsorge-Koloskopie-Programm, bei dem jedes Jahr drei Prozent der über 50-Jährigen erfasst würden. Analysiert wurden nicht nur die direkten Auswirkungen einer Therapie, also die Kosten medizinischer Interventionen, sondern auch indirekte gesamtwirtschaftliche bzw. gesellschaftliche Kosten: zum Beispiel Produktivitätsausfälle infolge von Krankheit oder vorzeitigen Todesfällen ( Humankapitalansatz ), die Belastung für Angehörige sowie die Einschränkung der Lebensqualität der Betroffenen. Die ebenfalls erfolgte Berücksichtigung ökonomisch bewerteter Lebensjahre, eine heute übliche Berechnungsmethode, wird als Zahlungsbereitschaftsansatz bezeichnet. Einige Ergebnisse: Ein österreichweites Koloskopie-Programm würde bereits nach zehn Jahren die jährliche Prävalenz (Krankheitsläufigkeit) von Patienten mit der Diagnose Darmkrebs in einem fortgeschrittenen Stadium um fast 1600 verringern. Nach zehn Jahren würden zwischen 2800 und 5000 Frühpensionierungen infolge von Darmkrebs verhindert worden sein. Seite: 2/5
3 Im zehnten Jahr würden sich die Kosten der Koloskopie selbst auf 33 Millionen Euro belaufen. Dies unter Zugrundelegung eines betriebswirtschaftlich kalkulierten Tarifs inklusive der Kosten für allfällige Komplikationen und Qualitätssicherung. Die Gesundheitskosten von im Zuge der Koloskopie entdeckten Diagnosen sowie von Diagnosen in den Jahren nach der Koloskopie würden weitere 25 Millionen betragen. Im Vergleich dazu lägen die Gesundheits- und Pflegekosten der nicht-koloskopierten Vergleichsgruppe im zehnten Jahr bei 157 Millionen Euro, also um 98 Millionen Euro mehr pro Jahr. Betrachtet man die Gruppe der 50- bis 65-Jährigen, so entstünden durch Darmkrebserkrankungen bei der koloskopierten Zielgruppe jährliche Verluste des Erwerbspotenzials von 14 Millionen Euro. Bei der nichtkoloskopierten Vergleichsgruppe wären es 79 Millionen Euro. Zusammengefasst beträgt der volkswirtschaftliche Nutzen eines Koloskopie-Programms nach zehn Jahren, berechnet nach dem Humankapitalansatz, zwischen 736 Millionen und 1,3 Milliarden Euro, davon 36 Prozent Einsparung im Gesundheitsbereich, das sind 265 bis 468 Millionen Euro, bilanziert der Präsident der Ärztekammer für Vorarlberg, Michael Jonas. Berechnet nach dem Zahlungsbereitschaftsansatz, der auch ökonomisch bewertete Lebensjahre berücksichtigt, liege das Einsparungspotenzial bei drei bis 4,5 Milliarden Euro, davon 27 Prozent Einsparung im Gesundheitsbereich, also 810 Millionen bis 1,2 Milliarden Euro. Diese sensationellen medizinischen und volkswirtschaftlichen Ergebnisse zeigen, wie dringend notwendig es ist, ein Darmkrebs- Screening österreichweit zu implementieren, sagte ÖÄK- Vizepräsident Steinhart. Weiters müssten andere notorische Baustellen der Vorsorge- und Früherkennungsmedizin endlich und zügig saniert werden. Stillstand bei Mutter-Kind-Pass Defizite bei Brustkrebs- Früherkennungsprogramm: In der modernen Medizin zählen Vorsorge-Screenings zu den wichtigsten Fortschritten im Interesse der Gesundheit. Doch leider sind wir hier mit einer Reihe von gesundheitspolitischen Baustellen konfrontiert. Wir Ärzte gewinnen den Eindruck, dass die Gesundheitspolitik Vorsorgeuntersuchungen häufig als lästigen Kostenfaktor sieht. Etwa indem sie erfolgreiche und bewährte regionale Programme nicht ausweitet, sagte Seite: 3/5
4 der Obmann der Bundeskurie niedergelassene Ärzte und Vizepräsident der Österreichischen Ärztekammer (ÖÄK) Johannes Steinhart, am Dienstag anlässlich einer Pressekonferenz. Dringenden Handlungsbedarf gibt es aus ÖÄK-Sicht auch bei der Weiterentwicklung des Mutter-Kind-Passes sowie beim Brustkrebs- Früherkennungsprogramm. Einer dieser Sanierungsfälle, so Steinhart, sei der Mutter-Kind- Pass. Dieser wurde 1974 unter ärztlicher Begleitung eingeführt und hat sich sehr gut bewährt. Aus unerfindlichen Gründen ließ das Gesundheitsministerium die Mutter-Kind-Pass-Kommission im Obersten Sanitätsrat (OSR) Ende 2010 auslaufen und beauftragte das Ludwig Boltzmann Institut für Health Technology Assessment mit einer Evaluation des Mutter-Kind-Passes. Das Ergebnis ist eine Facharbeitsgruppe für Weiterentwicklung des Mutter-Kind-Passes, in der die teilnehmenden Ärzte auch bei Themen, die wissenschaftliche Spezialexpertise erfordern, jederzeit von medizinischen Laien überstimmt werden können. Die Arbeitsgruppe ist außerdem ein auf mehrere Jahre angelegter Prozess, während dem keine Entscheidungen zum Mutter-Kind-Pass vorgesehen sind. Rechnet man die Zeit seit dem Auslaufen der Kommission im OSR dazu, so herrscht bereits seit sechs Jahren Stillstand. Sechs Jahre, in denen keine neuen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse in den Mutter-Kind-Pass integriert und damit Müttern und Kindern vorenthalten wurden, kritisiert Steinhart. Das ist aus ärztlicher Sicht nicht zu verantworten. Brustkrebs-Früherkennungsprogram: dringend zu optimieren Ein weiterer Sanierungsfall ist das Brustkrebs-Screening. Die Anfang 2014 eingeführten Regelungen zur Brustkrebs-Vorsorge- Mammografie haben, auch durch eine veränderte Einladungspolitik, zu einem für viele Frauen potenziell gefährlichen Einbruch bei den Vorsorge-Mammografie-Zahlen geführt. Punktuell waren Rückgänge von etwa 40 Prozent zu verzeichnen, insgesamt hat sich durch das Programm die Zahl der Mammografien pro Jahr um 15 Prozent reduziert. Das führt dazu, dass Brustkrebs-Erkrankungen unbemerkt bleiben. Die Österreichische Ärztekammer hat sich deshalb immer wieder warnend zu Wort gemeldet. Auf sinnvolle Anpassungen warten wir allerdings vergeblich, weil die Gesundheitspolitik nun einmal zunehmend einsparungsorientiert handelt, und nicht im Sinne der bestmöglichen Patientenversorgung, so Steinhart. Unsere Zwischenbilanz: Das Brustkrebs-Screening wurde von einem Früherkennungsprogramm zu einem Kostensenkungsprogramm zurechtmanipuliert. Weil sich die Erwartungen nicht erfüllt haben, Seite: 4/5
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