Übungsfall Machen Kleider Leute?
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- Jesko Gerhardt
- vor 7 Jahren
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1 Machen Kleider Leute? GUTACHTEN - Lösungsskizze Die Verfassungsbeschwerde der B hat Aussicht auf Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist. A. Zulässigkeit Die Verfassungsbeschwerde müsste zunächst zulässig sein. I. Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts Art. 93 I Nr. 4 a GG, 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG II. Beschwerdeführer Beteiligtenfähigkeit Die B müsste ein zulässiger Beschwerdeführer sein. Zulässiger Beschwerdeführer ist gem. Art. 93 I Nr. 4a GG jedermann, also jeder Träger von Grundrechten. Als natürliche Person ist die B Träger von Grundrechten und daher zulässiger Beschwerdeführer. Arbeitsgemeinschaft Staatsrecht I (Grundrechte) Thomas Traub, Wiss. Mitarbeiter 1 III. Beschwerdegegenstand Es müsste ein zulässiger Beschwerdegegenstand vorliegen. Nach 90 BVerfGG ist zulässiger Beschwerdegegenstand jeder Akt öffentlicher Gewalt. Hier richtet sich die Verfassungsbeschwerde des B gegen das letztinstanzliche Urteil des BVerwG, mit dem die Dienstanweisung bestätigt wird, also einen Akt der Judikative. Mit dem Urteil des BVerwG [sowie dem dadurch bestätigten ablehnenden Verwaltungsakt der Behörde] liegt ein zulässiger Beschwerdegegenstand vor. IV. Beschwerdebefugnis Die B müsste beschwerdebefugt sein. bei der Beschwerdebefugnis wurde oft nur auf die Möglichkeitstheorie an sich abgestellt, ohne eine anschließende (zumindest kurze) Prüfung der Möglichkeit Dafür darf die Möglichkeit einer Verletzung von Grundrechten durch den Akt öffentlicher Gewalt nicht von vornherein ausgeschlossen sein. Durch das Urteil wird der B verboten, als Lehrerin im Unterricht ein Kopftuch zu tragen und so ihren religiösen Geboten zu folgen. Dadurch ist der B zumindest möglicherweise in ihren Grundrechten aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG (Religionsfreiheit), Art. 2 Abs. 1 GG (allgemeine Handlungsfreiheit) und Art. 3 Abs. 3 GG (Diskriminierungsverbot) verletzt. Arbeitsgemeinschaft Staatsrecht I (Grundrechte) Thomas Traub, Wiss. Mitarbeiter 2 1
2 Die B ist durch das Urteil auch selbst, unmittelbar und gegenwärtig betroffen. Die B ist also beschwerdebefugt. V. Rechtswegerschöpfung Gem. Art. 94 II 2 GG, 90 II 1 BVerfGG muss die B vor Einlegung der Verfassungsbeschwerde den Rechtsweg ausschöpfen Hier: B hat die Rechtsmittel bis einschließlich zum Bundesverwaltungsgericht ausgeschöpft. VI. [Subsidiarität] Andere zumutbare Maßnahmen gegen das Urteil des BVerwG vorzugehen, sind nicht ersichtlich. Damit ist auch das Kriterium der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde erfüllt. das Trio selbst/unmittelbar/gegenwärtig wurde häufig zu breit ausgeführt; den Bearbeitern war nicht bewusst, dass diese Voraussetzungen vor allem bei einer VB gegen ein Gesetz problematisiert werden Arbeitsgemeinschaft Staatsrecht I (Grundrechte) Thomas Traub, Wiss. Mitarbeiter 3 VII. Frist "Die Verfassungsbeschwerde müsste auch fristgerecht erhoben worden sein. 93 Abs. 1 BVerfGG: ein Monat ab Zustellung des Urteils Hier: Zustellung am Fristende (gem. 188 II, 187 I BGB): Einwurf in Briefkasten am , 0:04 Uhr verfristet [unerheblich, dass Frist nur geringfügig überschritten Fristen sind formell und starr zu verstehen] Aber: ist gesetzlicher Feiertag (2. Weihnachtstag) gem. 193 BGB Fristende am nächsten Werktag: Die Verfassungsbeschwerde der B wurde daher fristgerecht eingelegt. VIII. Form 23 Abs. 1 BVerfGG: Schriftform, Begründungserfordernis (+) Hier: B wirft Schreiben in den Briefkasten. Also ist die Verfassungsbeschwerde der B zulässig. Arbeitsgemeinschaft Staatsrecht I (Grundrechte) Thomas Traub, Wiss. Mitarbeiter 4 2
3 B. Begründetheit Die Verfassungsbeschwerde der B ist begründet, wenn sie durch das angegriffene Urteil in einem ihrer Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt ist. Dies ist der Fall, wenn ein Eingriff in den Schutzbereich vorliegt, der verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt ist. Prüfungsmaßstab Das BVerfG ist keine Superrevisionsinstanz. Die Anwendung und Auslegung des einfachen Rechts ist Aufgabe der Fachgerichte. Das BVerfG beschränkt sich darauf, zu überprüfen, ob das Urteil spezifisches Verfassungsrecht verletzt. Dies ist der Fall, wenn die Norm, auf der die Gerichtsentscheidung beruht verfassungswidrig ist oder das Gericht bei der Auslegung und Anwendung einfachen Rechts den Einfluss und die Tragweite der Grundrechte grundlegend verkannt hat. Arbeitsgemeinschaft Staatsrecht I (Grundrechte) Thomas Traub, Wiss. Mitarbeiter 5 I. Religionsfreiheit Art. 4 Abs. 1 und 2 GG Möglicherweise ist die B in ihrem Grundrecht der Religionsfreiheit gem. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG verletzt. 1. Schutzbereich a) Persönlicher Schutzbereich Berufsfreiheit gem. Art. 4 I, II GG ist Jedermann-Grundrecht B ist als natürliche Person vom Schutzbereich erfasst (+) Grundrechte gelten auch in sog. Sonderstatusverhältnissen wie z.b. für Beamte, so dass sich die B auch im Rahmen ihrer Tätigkeit als Lehrerin auf Art. 4 Abs. 1 und 2 GG berufen kann Arbeitsgemeinschaft Staatsrecht I (Grundrechte) Thomas Traub, Wiss. Mitarbeiter 6 3
4 b) Sachlicher Schutzbereich Wortlaut des Art. 4 GG: Differenzierung zwischen Glaube, Bekenntnis und Religionsausübung BVerfG (und h. L.): einheitliches Grundrecht der Religionsfreiheit Definition: Religionsfreiheit umfasst das Recht einen Glauben zu bilden, zu haben, zu äußern und danach zu handeln geschützt ist das Recht des Einzelnen, sein gesamtes Verhalten an den Regeln seines Glaubens auszurichten und demgemäß zu handeln Maßgeblich ist das Selbstverständnis des Grundrechtsträgers Plausibilitätskontrolle Hier:B will Kopftuch aus religiösen Gründen tragen, um islamische Kleidervorschriften zu beachten Widersprechende theologische Gutachten sind irrelevant, da Inhalt von Glaube und Religion nicht verbindlich und abschließend festgelegt werden kann Religionsfreiheit nach Art. 4 GG schützt auch Minderheiten und Sektierer Selbstverständnis der B ist zumindest nachvollziehbar im Hinblick auf ihren muslimischen Glauben und die zitierten Suren des Koran als heiliger Schrift des Islam Also ist der Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG eröffnet. Arbeitsgemeinschaft Staatsrecht I (Grundrechte) Thomas Traub, Wiss. Mitarbeiter 7 2. Eingriff Es muss ein Eingriff in den Schutzbereich der Berufsfreiheit vorliegen. Ein Eingriff ist jedes staatlichehandeln, das dem Einzelnen ein Verhalten, das in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt, ganz oder teilweise unmöglich macht. Hierwird durch das Urteil der B die Möglichkeit untersagt, als Lehrerin an öffentlichen Schulen im Unterricht ein Kopftuch zu tragen. Damit liegt ein Eingriff in das Grundrecht der Religionsfreiheit gem. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG vor. Arbeitsgemeinschaft Staatsrecht I (Grundrechte) Thomas Traub, Wiss. Mitarbeiter 8 4
5 3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung a) Schranken des Grundrechts aus Art. 4 GG Wortlaut des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG: kein Gesetzesvorbehalt vorbehaltlos garantiert Regelung des Art. 140 GG i.v.m. Art. 136 Abs. 1 WRV als Gesetzesvorbehalt? PRO: Wortlaut: Pflichten der Bürger ist allgemein Befolgung von Gesetzen Art. 136 Abs. 1 WRV ist gem. Art. 140 GG vollgültiges Verfassungsrecht CONTRA: Historische Auslegung: Verfassungsgeber hat [angeblich] bewusst auf Gesetzesvorbehalt für Religionsfreiheit verzichtet Systematische Auslegung: Art. 136 Abs. 1 WRV ist Teil der Übergangs-und Schlussbestimmungen des GG systematisch keine Einschränkung der Grundrechte aus dem Abschnitt Die Grundrechte (Art GG) BVerfG: Art. 4 GG überlagert Vorschrift des Art. 140 GG i.v.m. Art. 136 Abs. 1 WRV Religionsfreiheit ist vorbehaltlos garantiert [a. A. gut vertretbar] Arbeitsgemeinschaft Staatsrecht I (Grundrechte) Thomas Traub, Wiss. Mitarbeiter 9 Religionsfreiheit unterliegt nur verfassungsimmanenten Schranken kollidierendes Verfassungsrecht Hier: Negative Religionsfreiheit der Schüler, Art. 4 Abs. 1 und 2 GG Recht der Eltern auf religiöse Erziehung, Art. 6 Abs. 2 GG Grundsatz der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates, Art. 140 GG i.v.m. Art. 137 Abs. 1 WRV Bildungs-und Erziehungsauftrag des Staates im Bereich des Schulwesens, Art. 7 Abs. 1 GG ( Schulfrieden ) auch bei vorbehaltlos garantierten Grundrechten gilt der Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes Einschränkungen müssen einfachgesetzliche Grundlage haben (keine verfassungsunmittelbaren Eingriffe ) Hier: 25 a SchulG NRW b) Formelle Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes (+) Arbeitsgemeinschaft Staatsrecht I (Grundrechte) Thomas Traub, Wiss. Mitarbeiter 10 5
6 Schranken-Schranken Materielle Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes c) Schranken-Schranke I: Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (1) Legitimer Zweck Grundrechte der Schüler (Art. 4 GG) und Eltern (Art. 6 Abs. 2 GG) Religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates (Art. 140 GG i.v.m. Art. 137 Abs. 1 WRV) (2) Geeignetheit Gesetz muss den Zweck fördern darf nicht offensichtlich ungeeignet sein Hier:Verbot des Tragens religiöser Symbole schützt negative Religionsfreiheit der Schüler, die der betroffenen Religion ablehnend gegenüber stehen Staatliche Neutralität wird gefördert, in dem Lehrer (als Repräsentant des Staates in der Schule) sich religiöser Bekundungen zu enthalten haben Geeignetheit (+) Arbeitsgemeinschaft Staatsrecht I (Grundrechte) Thomas Traub, Wiss. Mitarbeiter 11 (3) Erforderlichkeit 25a SchulG NRW müsste auch erforderlich sein. Es darf kein milderes Mittel geben, das genau so effektiv ist. Hier: nichts ersichtlich Die gesetzliche Regelung des 25a LSchulG ist also auch erforderlich. Arbeitsgemeinschaft Staatsrecht I (Grundrechte) Thomas Traub, Wiss. Mitarbeiter 12 6
7 (4) Angemessenheit, Zumutbarkeit Umfassende Güterabwägung aller Umstände Angemessenes Verhältnis von Eingriff und Zweck einerseits: Religionsfreiheit von Lehrkräften andererseits: negative Religionsfreiheit der Schüler; Elternrechte; Grundsatz der religiösweltanschaulichen Neutralität des Staates Religionsfreiheit der Lehrerin: Religionsfreiheit gilt zwar auch für Beamte/Lehrer aber in eingeschränktem Umfang Mäßigungsgebot der Beamten Beamte sind Grundrechtsträger (als natürliche Personen) und Grundrechtsverpflichtete/- adressaten (als Repräsentant des Staates) zugleich Erziehungsrecht der Eltern, Art. 6 Abs. 2 GG: Eltern müssen sich darauf verlassen können, dass ihre Kinder an öffentlichen Schulen nicht gegen ihren Willen religiös beeinflusst werden (vgl. auch die Wertung des Art. 7 Abs. 2 GG) Arbeitsgemeinschaft Staatsrecht I (Grundrechte) Thomas Traub, Wiss. Mitarbeiter 13 Negative Religionsfreiheit der Schüler: bloßer Anblick fremder Glaubensbekundungen grundsätzlich nicht geschützt; kein Schutz vor bloßer optischer Konfrontation mit anderen Glaubensüberzeugungen, jedenfalls nicht typischer Fall der neg. Religionsfreiheit (vgl. Art. 140 GG i.v.m. Art. 136 Abs. 3 und 4 WRV) aber: öffentliche Schule ist wegen Schulpflichtbesonders sensibler Bereich für negative Religionsfreiheit keine Möglichkeit, sich Konfrontation zu entziehen Religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates: wichtiges Anliegen, Neutralitätsverstöße in der Schule zu verhindern Sicherung des Schulfriedens Lehrkräfte repräsentieren als Beamte den Staat Vorbildfunktion der Lehrer A.A.: Gerade in multi-religiöser Gesellschaft ist es Aufgabe der Schule, bei Schülern Toleranz gegenüber Religionen zu wecken, die als fremd empfunden werden Integrationsaufgabe der Schule Arbeitsgemeinschaft Staatsrecht I (Grundrechte) Thomas Traub, Wiss. Mitarbeiter 14 7
8 Einschätzungsprärogative des Staates, Ausgleich zwischen kollidierenden Verfassungsgütern vorzunehmen BVerwG: Es ist Aufgabe des Gesetzgebers zu entscheiden, ob er eine großzügige Lösung wählt, die es ermöglicht, die zunehmende religiöse Vielfalt in der Schule aufzunehmen und als Mittel für die Einübung gegenseitiger Toleranz zu nutzen oderob er wegen des größeren Potenzials möglicher Konflikte in der Schule den Weg geht der staatlichen Neutralität im schulischen Bereich eine strikte Bedeutung beizumessen und demgemäß religiöse Bezüge von den Schülern grundsätzlich fern zu halten, um Konflikte mit Schülern, Eltern oder anderen Lehrkräften von vornherein zu vermeiden Arbeitsgemeinschaft Staatsrecht I (Grundrechte) Thomas Traub, Wiss. Mitarbeiter 15 Gesetzliche Regelung ist offen formuliert kann, geeignet Neutralität Schulfrieden zu stören Möglichkeit verfassungskonformer Auslegung Berücksichtigung der Religionsfreiheit im Einzelfall bei Anwendung und Auslegung des Gesetzes Gesetzlicher Regelung ist also angemessen. Insgesamt ist 25a SchulG verhältnismäßig. nur selten wurde die Eigenart des Gesetzes im Rahmen der Gesetzesprüfung erkannt: Spielraum zur Berücksichtigung der d) Schranken-Schranke III: Zitiergebot Grundrechte bei Anwendung im Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG Einzelfall Sinn und Zweck: Warnfunktion des Zitiergebotes Hier: nicht eingehalten, aber Art. 19 I 2 GG ist lt. BVerfG nicht anwendbar auf vorbehaltlos garantierte Grundrechte 25a SchulG ist also materiell verfassungsmäßig. Arbeitsgemeinschaft Staatsrecht I (Grundrechte) Thomas Traub, Wiss. Mitarbeiter 16 8
9 f) Verfassungsmäßigkeit des Urteils Anwendung des 25a LSchulG im Einzelfall Verhältnismäßigkeit Möglicherweise ist die B aber durch die Anwendung des Gesetzes in ihren Grundrechten verletzt. Gericht muss bei Auslegung des 25a SchulG Bedeutung der Religionsfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 und 2 GG beachten. Rechtfertigung wurde häufig unstrukturiert geprüft, insbesondere oft keine Differenzierung zwischen (1) Legitimer Zweck Gesetz und Anwendung (bei Urteils- VB!) sondern reine wie oben Schulfrieden im konkreten Einzelfall in der Schule der B Verhältnismäßigkeits-Prüfung (2) Geeignetheit Eingriff muss Zweck fördern ggf. zweifelhaft, da keinerlei konkrete Anhaltspunkte für Störung des Schulfriedens durch die B Allerdings ist konkretes Verbot nicht offensichtlich ungeeignet, da legitimer Zweck, konkrete Gefahren für Schulfrieden erst gar nicht entstehen zu lassen, sondern bereits im Vorfeld zu verhindern Verbot ist (zumindest) geeignet um staatliche Neutralität sicherzustellen Arbeitsgemeinschaft Staatsrecht I (Grundrechte) Thomas Traub, Wiss. Mitarbeiter 17 (3) Erforderlichkeit kein milderes Mittel, das (im konkreten Einzelfall) genau so effektiv sind Milderes Mittel: Abwarten, bis konkrete Störung vorliegt? Aber nicht gleich effektiv, da Prävention von Konflikten effektiver als spätere Konfliktlösung (4) Angemessenheit Abwägung aller relevanten Umstände des Einzelfalles (insbesondere: Kopftuch) Religionsfreiheit der B: Für B ist Tragen des Kopftuchs persönlich zwingendes religiöses Gebot Ausdruck ihres Glaubens Kleiderregeln als klassische religiöse Gebote im Alltag, nicht nur Randbereich betroffen Verletzung der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates durch Kopftuch Erhebliches Konfliktpotential des Kopftuchs wegen intensiver gesellschaftlicher Diskussion Kopftuch wird (auch) interpretiert als Symbol für intoleranten Islam Unterdrückung der Frau (vgl. Art. 3 Abs. 2 und 3 GG) Arbeitsgemeinschaft Staatsrecht I (Grundrechte) Thomas Traub, Wiss. Mitarbeiter 18 9
10 Zentrales Problem: keine konkreten Konflikte in der betroffenen Schule Abstrakte Gefahr ausreichend? konkrete Gefahr erforderlich? Rspr.: bereits die abstrakte Gefahr, die der staatlichen Neutralität oder dem Schulfrieden aus einer religiösen äußeren Bekundung erwachsen kann, genügt als Anlass, entgegenwirkende Verhaltensvorschriften aufzustellen. Keine Verpflichtung, einen Konflikt erst entstehen zu lassen, um dann darauf zu reagieren (a. A. gut vertretbar: unverhältnismäßig, Religionsausübung auch ohne konkrete Gefahr für kollidierendes Verfassungsgut zu untersagen) [Hinweis: genau genommen hätte dieser Aspekt genügt eine abstrakte Gefahr? bereits bei der Prüfung des Gesetzes angesprochen werden können, denn schon das Gesetz ist von seinem Wortlaut so angelegt, dass eine religiöse Bekundung nicht erst bei einer konkreten Gefahr für Neutralität/Schulfrieden verboten ist, sondern unabhängig vom Einzelfall nur eine abstrakte Gefahr vorausgesetzt ist (vgl. Wortlaut: Bekundungen die geeignet sind zu gefährden oder. zu stören ; nicht: Bekundungen, die den Schulfrieden/die Neutralität im konkreten Fall (tatsächlich) unmittelbar. gefährden/stören). Wer dies erkennt, hätte dann bei der Prüfung des Einzelfalles/Urteils nur noch darauf eingehen müssen, ob gerade das Kopftuch der B auch im Lichte der Religionsfreiheit eine solche Bekundung ist, die geeignet ist, den Schulfrieden zu stören was angesichts der allgemein bekannten und auch im Sachverhalt angesprochenen Assoziation des Kopftuchs mit der Unterdrückung der Frau und als islamisches Symbol wohl ohne weiteres zu bejahen wäre. In einer Anfängerklausur konnte aber kaum erwartet werden, dass dieses Problem bereits bei der Auslegung des Gesetzes erkannt wird es musste dann aber im Rahmen der Einzelfallprüfung angesprochen werden, da der Sachverhalt deutliche Hinweise darauf enthält, dass es bei der B zu keinerlei konkreten Störungen gekommen ist] Arbeitsgemeinschaft Staatsrecht I (Grundrechte) Thomas Traub, Wiss. Mitarbeiter 19 Ergebnis: Anwendung des Gesetzes im konkreten Einzelfall ist angemessen und damit insgesamt verhältnismäßig (a. A. gut vertretbar) Der Eingriff ist verfassungsrechtlich gerechtfertigt. B ist in ihrem Grundrecht aus Art. 4 I, II GG nicht verletzt. II. Allgemeine Handlungsfreiheit, Art. 2 Abs. 1 GG Daneben könnte der B in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG, der allgemeinen Handlungsfreiheit verletzt sein. Jedoch ist Art. 2 Abs. 1 GG als Auffanggrundrecht gegenüber den speziellen Freiheitsgrundrechten subsidiär, tritt daher hinter Art. 12 Abs. 1 GG zurück und ist nicht näher zu prüfen. Arbeitsgemeinschaft Staatsrecht I (Grundrechte) Thomas Traub, Wiss. Mitarbeiter 20 10
11 III. Spezielles Gleichheitsgrundrecht Art. 3 Abs. 3 GG Ungleichbehandlung wegen Religion? Gesetz gilt für alle Arten von religiösen Bekundungen, keine Diskriminierung bestimmter Religion auch im konkreten Einzelfall nicht ersichtlich, dass anderer religiöse Bekundungen privilegiert werden Keine Ungleichbehandlung i.s.d. Art. 3 Abs. 3 GG Die Verfassungsbeschwerde des B ist unbegründet. Insgesamt ergibt sich, dass die Verfassungsbeschwerde des B zwar zulässig, aber nicht begründet ist und daher keine Aussicht auf Erfolg hat. Arbeitsgemeinschaft Staatsrecht I (Grundrechte) Thomas Traub, Wiss. Mitarbeiter 21 11
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