Es gibt wohl nur wenige biblische Geschichten, die so oft und so gründlich missverstanden worden sind, wie die Geschichte vom Sündenfall.
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- Marie Blau
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1 Rolf Theobold Die Gut-Böse-Anmaßung Predigt über die Sündenfallgeschichte Gen. 3, 1 ff. 9. März 2014 Pauluskirche überarbeitete und gekürzte Predigt vom 9. März 2003 St. Martin und St. Clemens, 6. März 2003 Matthäuskirche und Hoffnungskirche und 6. August 2006 Lukaskirche Liebe Gemeinde! Es gibt wohl nur wenige biblische Geschichten, die so oft und so gründlich missverstanden worden sind, wie die Geschichte vom Sündenfall. Das erste Missverständnis ist geradezu handgreiflich. Es ist der Apfel, der keiner ist. Wenn Sie nämlich die Geschichte genau mitverfolgt haben, dann haben Sie gemerkt, dass hier gar nicht von einem Apfel die Rede ist, sondern lediglich von einer Frucht. Gleichwohl hat dieser nicht-existente Apfel Geschichte geschrieben, als volkstümliche Vorstellung, als Redewendung, als Darstellung in der Kunst. Bis heute. Aber dieses Missverständnis ist eher erheiternd, als dass es eine tiefergehende theologische Bedeutung hätte. Dies trifft dafür umso mehr auf das zweite Missverständnis zu. Dieses zweite Missverständnis besagt, dass die Sünde des Menschen im Ungehorsam gegenüber Gott bestanden hätte. Das ist aber, wenn man die Geschichte genau liest, nicht ganz richtig. Trotzdem hält sich dieses Missverständnis sehr hartnäckig sogar bis hin zu modernen theologischen Wörterbüchern. Es ist in der Tat ein Missverständnis, das sich auch innerhalb der Theologie eingenistet hat. Es lohnt, sich damit genauer auseinander zusetzen. Dazu gleich mehr. Und das dritte Missverständnis schließlich wäre, zu glauben, dass sich diese Geschichte genau so zugetragen hat. Das glaubt aber keiner mehr, außer viel- Erstellt von Rolf Theobold Pr.(Die Gut-Böse-Anmaßung, Gen3,1ff - Wdh) Seite 1 von 7
2 leicht in den USA. Die Erzählung vom Sündenfall ist nichts anderes als ein sogenannter Mythos, d.h. eine Geschichte, die mit erzählerischen Mitteln grundlegende Fragen des menschlichen Lebens beantworten möchte, indem sie versucht zu erklären, wie alles angefangen hat. Es geht einem Mythos nicht um historische Wahrheit, sondern um grundlegende Wahrheiten über unser Leben. So lohnt sich eigentlich nur über das zweite Missverständnis etwas genauer nachdenken, das Missverständnis, dass der Ungehorsam gegen Gott die eigentliche Sünde der Menschen sei. Es geht dabei, wie gesagt, nicht nur um die Geschichte als solche, sondern um die in ihr enthaltene grundlegende Aussage über unser Leben. Darum wurde und wird mit Berufung auf genau diese Geschichte bis heute immer wieder gesagt: Sünde ist Ungehorsam gegen Gott. Sünde ist Ungehorsam gegen Gottes Gebote. Sünde ist, wenn man etwas tut, das Gott verboten hat. Das ist nun zwar ein sehr verbreitetes Verständnis von Sünde, selbst unter Theologen, aber es ist dennoch nicht korrekt. Das merkt man, wenn man die Geschichte genauer anschaut. Der Ungehorsam gegen Gott spielt in dieser Erzählung zwar auch eine gewisse Rolle, aber er ist nur eine Nebensache. 1 Die eigentliche Sünde ist etwas ganz anderes. Und das, worum es dabei geht, wird in der Erzählung sehr genau beschrieben. Da sprach die Schlange zur Frau: Ihr werdet keineswegs des Todes sterben, sondern Gott weiß: an dem Tage, da 1 Der Ungehorsam ist eine Handlung, die sozusagen lediglich im Dienst der eigentlichen Sünde steht. Erstellt von Rolf Theobold Pr.(Die Gut-Böse-Anmaßung, Gen3,1ff - Wdh) Seite 2 von 7
3 ihr davon esst, werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist. Und die Frau sah, dass von dem Baum gut zu essen wäre und dass er eine Lust für die Augen wäre und verlockend, weil er klug machte. Die eigentliche Sünde besteht nach der biblischen Erzählung ganz exakt in folgendem Bestreben: Sünde ist das Bestreben des Menschen, sein zu wollen wie Gott, und zu wissen, was gut und böse ist, gleich wie Gott klug sein zu wollen in Bezug auf diese fundamentalen Kategorien. Das ist in dieser Erzählung so klar beschrieben, dass man sich wundern muss, wieso der Ungehorsam zur eigentlichen Sünde hochstilisiert wurde. Aber auch das ist im Grunde gar nicht so schwer zu verstehen. Denn von der Sünde im eigentlichen Sinne ist man auch als frommer, als religiöser Mensch betroffen. Sünde als Ungehorsam dagegen, das betrifft die anderen, die Ungläubigen, die Abgefallenen die Ungehorsamen eben. Sünde, wie sie die Geschichte dagegen eigentlich meint, betrifft zutiefst jeden Menschen, die sogenannten Ungläubigen genauso wie die Gläubigen. Es kann mitunter schmerzlich sein, sich damit auseinander zusetzen. Was aber bedeutet nun Sünde im eigentlichen Sinne? Was bedeutet es, sein zu wollen wie Gott, und wissen zu wollen, was gut und böse ist? Das ist nun in der Tat nicht so leicht zu erklären. Ich will es trotzdem versuchen. Zunächst mag man einwenden. Erstens: Wer will denn schon wie Gott sein? Es gibt doch niemanden, außer vielleicht ein paar wenigen psychisch Kranken, die herumlaufen, und sagen: Ich bin Gott. Zweitens: Warum Erstellt von Rolf Theobold Pr.(Die Gut-Böse-Anmaßung, Gen3,1ff - Wdh) Seite 3 von 7
4 soll es denn Sünde sein, wissen zu wollen, was gut und böse ist? Zum ersten Einwand: Natürlich läuft niemand herum, und sagt oder denkt: ich bin wie Gott. Aber: durch unser tägliches Verhalten, durch unser Denken, Reden, Tun und Lassen zeigen wir alle, dass wir uns selbst zum Zentrum unserer Welt machen. Mehr oder weniger offensichtlich natürlich. Man kann also sagen: jeder ist sich selbst die Mitte der Welt, und alles andere wird dieser Mitte in irgendeiner Weise zugeordnet. Wir können gar nicht anders 2. Wir beurteilen die Welt um uns herum nicht wie der echte Gott in Bezug auf das Ganze, sondern wie ein kleiner Gott immer in Bezug auf uns selbst: Stärkt es meine Position im Zentrum (mein Ego ) oder nicht? Auf diese Weise sind wir, biblisch gesprochen, wie Gott. Wir können nicht anders, im Unterschied zur Eva haben wir gar nicht mehr die Wahl. Wir sind bereits wie Gott. 3 Das muss für andere nicht immer offensichtlich sein. Es kann auch sehr subtil geschehen, scheinbar unter dem Gegenteil versteckt. Es ist zum Beispiel denkbar, dass jemand sehr demütig und bescheiden ist. Aber davor haben schon die mittelalterlichen Mönche gewarnt Bescheidenheit kann eine sehr versteckte Form von Sünde sein. Sobald ich nämlich innerlich sage: Mensch, ich bin aber bescheiden! Super! Ich bin ein toller Mensch, weil ich so bescheiden bin. Und sofort ist der bescheidenste Mensch an derselben Stelle, wie der unbescheidenste Mensch: nämlich da, wo er sich selbst ins Zentrum setzt. Und sei es, wie gesagt, noch so heimlich. 2 Augustinus: non posse non peccare (nicht nicht sündigen können) 3 Das ist mit der sog. Erbsünde (peccatum originale) gemeint. Erstellt von Rolf Theobold Pr.(Die Gut-Böse-Anmaßung, Gen3,1ff - Wdh) Seite 4 von 7
5 Zum zweiten Einwand. Warum soll es denn Sünde sein, wissen zu wollen, was gut und böse ist? Es ist deswegen Sünde, weil es gekoppelt ist mit unserem Sein-Wollen-Wie-Gott. Nur Gott, so sagt diese Erzählung, weiß, was gut und böse ist. Wir Menschen sind Menschen und können das nicht wissen. Dafür haben wir einen viel zu begrenzten Horizont. Nun tritt aber genau dies ein: dass wir Menschen als Menschen unseren begrenzten Horizont nicht akzeptieren, sondern sein wollen wir Gott. Uns selbst also, wie bereits beschrieben, uns selbst so wichtig nehmen, dass wir uns ins Zentrum dieser Welt rücken und alles auf uns hin beurteilen. Und aus dieser angemaßten göttlichen Perspektive heraus fangen wir nun an, die Welt in gut und böse einzuteilen. Das muss falsch sein, einfach deswegen weil wir nicht Gott sind. Weil uns sein allwissender Überblick und seine allumfassende Liebe fehlen, allein deswegen schon können wir nicht wissen, was gut und böse ist. Wenn wir trotzdem behaupten, dass wir wissen, was gut und böse ist, dann sind wir die größten Sünder jedenfalls im Sinne dieser Erzählung. Und nun wird auch verständlich, warum es diese Auslegung in der Geschichte der Christenheit schwer hatte und man sich lieber auf den Ungehorsam versteifte. Hier geht es nämlich ans Eingemachte. Denn gerade die frommen Menschen waren in der Geschichte der Christenheit oft diejenigen, die am allergenauesten zu wissen glaubten, was gut und böse sei. Der Prototyp dieses Menschen ist bereits in der Bibel dargestellt: es waren jene Menschen, die sich lauthals darüber beschwerten, dass Jesus ihre heiligen Maßstäbe von Gut und Böse in Frage stellte, als er zum Beispiel am Sabbat heilte oder mit den Zöllnern Tischgemeinschaft hielt. Es waren die Erstellt von Rolf Theobold Pr.(Die Gut-Böse-Anmaßung, Gen3,1ff - Wdh) Seite 5 von 7
6 gehorsamen Frommen, es waren die Pharisäer, die mit ihrem wirklich ernstgemeinten hohen moralischen Anspruch, über Gut und Böse Bescheid zu wissen, am Ende eben nichts Gutes bewirkten. In ihrem Anspruch, zu wissen, was gut und böse ist, wollten sie wirklich nichts anders, als mit ganzem Ernst Gott gehorsam sein. Aber genau darüber sind sie auf eine Weise gestolpert, mit der sie nie gerechnet haben, und sind dabei genau dort gelandet, wo sie nie hinwollten: im Zentrum der Sünde. Ihr zutiefst frommes Sein-Wollen- Wie-Gott, und ihr moralisch hochstehender Wissensanspruch über Gut und Böse, genau dies war höchste Sünde und hat letztlich Jesus ans Kreuz gebracht. Der gehorsame Pharisäer, und nicht der ungehorsame Zöllner, ist darum in der Begegnung mit Jesus zum eigentlichen Sachwalter der Sünde geworden. Und Pharisäer, das sind nicht die anderen, das sind wir alle: ob fromm oder unfromm wir sind mitten in der Sünde, sobald wir glauben, wir hätten die Maßstäbe, um über gut und böse zu urteilen. Was ist dann aber noch zu tun? Zum ersten ist sokratische Selbsteinsicht zu üben: Ich weiß, dass ich nichts weiß. Dietrich Bonhoeffer hat das etwas theologischer ausgedrückt. Sein Buch über die Ethik, also die Lehre vom richtigen Verhalten, beginnt mit folgendem Satz: Das Wissen um Gut und Böse scheint das Ziel aller ethischen Besinnung zu sein. Die christliche Ethik hat ihre erste Aufgabe darin, dieses Wissen aufzuheben. 4 Es geht mit anderen Worten darum, dass wir uns alle Anmaßung, über Gut und Böse Bescheid zu wissen, und sei es selbst in heiligster Absicht, dass wir diese Anmaßung bleiben lassen. 4 Bonhoeffer: Ethik, S. 19 Erstellt von Rolf Theobold Pr.(Die Gut-Böse-Anmaßung, Gen3,1ff - Wdh) Seite 6 von 7
7 Aber heißt das nicht, dass dann gar nichts mehr gilt, dass alles erlaubt ist? Nein, das heißt es nicht, sondern wir müssen andere Maßstäbe finden. Dietrich Bonhoeffer sprach davon, dass wir für jede einzelne Situation fragen müssen, was der Wille Gottes sei. Ein älterer katholischer Seelsorger und Gelehrter, dem ich vor Jahren begegnete, sprach davon, dass wir in jeder Situation fragen müssen: was würde Jesus dazu sagen, was würde er jetzt tun? Und ich selbst versuche für mich mit der Formel zu leben und zu handeln, dass ich immer frage: was dient dem Leben? was dient der Liebe? Und zwar nicht abstrakt und allgemein, sondern immer ganz konkret. Wer das versucht, wird merken: Es gibt nicht einfach gut und böse, sondern es gibt immer eine Fülle von Möglichkeiten, und welche am Ende richtig ist, weiß man vorher nicht immer. Manches Richtige wird sich am Ende als falsch erweisen, und umgekehrt. Es gehört also eine enorme Portion an echter Bescheidenheit dazu, also der Verzicht darauf, wie Gott sein zu wollen, der alles richtig macht. Was wäre das auch für eine Überforderung! Wir sind Menschen, und dürfen Menschen bleiben mit aller Unvollkommenheit. Es sind, so sagte Dietrich Bonhoeffer an anderer Stelle, es sind oft mehr unsere vermeintlich guten Taten, mit denen Gott Schwierigkeiten hat, als mit unseren Fehlern. Wir werden nie ganz von jener Sünde loskommen, wie sie in der Erzählung beschrieben ist, sie gehört zu unserem Menschsein. Aber wir sind auf gutem Wege, wenn wir uns selbst nicht ganz so ernst nehmen, wenn uns immer wieder hinterfragen können, und wenn wir ahnen, dass nicht wir, sondern Gott das Zentrum, die Mitte und das Ziel dieser Welt ist. Amen. Erstellt von Rolf Theobold Pr.(Die Gut-Böse-Anmaßung, Gen3,1ff - Wdh) Seite 7 von 7
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