Forensische Psychiatrie für Juristinnen und Juristen
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- Tomas Kaiser
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1 Forensische Psychiatrie für Juristinnen und Juristen Grundlagen der forensisch-psychiatrischen Begutachtung und Beurteilung der Schuldfähigkeit Basel, 12. April2016 Prof. Dr. med. Marc Graf Forensisch Psychiatrische Kliniken Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel
2 Art. 182 StPO Voraussetzungen für den Beizug einer sachverständigen Person Staatsanwaltschaft und Gerichte ziehen eine oder mehrere sachverständige Personen bei, wenn sie nicht über die besonderen Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen, die zur Feststellung oder Beurteilung eines Sachverhalts erforderlich sind.
3 Art. 183 StPO Anforderungen an die sachverständige Person 1 Als Sachverständige können natürliche Personen ernannt werden, die auf dem betreffenden Fachgebiet die erforderlichen besonderen Kenntnisse und Fähigkeiten besitzen. 2 Bund und Kantone können für bestimmte Gebiete dauernd bestellte oder amtliche Sachverständige vorsehen. 3 Für Sachverständige gelten die Ausstandsgründe nach Artikel 56.
4 Art. 185 StPO Ausarbeitung des Gutachtens 1 Die sachverständige Person ist für das Gutachten persönlich verantwortlich. 2 Die Verfahrensleitung kann die sachverständige Person zu Verfahrenshandlungen beiziehen und sie ermächtigen, den einzuvernehmenden Personen Fragen zu stellen. 3 Hält die sachverständige Person Ergänzungen der Akten für notwendig, so stellt sie der Verfahrensleitung einen entsprechenden Antrag. 4 Die sachverständige Person kann einfache Erhebungen, die mit dem Auftrag in engem Zusammenhang stehen, selber vornehmen und zu diesem Zweck Personen aufbieten. Diese haben dem Aufgebot Folge zu leisten. Weigern sie sich, so können sie polizeilich vorgeführt werden. 5 Bei Erhebungen durch die sachverständige Person können die beschuldigte Person und, im Umfang ihres Verweigerungsrechts, Personen, die zur Aussage oder Zeugnisverweigerung berechtigt sind, die Mitwirkung oder Aussage verweigern. Die sachverständige Person weist die betroffenen Personen zu Beginn der Erhebungen auf dieses Recht hin.
5 Art. 187 StPO Form des Gutachtens 1 Die sachverständige Person erstattet das Gutachten schriftlich. Waren an der Ausarbeitung weitere Personen beteiligt, so sind ihre Namen und die Funktion, die sie bei der Erstellung des Gutachtens hatten, zu nennen. 2 Die Verfahrensleitung kann anordnen, dass das Gutachten mündlich erstattet oder dass ein schriftlich erstattetes Gutachten mündlich erläutert oder ergänzt wird; in diesem Falle sind die Vorschriften über die Zeugeneinvernahme anwendbar.
6 Fragestellung Fragenkatalog der Konferenz der Strafverfolgungsbehörden der Schweiz und der SGFP Ausschliesslich medizinische Fragen beantworten, nie Güterabwägungen! Bei Zweifel: Rücksprache mit dem Auftraggeber
7 Fragenkatalog für Forensisch-Psychiatrische Gutachten 1. Zur Frage nach einer psychische Störung Hat die psychiatrische Untersuchung ergeben, dass die beschuldigte Person zur Zeit der Tat(en) an einer psychischen Störung gelitten hat? Wenn ja, an welcher und welchen Ausmasses? 2. Zur Frage der Schuldfähigkeit (Art. 19 Abs. 1 und 2 StGB) 2.1. War die beschuldigte Person zur Zeit der Tat(en) wegen dieser psychischen Störung nicht fähig zur Einsicht in das Unrecht der Tat(en) oder zum Handeln gemäss dieser Einsicht (Art. 19 Abs. 1 StGB)? 2.2. War die beschuldigte Person zur Zeit der Tat(en) wegen dieser psychischen Störung nur teilweise fähig - zur Einsicht in das Unrecht der Tat(en) oder - zum Handeln gemäss dieser Einsicht (Art. 19 Abs. 2 StGB)? Wenn ja, in welchem Grad (leicht, mittel, schwer) schätzen Sie die Verminderung der Schuldfähigkeit ein?
8 3. Zur Rückfallgefahr 3.1. Besteht bei der beschuldigten Person die Gefahr, erneut Straftaten zu begehen? 3.2. Welche Straftaten sind mit welcher Wahrscheinlichkeit zu erwarten? 3.3. Sofern ein Delikt gemäss Art. 64 in Betracht kommt: Besteht die Gefahr erneuter solcher Straftaten auf Grund einer anhaltenden oder lang dauernden psychischen Störung von erheblicher Schwere, oder besteht die Gefahr auf Grund von Persönlichkeitsmerkmalen der beschuldigten Person, der Tatumstände oder seiner gesamten Lebensumstände?
9 4. Zu einer Massnahme (Art und 63 StGB) 4.1. Besteht die für die Tatzeit festgestellte psychische Störung weiterhin? Stand(en) die vorgeworfene(n) Tat(en) damit in Zusammenhang? 4.2. Gibt es für die festgestellte psychische Störung eine Behandlung? Lässt sich durch diese der Gefahr neuerlicher Straftaten begegnen? Wenn ja, wie sollte eine solche Behandlung aussehen? 4.3. Ist die beschuldigte Person bereit, sich dieser Behandlung zu unterziehen? Könnte allenfalls auch die gegen den Willen der beschuldigten Person angeordnete Behandlung erfolgversprechend durchgeführt werden? 4.4. Ist die Anordnung einer stationären therapeutischen Massnahme im Sinne von Art StGB, einer ambulanten Behandlung im Sinne von Art. 63 StGB oder mehrerer Massnahmen im Sinne von Art. 56a StGB zweckmässig? Ist nur eine stationäre Behandlung geeignet, der Gefahr weiterer Straftaten zu begegnen oder genügt auch eine ambulante Behandlung? Welche Möglichkeiten der praktischen Durchführbarkeit der Massnahme gibt es?
10 4.5. Kann der Art der Behandlung auch bei gleichzeitigem oder vorherigem Strafvollzug Rechnung getragen werden? 4.6. Sofern die beschuldigte Person zur Zeit der Tat(en) noch nicht 25 Jahre alt war: Ist die beschuldigte Person in ihrer Persönlichkeitsentwicklung erheblich gestört? Besteht ein Zusammenhang zwischen Tat und Störung der Persönlichkeitsentwicklung? Kann die Massnahme für junge Erwachsene im Sinne von Art. 61 StGB die Wahrscheinlichkeit weiterer Straftaten vermindern? Ist die beschuldigte Person zu einem Aufenthalt in einer solchen Anstalt bereit? Ist diese Massnahme gegen den Willen der beschuldigten Person erfolgreich durchführbar? Bedarf es zusätzlich einer Massnahme nach Art und 63 StGB? 5. Zusätzliche Fragen 6. Haben Sie noch weitere Bemerkungen?
11 Schuldunfähigkeit und verminderte Schuldfähigkeit Art. 19 StGB 1 War der Täter zur Zeit der Tat nicht fähig, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder gemäss dieser Einsicht zu handeln, so ist er nicht strafbar. 2 War der Täter zur Zeit der Tat nur teilweise fähig, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder gemäss dieser Einsicht zu handeln, so mildert das Gericht die Strafe. 3 Es können indessen Massnahmen nach den Artikeln 59 61, 63, 64, 67 und 67b getroffen werden. 4 Konnte der Täter die Schuldunfähigkeit oder die Verminderung der Schuldfähigkeit vermeiden und dabei die in diesem Zustand begangene Tat voraussehen, so sind die Absätze 1 3 nicht anwendbar.
12 Verhältnis von Schuld zu Strafe Vergeltung Prävention
13 wichtig! Die psychiatrische Aufklärung der Tatmotivation im Sinne einer Erkenntnis, warum eine Tat begangen wurde (verstehen) zieht nicht per se eine Deoder Exkulpation nach sich! Verstehen Entschuldigen
14 Quantifizierung verminderter Schuldfähigkeit biologisch-psychologische Methode psychopathologisches Referenzsystem zweistufig-normatives Verfahren
15 biologisch-psychologische Methode biologisch psychologisch Verminderung der Schuldfähgikeit Diagnose + lebenspraktische Auswirkung
16 Psychologie kognitiv Gedächtnis Wahrnehmung Sozialisation Interpretation Reflexion Handlungsentwurf voluntativ Verhalten
17 Schuldfähigkeit erhalten Einschränkung psychopathologischer Kompetenzen aufgehoben verbleibende psychopathologische Kompetenzen
18 psychopathologisches Referenzsystem (Sass) gedachtes Norm-Ideal psychotische Störung
19 zweistufig normatives Verfahren psychiatrische Diagnose? nein entfällt ja Verminderung der Einsichtsfähigkeit? ja Quantifizierung nein Verminderung der Steuerungsfähigkeit? ja Quantifizierung nein schuldfähig
20 Quantifizierung verminderter Schuldfähigkeit erhalten leichtgradig vermindert mittelgradig vermindert in schwerem Grade vermindert aufgehoben
21 Psychische Störungen die häufiger zu verminderter Schuldfähigkeit führen Hirnorganische Störungen Hirnverletzungen Demenzen Störungen durch Konsum psychotroper Substanzen Schizophrene Störungen Wahn, Halluzinationen, formale Denkstörungen Schwerwiegende affektive Störungen Wahnhafte Depression, psychotische Dekompensation bei Manie oder bipolarer Störung Sehr schwerwiegend ausgeprägte Persönlichkeitsstörungen Borderline PS, schizoide und schizotype PS Minderintelligenz Kombinationen
22 Promille-Rechtssprechung Nach der Rechtsprechung ist verminderte Zurechnungsfähigkeit im Sinne von Art. 11 StGB grundsätzlich ab 2 Promille in Betracht zu ziehen. Im Bereich zwischen 2 und 3 Promille besteht eine Vermutung für eine Verminderung der Zurechnungsfähigkeit (BGE 122 IV 49 E. 1b). Ein unmittelbarer Rückschluss von einer gemessenen Blutalkoholkonzentration (BAK) auf den psychischen Zustand des Täters im Tatzeitpunkt ist aber nicht möglich. Es besteht eine erhebliche Variabilität, die von der konkreten Situation, der Alkoholgewöhnung und weiteren Umständen abhängt. Bei psychotropen Substanzen wird in der Literatur für eine verminderte Schuldfähigkeit ein mittelgradiger Rauschzustand mitdeutlicher Bewusstseinstrübung und deutlichen weiteren Auswirkungen vorausgesetzt (Felix Bommer/Volker Dittmann, Basler Kommentar,Strafgesetzbuch, Band I, Art. 11 N. 9 f. und 13).
23 Beurteilung unter Einfluss psychotroper Substanzen begangener Taten I systematisches Vorgehen psychische und physische Grundverfassung: Grundpersönlichkeit Suchtmittelanamnese Abhängigkeit, Toleranz körperliche Erkrankungen hirnorganische Störungen Leberschädigung rapid metabolizer Medikamente
24 Beurteilung unter Einfluss psychotroper Substanzen begangener Taten II konsumierte Substanzen: subj. Angaben obj. Nachweis der Substanz(en): Blastest, Urin, Blut, Speichel, Haare... Konsummuster: Beginn, Verlauf, Ende Wirkungsspektrum der Substanz(en)
25 Beurteilung unter Einfluss psychotroper Substanzen begangener Taten III situative Faktoren konkretes Tatverhalten: Psychopathologie unmittelbar nach Tat Exploration durch Gutachter Rechtsmediziner, Sanität Polizei, UR (deskriptiv) subj. Schilderung Opfer- / Zeugenaussagen kriminaltechnische Erkenntnisse Tatrekonstruktion
26 Problemfelder Intoxikation: Quantifizierung Wechselwirkung pathologischer Rausch Amnesie Betäubungsmittelhandel zur Finanzierung des Eigenkonsums? Amnesie: tatsächliche Amnesie > zu Grunde liegende Störung? legitime Verteidigungsstrategie? Schutzbehauptung?
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