3.2.5 X-chromosomale Vererbung
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- Emil Seidel
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1 .2 Mendel-Erbgänge X-chromosomale Vererbung Der X-chromosomalen Vererbung kommt eine besondere Bedeutung zu, da auf dem X-Chromosom kodierte Merkmale geschlechtsgebunden vererbt werden. Dies liegt an der unterschiedlichen Anzahl der X-Chromosomen im männlichen und weiblichen Organismus. Während Frauen eine X-chromosomal rezessive Mutation durch ihr zweites intaktes X-Chromosom kompensieren können(s.s. ), kommt es bei Männern, die nur ein X-Chromosom aufweisen (sie sind hemizygot für das X-Chromosom), immer zu einer Auswirkung der Mutation X-chromosomal rezessive Vererbung Rezessiv vererbte Merkmale oder krankheitsauslösende Mutationen auf dem X-Chromosom kommen bei Männern immer zur Ausprägung, weil sie nur ein X-Chromosom besitzen. Im weiblichen Organismus treten X-chromosomal rezessiv vererbte Krankheitsbilder mit einer Wahrscheinlichkeit von nur ca. 2 % dann in Erscheinung, wenn die Frau eine nicht zufällige X-Inaktivierung aufweist (s. S. ). Im sehr seltenen Fall des homozygoten Zustands einer Mutation auf beiden Allelen der weiblichen X-Chromosomen, kann es ebenfalls zur klinischen Manifestation der Erkrankung kommen. Abbildung.1a zeigt das Schema des X-chromosomal rezessiven Erbganges. Die Mutter ist heterozygot für eine X-chromosomal rezessive Erbkrankheit (Konduktorin) und der Vater ist hemizygot. Das Erkrankungsrisiko beträgt daher für Söhne 50 % und für Töchter praktisch 0 %. Jedoch sind 50 % der Töchter Konduktorinnen, gelegentlich können auch Konduktorinnen klinische Symptome zeigen (s. S. 260). Beschneidungsregeln im Talmud. Kenntnisse über die besondere Art der X- chromosomal rezessiven Vererbung lassen sich weit in der Geschichte zurückverfolgen: Seit dem 2. Jahrhundert unserer Zeitrechnung liegen im Talmud Regeln vor, welche die Beschneidung von Knaben solcher Mütter betraf, die bereits zwei Söhne durch Verbluten infolge des Eingriffs verloren hatten. Weitere Söhne sowie Söhne der Schwestern der betreffenden Mutter waren danach von diesem Ritual dispensiert. Dagegen behandelte man die Söhne desselben Vaters, jedoch mit einer anderen Mutter wie normale Knaben. Damit wurde bereits damals ein X-chromosomal rezessiver Defekt erkannt, die Hämophilie (s. S. 29). Wiederholungsrisiken Da das X-Chromosom beim Mann, abgesehen von den pseudoautosomalen Regionen, die auch auf dem Y-Chromosom vertreten sind (s. S. ), keinen homologen Partner besitzt, gibt es zu den X-chromosomal kodierten Genen auch keine
2 256 FormaleGenetik Y X N Y X N Y X d X N X N a krank (homozygot) Gameten der Eltern Vater X N Y b Mutter X N X d X N X N Mädchen X N Y Jungen X d Y krank Abb..1 X-chromosomal rezessiver Erbgang bei einer heterozygoten Mutter und einem hemizygot en Vater. a Übersichtsschema; b Punnett-Quadrat. Allele. Ein rezessives Gen führt folglich in diesem als hemizygot bezeichneten Zustand bereits in einfacher Dosis zur Manifestation des Merkmals, weil kein normales Allel zur Kompensation zur Verfügung steht. Die Häufigkeit hemizygot betroffener Männer entspricht der Häufigkeit des X- Chromosoms mit dem mutierten Gen in der männlichen Bevölkerung, da ja jeder hemizygote Träger des Gens gleichzeitig Merkmalsträger ist.
3 .2 Mendel-Erbgänge 257 Genetisch sind folgende Fälle typisch: & Konduktorinnen (heterozygote Frauen) übertragen das X-Chromosom mit dem mutierten Gen bei einer Partnerschaft mit einem en Mann auf die Hälfte ihrer SöhneundTöchter.Hemizygot(XdY) kranke wie normale (XNY) Söhne treten in einem Verhältnis 1:1 auf ebenso wie heterozygote Töchter(Überträgerinnen, Konduktorinnen, XNXd) und homozygot e Töchter (XNXN, s. Punnett-Quadrat, Abb..1b). & Ein hemizygot betroffener Mann (XdY) wird mit einer bezüglich des betrachteten Merkmals homozygot en Frau (XN, XN) nur genotypisch e Söhne haben, denn das X-Chromosom stammt immer von der Mutter (Abb..14a). Alle Töchter sind Konduktorinnen (Überträgerinnen). Sie tragen das X-Chromosom mit dem mutierten Gen des Vaters (Xd) und ein normales X-Chromosom der Mutter (XN). Sie sind also alle heterozygot und infolge der Dominanz des normalen Allels phänotypisch (XNXd, s. Punnett-Quadrat, Abb..14b). & Homozygotie für das X-chromosomal rezessive Gen kann bei Frauen auftreten, wenn ein hemizygoter Mann mit einer heterozygoten Überträgerin Kinder hat. Mit gleicher Häufigkeit (25%) sind betroffene Söhne, betroffene Töchter, e Söhne und phänotypisch e, aber heterozygote Töchter zu erwarten (Abb..15). & Eine homozygote betroffene Frau hat mit einem en Mann nur hemizygote, also kranke, Söhne und heterozygote Töchter. & Ein betroffener hemizygoter Mann hat mit einer betroffenen homozygoten Frau nur betroffene Kinder (100 % homozygote Töchter und 100 % hemizygot betroffene Söhne). Kinder er Brüder von Patienten mit einem X-chromosomal rezessiven Leiden werden sämtlich sein, da ein er Mann auf seinem X- Chromosom das normale Gen trägt. Zu beachten ist, dass auch bei zwei genetisch en Elternteilen eine Neumutation (s. S. ) bei den Nachkommen oder ein Keimzellmosaik (s. S. 265) bei der Mutter für das Auftreten einer X-chromosomal rezessiven Erkrankung verantwortlich sein kann. Eine zumindest bei der Analyse der DNA aus Blutzellen homozygot e Mutter, die bereits einen an Muskeldystrophie Duchenne (s. S. 295) erkrankten Sohn zur Welt gebracht hat, trägt eine Risiko von etwa 10 %, durch ein Keimzellmosaik einen weiteren kranken Sohn zu gebären. Klinische Manifestation bei Heterozygoten Bei X-chromosomal rezessiv vererbten Genen findet man entsprechend der Lyon-Hypothese (s. S. ) bei Frauen unterschiedliche Genaktivitäten in den einzelnen Somazellen.
4 258 FormaleGenetik krank (homozygot) Y X d X N X N Y X N Y X N X d X N X d X N a b Gameten der Eltern Mutter X N X N X d Mädchen Vater krank Y X N Y Jungen X N Y Abb..14 X-chromosomal rezessiver Erbgang bei einer homozygot en Mutter und einem hemizygot betroffenen Vater. Alle Söhne sind und alle Töchter sind e heterozygote Konduktorinnen. a Übersichtschema; b Punnett-Quadrat. Bei Frauen besteht ein Mosaik aus zwei verschiedenen Zellpopulationen (klonale Inaktivierung). Dieses Mosaik kann klinisch nachgewiesen werden. Bei Frauen mit monogenen X-chromosomalen Hautkrankheiten zeigt sich die klonale Inaktivierung der beiden funktionell verschiedenen Zellpopulationen während der Embryogenese der Haut in Form der Blaschko-Linien. Diese Blaschko-Linien werden sichtbar im Heterozygotenstatus monogener Hautkrankheiten wie: Incontinentia pigmenti, fokale dermale Hypoplasie,X-chro-
5 . Klinische Beispiele für monogene Erkrankungen 29 sich im OCA2-Gen (oder P-Gen) auf Chromosom 15q11.2. Die Genfunktion ist bislang nicht geklärt. Die Haut kann bei dieser Form nach Sonneneinstrahlung pigmentierte Flecken bilden. PräkanzeröseVeränderungen und Karzinome der Haut infolge von Sonneneinstrahlung sind neben der Augenbeteiligung die Symptome mit Krankheitswert. Beim okulären Albinismus ist die Hautpigmentierung nur gering gestört.die Augensymptome wie verminderte Sehschärfe, Photophobie und Nystagmus stehen im Vordergrund... X-chromosomal rezessive Krankheiten...1 Hämophilie A und Hämophilie B Hämophilie A (Inzidenz: 1:10 000) und Hämophilie B (Inzidenz: 1:0 000) werden X-chromosomal rezessiv vererbt. Bei beiden Erkrankungen sind Gene für Gerinnungsfaktoren mutiert und es kommt zu verstärkter Blutungsneigung. Molekulargenetik. Bei der Hämophilie A finden sich die Mutationen im FVIII-Gen in Xq28, das für den Faktor VIII des Blutgerinnungssystems kodiert. Neben Deletionen und Punktmutationen findet man bei 25 % der Patienten eine intrachromosomale Inversion zwischen homologen Sequenzen in Intron 22 des FVIII-Gens und homologen, -flankierenden Sequenzen des FVIII-Gens. Es kommt zu einer Inversion des carboxyterminalen Endes des Gens, eine intakte mrna kann nicht mehr synthetisiert werden. Diese Inversion hat in der Regel einen schweren Verlauf zur Folge. Ein weiterer ungewöhnlicher Mutationsmechanismus sind L1 Retrotransposons, die in den kodierenden Bereich von FVIII integriert werden und somit den Leserahmen unterbrechen. Bei der Hämophilie B, die wesentlich seltener auftritt, ist das FIX-Gen in Xq27 mutiert. Es kodiert für den so genannten Christmas-Faktor (Faktor IX) des Blutgerinnungssystems. Klinische Befunde. Hämophilie A und B werden durch einen Mangel an Gerinnungsfaktoren VIII bzw. IX verursacht, was zu einer verzögerten Umwandlung von Prothrombin zu Thrombin führt und in der Folge zu einer verlängerten Blutungszeit. Klinisch sind die beiden Formen nur durch eine Analyse der Gerinnungsfaktoren zu unterscheiden. Beide Erkrankungen betreffen in erster Linie männliche Patienten. Sie zeichnen sich durch Blutungen in Weichteilgewebe, Muskulatur und Gelenken aus. Die Blutungen treten in der Regel nach Traumen auf und
6 294 FormaleGenetik Großbritannien Sachsen-Coburg-Gotha Hessen-Darmstadt Russland Ludwig II Eduard *1767 Ernst Alexander II Maria Albert Victoria *1819 Großbritannien Battenberg Preußen Alexander III Eduard VII Alice Leopold Beatrice Ludwig IV Friedrich III Preußen Hessen-Darmstadt Battenberg Spanien 2 4 Wilhelm II Georg V Friedrich Alexandra Nikolaus II Alice Leopold Moritz Alfons XIII Waldemar Heinrich Eduard VIII Georg VI Alexej Rupprecht Moritz Alfonso Gonzalo Personen mit Hämophilie obligate Konduktorinnen Phillipp Elisabeth II Abb.. Hämophilie A im europäischen Hochadel.
7 . Klinische Beispiele für monogene Erkrankungen 295 Tab..6 Klassifizierung der Hämophilie-Schweregrade in Abhängigkeit der Gerinnungsfaktor-Aktivität Hämophilie-Schweregrad Gerinnungsfaktor-Aktivität in % schwer 0 1 % moderat 1 5 % mild 5 25 % können Stunden bis Tage anhalten. Rezidivierende Gelenkblutungen können über die Jahre zu schweren Destruktionen der Gelenke führen.inabhängigkeit von der noch vorhandenen Aktivität des Gerinnungsfaktors werden drei Schweregrade der Hämophilie unterschieden (Tab..6). Schwer betroffene Kinder fallen meist bereits bei der Geburt durch Hämatome auf, bei milden Verläufen kommt es oft erst in der Jugend zu Gelenkblutungen. Therapie. Therapeutisch kommen die rekombinant hergestellten Faktoren VIII bzw. IX zum Einsatz. Sie sind jedoch nur bei Patienten wirksam, die noch eine Restaktivität der jeweiligen Faktoren aufweisen. Patienten ohne Restaktivität entwickeln eine Immunreaktion gegen den jeweiligen Faktor, da dieser fürihr Immunsystem ein fremdes Protein darstellt. Bezüglich der Immunreaktion gibt es erste Ansätze, männliche Patienten mit zu erwartender schwerer Hämophilie A oder B bereits intrauterin das Hämophilie-A- bzw. -B-Molekül zu verabreichen, erstens, um damit mögliche intrauterine Manifestationen z. B. bei der Geburt zu mildern, aber auch, um für später notwendige Substitutionstherapien eine Immuntoleranz herzustellen. Alternativ werden vor allem mit Tiermodellen bereits Gentherapieexperimente durchgeführt, die sehr vielversprechend sind. Es konnte für Hunde durch den Transfer von Adenovisrus assoziiertenen FIX-Gens langfristige Expression erzielt werden, diese Experimente bzw. deren Erfolge müssen noch auf den Menschen übertragen werden....2 Muskeldystrophie Duchenne (DMD) Die infantile progressive Muskeldystrophie Typ Duchenne ist eine X-chromosomal vererbte Myopathie, die durch das Fehlen eines Strukturproteins, des Dystrophins, verursacht ist. Die Häufigkeit beträgt in der männlichen Bevölkerung 1:500.
8 296 FormaleGenetik Molekulargenetik. Bei etwa 60 % der Patienten findet man Deletionen von einem oder mehreren Exons im Dystrophin-Gen (DMD-Gen, in Xp21.2), das als eines der größten Gene des Menschen 79 Exons umfasst. Ca. 0 % der Patienten haben Punktmutationen oder sehr kleine Deletionen und etwa 10 % der Patienten Duplikationen von einem oder mehreren Exons. Etwa 0 % der Patienten weisen Neumutationen auf, wobei die großen Deletionen häufiger in der weiblichen Keimbahn und die Punktmutationen häufiger in der männlichen Keimbahn entstehen. Liegt die Neumutation isoliert in den weiblichen oder männlichen Keimzellen vor, ist dieser Anlageträger klinisch, hat aber ein erhöhtesrisikofür betroffene Kinder. Man bezeichnet dies als Keimzellmosaik (siehe S. 265). In der genetischen Beratung muss daher bei scheinbaren Neumutationen aufgrund des möglichen Keimzellmosaiks ein Wiederholungsrisiko für weitere betroffene Söhne von ca. 10 % ausgesprochen werden. Wenn die krankheitsverursachende Mutation bekannt ist, kann fürdie 11. SSW eine sichere pränatale Diagnostik (CVS) angeboten werden. Klinische Befunde. Die Erkrankung manifestiert sich im Kleinkindalter durch Gangunsicherheit, Stolpern und Schwäche beim Aufrichten. Blutchemisch fällt eine extreme CK- Werterhöhung auf. Das Strukturprotein Dystrophin wird normalerweise in der Skelett- und Herzmuskulatur exprimiert. Fehlt es, kommt es klinisch schon im Kleinkindalter zu Dystrophien der Beckengürtel-, Oberschenkel- und Wadenmuskulatur (Abb..4). a b Abb..4 Muskeldystrophie Duchenne. a Typische Hyperlordosierung der Lendenwirbelsäule, vorstehender Bauch und Hypertrophie der Waden b Gower-Zeichen: Das Kind stützt sich auf den eigenen Knien ab, um den Oberkörper aufzurichten (aus: Zierz, S., Jerusalem, F.: Muskelerkrankungen.. Aufl. Stuttgart: Thieme 200).
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