Der emotionale Entwicklungsansatz als Schlüssel zum Verständnis von Verhaltensstörungen
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- Sophie Biermann
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1 Der emotionale Entwicklungsansatz als Schlüssel zum Verständnis von Verhaltensstörungen Tanja Sappok Donnerstag, 21. April 2016 Klinik St. Urban, St. Urban 1
2 Die Schaltzentrale der Gefühle ALLES STEHT KOPF - Ekel und Wut - Disney HD 2
3 Das emotionale Gehirn Quelle: Die Welt / Wissen
4 Die emotionale Entwicklung des Menschen Entwicklung ist abhängig von: 1. Biologischer Hirnreifung 2. Umgebungsfaktoren Persönlichkeit als Resultat 4
5 Meilensteine der emotionalen Entwicklung 2. Lebensmonat: Soziales Lächeln Geburt: Erregung/Entspannung / Integration von Wahrnehmungen 6. Lebensmonat: Blickfolgebewegungen, Fremdeln Lebensmonat: Objektpermanenz - innere, mentale Repräsentation (Bild) der physischen Umwelt 1. Jahr: Freude, Ärger, Angst, Trauer 1,5 Jahre: Eifersucht 2 Jahre: Selbst/Fremd-Differenzierung, Spiegeltest! 3. Jahr: Bindung 4. Jahr: Theory of Mind / Mitgefühl, Scham, Stolz 6. Jahr: Moral, logisches Denken / Ironie, Witz, Lüge,... Menschen mit Intelligenzminderung durchlaufen grundsätzlich die gleichen Entwicklungsphasen, allerdings läuft die Entwicklung verzögert ab. 5
6 Phasenmodell der emotionalen Entwicklung 1. ADAPTION Erste Lebensmonate 2. SOZIALISATION 1. Lebensjahr 3. INDIVIDUATION 2-3 Jahre Schema der Emotionalen Entwicklung Photos: Fotolia 4. IDENTIFIKATION 3-7 Jahre 5. REALITÄTS- BEWUßTSEIN 7 12 Jahre 6
7 Adaption - Neugeborenenphase Referenzalter: 0-6 Monate Selbst nach der Geburt UNZERTRENNLICH MrTheTubeGamer Anpassung an das Leben außerhalb der Mutter Verschwommene Körpergrenzen, kein eigenes Körper-Ich Körperliche und psychische Einheit mit Bezugsperson Integration von Wahrnehmungen und äußerer Strukturen Körperliche Grundbedürfnisse: Warm, satt, schmerzfrei,... 7
8 Sozialisation Fremdelphase Referenzalter: 6-18Monate Video Babys unterhalten sich DUPERWORLD Orientierung an Bezugspersonen; Vertrauensbasis Lösung aus dem emotionalen Einssein mit der Mutter Ausprobieren eigener Fähigkeiten; Einsatz von Werkzeugen Beginn der Entwicklung eines Körperschemas Objektpermanenz: Etwas ist da, auch wenn ich es nicht sehe Grundbedürfnis: Bindung/Sicherheit 8
9 SEO-2: Gestalterischer Ausdruck SEO Jahre, schwere Intelligenzminderung: Körper wird gezielt zur ExploraMon eingesetzt; erste Hiebkritzel entstehen; der Riss im Bild weist auf noch wenig koordinierte Bewegungen hin; erste spurgebende Materialien werden gegriffen; der Schwung des Arms produziert die Kritzel; noch keine Darstellungsabsicht; Freude an der Bewegung steht im Vordergrund. 9
10 Amorphe Massen 10
11 Amorphe Massen 11
12 Individuation Trotzphase Referenzalter: 8-36 Monate ALLES STEHT KOPF - Offizieller Trailer (German) - Disney HD Entdeckung des eigenen Willens: Ich-Du Differenzierung Symbiose-Autonomie Konflikt: Loslösung Erobern der Welt, Spiel neben anderen, Frustrationstoleranz ê Beginn logischen Denkens und Kompromissfähigkeit Kommunikationsfähigkeit bei räumlichem Abstand Grundbedürfnis: Autonomie 12
13 SEO-3: Gestalterischer Ausdruck SEO Jahre, miyelgradige IM: verschiedene Kritzelformen; Kreisschluss; dann Zusammensetzung verschiedener Kritzel zu geometrischen Grundformen. SEO Jahre, schwere IM: Kreiskritzel, zunehmend gerichtete UmfeldexploraMon; aus dem Handgelenk; Bewegung kann willentlich verlangsamt, unterbrochen oder wieder aufgenommen werden. 13
14 Identifikation - Kindergartenalter Referenzalter: 4-7 Jahre Silento- Watch Me (Whip/Nae Nae)#WatchMeDanceOn Gefestigte emotionale Bindung zu Bezugsperson Interesse an Gleichaltrigen wächst, Gruppenfähigkeit Entwicklung eines realistischeren Selbstbildes Unterscheidung zwischen Phantasie und Realität Entwicklung von Einfühlungsvermögen, Empathie Grundbedürfnis: Zugehörigkeit 14
15 SEO-4: ICH-Bildung SEO-4: 56 Jahre, miyelgradige IM: Zeichnet gegenständlich; konkrete MoMve, die sich aus Grundformen ableiten; Komb. aus Kreisen und Strichen zu schwebenden Tastkörpern und Strahlenfiguren; Kopfüßler. 15
16 SEO-4: 27 Jahre, miyelgradige IM: stehender Kopffüßer SEO-4: 53 Jahre, miyelgradige IM: GeschlechtsidenMtät entsteht (Hut). Körperschema besser ausgestaltet; Kopcereich erweitert um Bauch und je 2 x 2 Gliedmaßen; Kleidung angedeutet. 16
17 Realitätsbewußtsein - Schulalter Referenzalter: 7 12 Jahre Logisches, rationales Denken Moralisches Handeln Aktiver Umgang mit Gleichaltrigen Einsichts- und Kompromissfähigkeit Realistische Einschätzung der einen Kräfte und Fähigkeiten Aktiver Umgang mit Gleichaltrigen, Kräftemessen, kompetitiv Grundbedürfnis: Anerkennung/Status 17
18 SEO-5: Karl Ove Knausgard, SPIELEN Mit Sverre und mir war Eivind der Beste in der Klasse. Er war der Beste im Rechnen, Sverre war darin der Zweitbeste und ich der Drittbeste. Ich war der Beste im Lesen und Schreiben, Eivind was Zeitbester und Sverre Drittbester. Eivind war jedoch schneller als ich, von den Jungen in unserer Klasse lief nur Trond schneller als er. Ich war der Sechstschnellste. Außerdem war er stärker als ich. Ich war der Zweitschwächste, nur Vermund war schwächer aber da er der Dickste und Dümmste in der Klasse war, zählte er nicht, und das war natürlich schlecht für mich. Sogar Trond, der Kleinste in unserer Klasse, war stärker als ich. Ich war der Drittgrößte in der Klasse, ein bisschen größer als er. Beim Fußball war ich der Viertbeste, mir überlegen waren Asgeir, Trond und John, wogegen Eivind der Fünftbeste war. Zeichnen konnte ich besser als er, noch besser waren nur Geir, der alles zeichnen konnte, wie es aussah. Und Vermund. Aber beim Weitwurf mit dem Schlagball war ich der Zweitschlechteste, auch in dieser Disziplin lag nur Vermund hinter mir... 18
19 Emotionale Grundbedürfnisse Selbstverwirklichung Wertschätzung Zugehörigkeit Sicherheit Körperliches Wohlbefinden Maslowsche Bedürfnispyramide *in rot: Ergänzungen, nicht im anderen Modell enthalten SEO-5 SEO-4 SEO-3 SEO-2 SEO-1 Dosens Entwicklungsmodell 19
20
21 Konsistenztheorie nach Grawe Grundbedürfnisse Motivationale Schemata Erleben & Verhalten Konsistenztheoretisches Modell psychischer Regulation nach Grawe (2004) Aus: Die Psychotherapieprüfung, Schattauer Verlag, Abb. 2.1 Um Kongruenzerfahrungen zu ermöglichen, sollten die allgemeinen menschlichen Grundbedürfnisse berücksichtigt werden, die die Auswahl motivationaler Schemata bestimmen. 21
22 1 evel Homöostase 0-6 Monate 2 Bindung 6-18 Monate 3 Autonomie Monate 4 5 EGO Formation Königin Elisabeth Realitätsbewußtsein Herzberge 4-7 Akademisches Jahre Lehrkrankenhaus der Charité 7-12 Jahre Emotionale Entwicklung Emotional sozial Angst, Affektdifferenzierung, Aggressionsregulation, Selbsterleben Interaktion mit Gleichrangigen und Betreuenden Umgang mit dem eigenen Körper, Umgang mit Materialien Verbale Kommunikation, Objektpermanenz Sensomotorisch kognitiv Verhalten 22
23 Entwicklungsdiskrepanzen bei IM Körperliche Entwicklung Kognitive Entwicklung Emotionale Entwicklung AUTISMUS Hirnerkrankungen Zeit/Lebensjahre 23
24 Fokus des Umfelds bei Menschen mit IM Körperlich Kognitiv emotional Was kann passieren, wenn der emotionale Entwicklungsstand und die damit verbundenen Grundbedürfnisse nicht beachtet werden? 24
25 Ursachen von Verhaltensstörungen Demenz etc [-14.04, 17.07] ns Schizophrenien 6.98 [-1.38, 15.34] ns Depressionen 6.89 [-0.96, 14.74] ns Anpassungsstörungen Persönlichkeits -störungen 0.11 [-9.62, 9.83] ns [-19.02, 12.12] ns Autismus [9.81, 23.92] p < Schweregrad der IM Emotionale Entwicklung 5.63 [0.65, 10.62] p = [-9.36, -3.24] p < Regressionskoeffizient β and 95% CI, N = 203 N = 203; 1/2008 6/2012 Sappok et al. JADD
26 Die wichmgsten Ursachen von Verhaltensstörungen bei Intelligenzminderung 1. Autismusspektrumstörungen 1. Stereotypie 2. Lethargie 3. (Selbstverletzung) 2. Niedrige emotionale Entwicklung 1. Irritabilität 2. Selbstverletzung 3. Jüngeres Lebensalter 1. Irritabilität 2. Hyperaktivität 3. Aggressivität N = 203; 1/2008 6/2012 Sappok et al. JADD
27 Konzeptualisierung Emotionaler Entwicklungsstörungen SEO-1 Adaption SEO-2 Sozialisation SEO-3 Individuation SEO-4 Identifikation ê ê ê ê Kontaktstörung Desintegrierte VS Desorganisierte Identifikations- Stereotypes Verhalten Stimmungsschw. VS störung Wutanfälle Wutanfälle Impulsivität Selbstverletzung Impulsivität Wutanfälle sofortige Bedürfnis- Fremdverletzung Widerspruch befriedigung Irritierbarkeit Hyperaktivität Sappok et al., Psychiatrische Praxis 2012; Sappok et al., Fortschr Neurol Psychiat
28 Die 4. Dimension: Erweiterung des bio-psycho-sozialen Krankheitsmodells 1 BIO: Körper 3 SOZIAL: Umgebungsfaktoren Der Mensch 2 PSYCHO: Psychische Störungen 4 EMOTION: Emotionale Grundbedürfnisse! 28
29 Diagnostik bei Verhaltensauffälligkeiten 15% 15% Körperliche Diagnostik 30% Psychiatrische Diagnostik Verhaltensstörung? Aberrant Behavior Checklist (ABC) 40% 1. IQ? DAS 2. EE? SEO (hoher Irritierbarkeit und SVV!) 3. Autismus? DiBAS-R/ACL (Lethargie und Stereotypie!) 4. Verhaltensphänotyp? Genetische Diagnostik 5. Umfeld? Funktionale Analyse 29
30 Zusammenfassung: Diagnostik 1. Körperliche und psychiatrische Diagnostik 2. Bei Verhaltensstörungen: 1. IQ? 2. SEO? 3. Autismus? 4. Verhaltensphänotyp? 5. Umfeld assoziiert? 3. Aberrant Behavior Checklist zur näheren Einordnung: 1. Hohe Irritierbarkeit: VA-Analyse oft nicht zielführend, SEO! 2. SVV: SEO, Autismus 3. Stereotypie/Lethargie: Autismus 30
31 Auffälliges Verhalten Kognitiver Entwicklungsstand Körperliche Krankheit Emotionaler Entwicklungsstand Verhaltensstörung Psychische Störung Autismus Soziales Problem bei genet. Syndrom Depression z. B. Betreuerwechsel Verhaltensphänotyp Schizophrenie Etc. 31
32 Der emotionale Entwicklungsansatz PRAXIS 32
33 SEO 1 basiertes Vorgehen Emotionales Referenzalter: Neugeborenen Ø körperorientierter, basaler Ansatz Befriedigung von körperlichen Grundbedürfnissen Ø Verdauung, kein Schmerz, kein Hunger, angenehm warm Fürsorgliche Grundhaltung Ø Kein Warten (unmittelbare Bedürfnisbefriedigung), kein Hunger,... Konstanz in der Umgebung Dosieren von Stimulationsfrequenz und -intensität 33
34 SEO-1: Sich selbst spüren N202 3 Arbeitsplatz (mit Stuhl) Evangelisches Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge Akademisches Lehrkrankenhaus der Charité H201 Vorderansicht Haus 9 N205 3 Schaukel (Motiv 3) H204 Therapiegarten Schaukel 3 Schaukel (MotivDer 2) emotionale Entwicklungsansatz DieN Dimension: 34
35 SEO-1: Basale Stimulation: sich selbst spüren 35
36 SEO-1: Snoezelen 36
37 SEO 2 basiertes Vorgehen Emotionales Referenzalter: ca. 1 Jahr Ø Sicherheit/Bindung Entwicklung tragfähiger, fester Bindungen zu 1-2 Bezugspersonen Ø ggf. Ablöseprozess z.b. von der Mutter unterstützen Bedürfnis nach Körperkontakt stillen Ø z.b. Mithilfe großer Handpuppen, Berührung an Händen... Weiterentwicklung von Objektpermanenz Ø Kuckuck/Versteck-Spiele Arbeiten mit Übergangobjekten bei Situationswechsel Ruhige, reizarme Umgebung Reduktion der Grundanspannung durch körperliche Aktivitäten 37
38 SEO-2: Arbeiten mit Übergangsobjekten 38
39 SEO-2: Bindungsbeziehungen entwickeln Bindungsbeziehung entwickeln Ein Arbeitsbuch für die Gestaltung einer engen Bindungsbeziehung mit Kindern oder Erwachsenen mit schwerer geistiger oder mehrfacher Behinderung Paula Sterkenburg 39
40 SEO 3 basiertes Vorgehen Emotionales Referenzalter: 1,5 3 Jahre Ø Autonomieentwicklung Balance zwischen Grenzsetzung und Nachsichtigkeit Aufmerksamkeit geben (unabhängig vom Verhalten) Deutliche Struktur geben Ø Vorhersehbarkeit z.b. bei Tagesablauf, Umgangsregeln Positive Bestätigung der eigenen Person Ø Verantwortung für bestimmte Bereiche übertragen Ø Tierpflege, Hausarbeiten, etc. Soziale Verhaltensregeln einführen (nicht schlagen, etc.) Sofortige positive Verstärkung erwünschten Verhaltens Regelmäßige körperliche Aktivitäten 40
41 SEO-3: Einfache Regeln Unsere Regeln auf Station P08 Liebe Patienten! Alle Patienten wollen gesund werden. Deshalb müssen Sie auf unsere Regeln achten. Das ist erlaubt! Das ist nicht erlaubt! Manchmal gibt es Probleme oder streit. Bitte sprechen Sie dann mit unseren Mitarbeitern! 41
42 SEO-3: Einfache Verhaltensregeln Evangelisches Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge Akademisches Lehrkrankenhaus der Charité 42
43 SEO-3: Einfache Tokenkonzepte Belohnung erwünschten Verhaltens Beispiel für das Greifbarmachen von Erfolgen (Tokenpläne): 43
44 SEO-3: Aktivitäten strukturieren 44
45 Bedeutung des SEO Ergebnis von 50 Jahren Emanzipation Ø Menschen mit gb werden als erwachsene Menschen gesehen Folge Ø Wertschätzender, erwachsener (distanzierter) Umgang Erweitern wir den Begriff Erwachsensein! Ø Erwachsensein mit kindlichen Bedürfnissen 45
46 Harald Martenstein im Zeitmagazin 25/2015 Eine meiner Lieblingsbeschäftigungen besteht zurzeit darin, mit Bauklötzchen zu spielen. Das macht wirklich großen Spaß. Man baut Häuser, Burgen, Brücken, es ist wirklich toll, und es entspannt auch. Manchmal baue ich einen hohen Turm, so hoch es nur geht. Bis zum Himmel. Und wenn der Turm dann umstürzt, klatsche ich in die Hände und rufe Juchhu! Ich gehe auch wieder gern auf den Spielplatz. Ich schaukele, rutsche und wippe. Ich spiele gerne Verstecken. Erinnern Sie sich, wann Sie zum letzten Mal Verstecken gespielt haben? Das sollte man viel öfter tun, im Büro, im Supermarkt, überall. Einer der größten Vorteile des Kinderkriegens besteht darin, dass man als Erwachsener wieder all die Kindersachen machen kann, ohne dumm angeschaut zu werden. Ein Kind ist das perfekte Alibi... 46
47 Teamleistung ist mehr als die Summe der Einzelleistungen J 47
48 LITERATUR Anton Dosen: Psychische Störungen, Verhaltensprobleme und intellektuelle Behinderung, Hogrefe Verlag Barbara Senckel: Du bist ein weiter Baum, Beck Verlag Paula Sterkenburg: Bindungsbeziehungen entwickeln, Bartimeus Verlag NEU ab Frühjahr 2016 im Hogrefe Verlag Tanja Sappok & Sabine Zepperitz Das Alter der Gefühle Über die Bedeutung der emotionalen Entwicklung bei geistiger Behinderung 48
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