Bertolt Brecht: Lob der Dialektik
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- Wilhelm Bergmann
- vor 7 Jahren
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Transkript
1 Bertolt Brecht: Lob der Dialektik Das Unrecht geht heute einher mit sicherem Schritt. Die Unterdrücker richten sich ein auf zehntausend Jahre. Die Gewalt versichert: So, wie es ist, bleibt es. Keine Stimme ertönt außer der Stimme der Herrschenden Und auf den Märkten sagt die Ausbeutung laut: Jetzt beginne ich erst. Aber von den Unterdrückten sagen viele jetzt: Was wir wollen, geht niemals. Wer noch lebt, sage nicht: niemals! Das Sichere ist nicht sicher. So, wie es ist, bleibt es nicht. Wenn die Herrschenden gesprochen haben Werden die Beherrschten sprechen. Wer wagt zu sagen: niemals? An wem liegt es, wenn die Unterdrückung bleibt? An uns. An wem liegt es, wenn sie zerbrochen wird? Ebenfalls an uns. Wer niedergeschlagen wird, der erhebe sich! Wer verloren ist, kämpfe! Wer seine Lage erkannt hat, wie soll der aufzuhalten sein? Denn die Besiegten von heute sind die Sieger von morgen Und aus Niemals wird: Heute noch!
2 Lob des Revolutionärs Wenn die Unterdrückung zunimmt Werden viele entmutigt Aber sein Mut wächst. Er organisiert seinen Kampf Um den Lohngroschen, um das Teewasser Und um die Macht im Staat. Er fragt das Eigentum: Woher kommst du? Er fragt die Ansichten: Wem nützt ihr? Wo immer geschwiegen wird Dort wird er sprechen Und wo Unterdrückung herrscht und von Schicksal die Rede ist Wird er die Namen nennen. Wo er sich zu Tisch setzt Setzt sich die Unzufriedenheit zu Tisch Das Essen wird schlecht Und als eng wird erkannt die Kammer. Wohin sie ihn jagen, dorthin Geht der Aufruhr, und wo er verjagt ist Bleibt die Unruhe doch.
3 Der große Oktober O großer Oktober der Arbeiterklasse! Endliches Sichaufrichten der so lange Niedergebeugten! O Soldaten, die ihr Endlich die Gewehre in die richtige Richtung gerichtet! Die den Boden bestellten im Frühjahr Taten es nicht für sich selber. Der Sommer Beugte sie tiefer. Noch die Ernte Ging in die Scheuer der Herren. Aber der Oktober Sah das Brot schon in den richtigen Händen! Seitdem Hat die Welt ihre Hoffnung. Der Kumpel in Wales und der mandschurische Kuli Und der pennsylvanische Arbeiter, der unter dem Hund lebt Und der deutsche, mein Bruder, der jenen Noch beneidet: sie alle Wissen, es gibt Einen Oktober. Selbst die Flugzeuge der Faschisten, die Gegen ihn heraufkommen, sieht Der Soldat der spanischen Miliz darum Mit geringerer Sorge. Aber in Moskau, der berühmten Hauptstadt Aller Arbeiter Bewegt sich allhährlich über den Roten Platz, Der unendliche Zug der Sieger. Mit sich führend die Embleme ihrer Fabriken Abbilder der Traktoren und die Wollbüsche der Textilwerke
4 Auch die Ährenbündel der Getreidefabriken. Über sich ihre Kampfflugzeuge Die den Himmel verdunkeln, und vor sich Ihre Regimenter und Tankgeschwader. Auf breiten Tuchstreifen Tragen sie ihre Losungen und Die Bildnisse ihrer großen Lehrer. Die Tücher Sind durchsichtig, so daß All dies zugleich sichtbar ist. Schmal, an dünnen Stecken Wehen die hohen Fahnen. In den entfernteren Straßen Wenn der Zug ins Halten kommt Leben Tänze auf und Weltfestspiele. Fröhlich Ziehen die Züge, viele nebeneinander, fröhlich Aber allen Unterdrückern Eine Drohung. O großer Oktober der Arbeiterklasse!
5 Die Teppichweber von Kujan-Bulak ehren Lenin Oftmals wurde geehrt und ausgiebig Der Genosse Lenin. Büsten gibt es und Standbilder. Städte werden nach ihm benannt und Kinder. Reden werden gehalten in vielerlei Sprachen Versammlungen gibt es und Demonstrationen Von Shanghai bis Chicago, Lenin zu Ehren. So aber ehrten ihn die Teppichweber von Kujan-Bulak Kleiner Ort im südlichen Turkestan: Zwanzig Teppichweber stehn dort abends Fiebergeschüttelt auf von dem ärmlichen Webstuhl. Fieber geht um: die Bahnstation Ist erfüllt von dem Summen der Stechmücken dicker Wolke Die sich erhebt aus dem Sumpf hinter dem alten Kamelfriedhof. Aber die Eisenbahn, die Alle zwei Wochen Wasser und Rauch bringt, bringt
6 Eines Tages die Nachricht auch Daß der Tag der Ehrung des Genossen Lenin bevorsteht, Und es beschließen die Leute von Kujan-Bulak Arme Leute, Teppichweber Daß dem Genossen Lenin auch in ihrer Ortschaft Aufgestellt werde die gipserne Büste. Als nun aber das Geld gesammelt wird für die Büste Stehen sie alle geschüttelt vom Fieber und zahlen Ihre mühsam erworbenen Kopeken mit fliegenden Händen. Und der Rotarmist Stepa Gamalew, der Sorgsam Zählende und genau Schauende Sieht die Bereitschaft, Lenin zu ehren, und freut sich Aber er sieht auch die unsicheren Hände. Und er macht plötzlich den Vorschlag Mit dem Geld für die Büste Petroleum zu kaufen und Es auf den Sumpf zu gießen hinter dem alten Kamelfriedhof Von dem her die Stechmücken kommen, welche Das Fieber erzeugen. So also das Fieber zu bekämpfen in Kujan-Bulak, und zwar Zu Ehren des gestorbenen, aber Nicht zu vergessenden Genossen Lenin. Sie beschlossen es. An dem Tage der Ehrung trugen sie Ihre zerbeulten Eimer, gefüllt mit dem schwarzen Petroleum
7 Einer hinter dem anderen hinaus Und begossen den Sumpf damit. So nützten sie sich, indem sie Lenin ehrten und Ehrten ihn, indem sie sich nützten, und hatten ihn Also verstanden. Wir haben gehört, wie die Leute von Kujan-Bulak Lenin ehrten. Als nun am Abend Das Petroleum gekauft und ausgegossen über dem Sumpf war Stand ein Mann auf in der Versammlung, und der verlangte Daß eine Tafel angebracht würde an der Bahnstation Mit dem Bericht dieses Vorgangs, enthaltend Auch genau den geänderten Plan und den Eintausch der Leninbüste gegen die fiebervernichtende Tonne Petroleum. Und dies alles zu Ehren Lenins. Und sie machten auch das noch Und setzten die Tafel.
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