Fünf Leitfragen. Schulisches Versagen und gesellschaftliches Problem. oder Medienhype? (1) Ist Rechtschreibung (heute noch) wichtig?
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- Helmuth Beltz
- vor 7 Jahren
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1 Schulisches Versagen und gesellschaftliches Problem oder Medienhype? Fünf Leitfragen 1. Ist Rechtschreibung (heute noch) wichtig? 2. Wie schlecht sind die schriftsprachlichen* Leistungen heute tatsächlich? 3. Gibt es im Vergleich zu früher einen Leistungsverfall? 4. Welche Bedeutung haben neue Unterrichtsmethoden? Vortrag von Hans Brügelmann im FB 12 der Universität Bremen am Was ist im Unterricht konkret zu bedenken? (1) Ist Rechtschreibung (heute noch) wichtig? Eine verbindliche Rechtschreibung erleichtert das Lesen* erheblich. Die Lese-/Schreibanforderungen haben an Breite und Anspruch zugenommen** - Umfang und Qualität der Rechtschreib-/ Lesehilfen (s. RS-Kontrolle in der Textverarbeitung) aber auch. Das Normbewusstsein ist liberaler geworden - aber zugleich ist Rechtschreibung immer noch ein beliebtes Selektionsinstrument, auch im Alltag. Alltagstauglichen Rechtschreibkompetenz bedeutet heute aber anderes als früher: - eigene und fremde Texte kontrollieren und überarbeiten* - häufige Wörter automatisiert richtig schreiben - Verfahren kennen, um Lernwörter selbstständig zu üben - über Rechtschreibung nachdenken ( Rechtschreibgespür) - bei Unsicherheit die richtige Schreibweise nachschlagen - Strategien zur Erschließung der Schreibung unbekannter Wörter kennen und passend anwenden** - Faustregeln für RS-Besonderheiten finden und nutzen*** Zwischenbilanz (1) Die gängigen Testverfahren erfassen nur einen kleinen Ausschnitt der Rechtschreibkompetenz Vergleiche mit früher sind deshalb - und wegen unterschiedlicher Ziele bzw. Anforderungen - nur eingeschränkt möglich. (2) Wie schlecht sind die schriftsprachlichen Leistungen heute? Schwierig zu bestimmen* Beispiel leo. (2012): Wie viele Analphabeten gibt es? 0,5 % Lesen: nicht einmal Wortebene 3,9 % noch nicht Satzebene 10,0 % nur kurze Sätze 14,4 % = Probleme mit einfachen Texten + 25,9 % gebräuchliche Wörter fehlerhaft geschrieben 1
2 Zwischenbilanz (2): Zu viele (junge) Menschen können nicht gut genug lesen und (recht)schreiben (3) Gibt es einen Schriftsprachverfall? Je nach Zeit, Aufgabentyp, Altersgruppe, Stichprobe* Dieser Befund gilt allerdings auch für alle anderen Leistungsbereiche. Erwachsenen-Studien IALS (OECD 1995): Grundschule 1930er 1970er Lesen ist wie auch international - besser geworden Zwischenbilanz (3): Die Situation war früher nicht besser - es gibt keinen generellen Leistungsverfall leo. (Grotlüschen/ Riekmann 2012): 1950er 1990er Deutschland: Lesen besser, Rechtschreibung konstant PIAAC (OECD 2013): 1950er 1990er Lesen ist wie auch international - besser geworden Andererseits sind die schriftsprachlichen Anforderungen gestiegen in der Breite und in der Höhe. (4) Welche Bedeutung haben neue Unterrichtsmethoden? Die Befunde sind auch hier widersprüchlich*: z. B.** Lesen durch Schreiben RS anfangs besser, Klasse 2/3 eher schwächer, in Klasse 4 angenähert z. B.*** Migrantenkinder in RS nach LdS schwächer als mit Fibel aber im Lesen besser! und wegen mehrdeutiger Definitionen der Methoden ( lernwegorientiert : Spracherfahrungsansatz nicht = LdS; Fibel nicht = Fibel ) schwer einzuschätzen Eine Rückkehr zu den bewährten alten Methoden verspricht keine Besserung Dagegen sprechen: die sehr uneinheitlichen Befunde aus den Vergleichsstudien unterschiedlicher Methoden meist mit einem Leistungspatt nach Ende der Grundschulzeit; - die hohen Zahlen von Analphabeten, Legasthenikern in früheren Zeiten; - die veränderten Anforderungen an Rechtschreibkönnen heute; - die lerntheoretische Erkenntnis, dass Kompetenzerwerb immer Raum für eigene Regelbildung erfordert 2
3 Bis in die orthographischen Phase hinein sind eigenaktive Regelbildungen normal Ende 1. Klasse schreiben fünf Kinder... Wie beim Erst- und beim Fremdspracherwerb vereinfachen LernerInnen auch beim Schriftspracherwerb die Komplexität des Systems, um es sich schrittweise aneignen zu können. Neu Gelerntes wird zunächst (auch falsch) übergeneralisiert und erst allmählich differenziert (z. B. BRUDA, VATA usw.: OPA OPER ). nicht RICHTIG vs FALSCH, sondern Fehler-QUALITÄT KINNO KIENO Zwischenbilanz (4) : Empirische Vergleiche verschiedener Ansätze sind methodisch problematisch und über die konkret untersuchten Klassen hinaus nur eingeschränkt aussagekräftig. Methoden wirken konzept- und kontextspezifisch*, es kommt dabei in starkem Maße auf die individuellen Bedürfnisse einzelner Kinder - und auf die Kompetenz der Lehrperson an (5) Was ist im Unterricht konkret zu bedenken? Lehrer/innen können mit unterschiedlichen Methoden erfolgreich sein, WENN wenn sie den jeweiligen Ansatz und seine Grundlagen verstehen, wenn sie über ein breites* methodisches Repertoire verfügen, um auf unterschiedliche Situationen/ Schwierigkeiten eingehen zu können und wenn sie neben dem besonderen Potenzial auch die spezifischen Risiken kennen und beachten Wörter als Lautfolge lesbar zu verschriften (alphabetische Strategie) ist die Grundlage des Schriftspracherwerbs AnfängerInnen müssen grundsätzlich verstehen, dass sich die Schrift an der Lautform der Wörter orientiert.* Sie müssen konkret die gängigen Schrift-Laut- Korrespondenzen kennen(lernen) und anwenden können.** 3
4 Aber auch: Die Orientierung auf die Rechtschreibnormen von Anfang an ist wichtig* - sichtbar als Modell durch die Rückmeldungen an die Kinder zu ihren frei geschriebenen Texten ( Übersetzung in Buchschrift durch die Lehrperson) - eingefordert als Anspruch an die Veröffentlichung ( zunehmend selbstständige Überarbeitung mit Hilfsmitteln**) Zusatzfrage 5a: Werden Kinder mit Migrationshintergrund/ Dialekt* oder aus schriftfernen Milieus** durch freies Schreiben mit der Anlauttabelle benachteiligt? - immer wieder bewusst gemacht als Ziel schulischen Lernens ( Forscheraufgaben, Übung häufiger Wörter) Auch schwache Rechtschreiber brauchen keinen anderen Unterricht - denn sie lernen grundsätzlich auf dieselbe Weise aber von einem anderen Ausgangspunkt aus Hamburger Längsschnitt von Peter May FA-R-T Lernzuwachs heißt nicht richtig statt falsch, sondern bessere Fehler (Entwicklungslogik) Qualitativer Karawaneneffekt in der Rechtschreibung May (1990) FA-R-T Gute Rechtschreiber machen dieselben Fehler wie der Durchschnitt FA-R-T F F---R-T FA--R-T Schwache Rechtschreiber sind zum falschen Zeitpunkt normal 4
5 Auch schwache Rechtschreiber brauchen keinen anderen Unterricht* - ABER richtig: Fortschritte nicht naturwüchsig Kinder brauchen oft: - mehr Aufmerksamkeit für die Entwicklungsschritte - auf den Entwicklungsstand bezogene Aufgaben - thematisch besonders motivierende Anregungen - mehr Unterstützung und Zuwendung - gezieltere methodische Hilfen - klarere Absprachen über die Arbeitsorganisation Zusatzfrage 5b: Wann ist das Rechtschreiblernen abgeschlossen? Nicht mit dem Ende der Grundschulzeit! Rechtschreib- (und Lese-)Förderung ist eine Aufgabe der Schule bis zum Ende der Sekundarstufe II. Rechtschreibentwicklung: Fehlerabnahme im freien Text von Klasse 1 bis 4: von 40+ auf >15% von Klasse 5 bis 10: weiter auf 1-3% Fazit 5: Warum die Befunde der Methoden-Forschung so unübersichtlich sind - und was daraus für die Schulpraxis folgt: kontrollierte Experimente nicht alltagsvalide möglich* konzept- und kontextabhängige Umsetzung bedeutsam Streuung um Durchschnittswerte kein Schmutzeffekt Methodenfreiheit professionelle Verantwortung Beweislast für Methoden aber nicht Verbote Quellen und weiterführende Literatur Grundlagen: Grundschule aktuell H. 124 (November 2013); bestellen über Kontroversen ( Hamburger Anhörung ): Vertiefung über verschiedene Beiträge, mit Verweisen auf die hier zitierte und auf weiterführende Literatur Aktuelles Praxishilfe: Brinkmann, E./ Bode-Kirchhoff, N. (2014): Kompetenzheft Rechtschreiben. ABC-Lernlandschaft. VPM/ Klett: Stuttgart. 5
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