STAATSRECHT III. Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und deutsches Recht
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- Annegret Günther
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1 Prof. Dr. Alexander Proelß WS 2013/2014 STAATSRECHT III TEIL 2: VÖLKERRECHT UND AUßENVERFASSUNGSRECHT III. Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und deutsches Recht 1. Überblick zur EMRK und zum EGMR Voller Titel: Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (kurz: Europäische Menschenrechtskonvention EMRK) = völkerrechtlicher Vertrag, den die Mitgliedstaaten des Europarats 1950 geschlossen haben (Ratifikation Deutschland: 1952) o Europarat = internationale Organisation mit Sitz in Straßburg, 47 Mitglieder (beachte: nicht zu verwechseln mit dem Europäischen Rat und dem Rat der Europäischen Union; der Europarat hat mit dem Recht der Europäischen Union prinzipiell nichts zu tun) Ziel: nach dem Zweiten Weltkrieg sollte ein gemeineuropäischer Mindeststandard von Grundrechten und Grundfreiheiten formuliert werden, der gemeinsame Werte und ein gemeinsames Rechtsverständnis zum Ausdruck bringt EMRK ist ein Beispiel für einen Konstitutionalisierungsprozess in Europa: Die EMRK gilt als überstaatliche Grundrechtsverfassung, weil das Abkommen effektiv umgesetzt wird und es zu einer Rechtsanpassung jedenfalls im Sinne eines Mindeststandards kommt a) Inhalt der EMRK Art. 2 bis 14 EMRK kodifizieren klassische Menschenrechte o Unterschied zum GG: z.b. keine Garantie der Berufsfreiheit wie Art. 12 GG; kein Auffanggrundrecht wie Art. 2 I GG; dafür werden aber andere Rechte ausdrücklich normiert, die in Deutschland zum Teil über Art. 2 Abs.1 i.v.m. anderen Garantien geschützt werden, z.b. das Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 EMRK); Achtung des Privatlebens (Art. 8 EMRK); ausdrückliches Folterverbot (Art. 3 EMRK) 1
2 Verfahrensrechte: Art. 6 EMRK = überaus praxisrelevantes fair-trial-recht, beinhaltet u.a. Rechtsschutz in angemessener Zeit und die Unschuldsvermutung Gleichheitsrecht: Art. 14 EMRK, aber kein allgemeiner Gleichheitssatz, sondern akzessorisches Diskriminierungsverbot; Art. 14 EMRK kommt daher nur i.v.m. einem Freiheitsrecht zum Tragen und verbietet Ungleichbehandlungen bei der Ausübung derselben Zusatzprotokolle (ZP): Regelung inhaltlicher und institutioneller Fragen durch zusätzliche völkerrechtliche Verträge; den Vertragsparteien der EMRK steht es frei, die Protokolle zu ratifizieren o Bsp.: 1. ZP zum Recht auf Eigentum; 6. ZP zur Abschaffung der Todesstrafe; 11. ZP zur institutionellen Neuordnung des Rechtsschutzes (u.a. Abschaffung der Menschenrechts-Kommission), 14. ZP zu weiteren Änderungen, um mit der Verfahrensflut umzugehen (u.a. Zuweisung der Befugnis, Beschwerden als unzulässig zu verwerfen, an Einzelrichter, Stattgaben durch Ausschüsse) o durch Protokoll ist auch der Weg geebnet worden, dass die EU der EMRK beitreten kann (bislang nicht geschehen) b) Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Besonderheit der EMRK im Vergleich zu anderen Menschenrechtsverträgen: Rechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit Sitz in Straßburg o Jeder Mitgliedstaat entsendet einen Richter (für Deutschland: Angelika Nußberger) o Effektives Rechtsschutzsystem, das dem Einzelnen gegen seinen Heimatstaat Rechtsschutz gewährt; maßgebliches Instrument: sog. Individualbeschwerde (vgl. Art. 34 EMRK) Entscheidungsgremien (vgl. Art. 27 EMRK): o Einzelrichter (darf nur als unzulässig verwerfen, aber nicht in der Sache entscheiden) o Ausschüsse mit drei Richtern (dürfen einstimmig stattgeben, wenn bereits gefestigte Rechtsprechung existiert) o Kammern mit sieben Richtern sind die eigentlichen Gremien, die über Zulässigkeit und Begründetheit entscheiden o bei Verfahren von besonderer Bedeutung kann an die Große Kammer mit 17 Richtern verwiesen werden Verfahren vor dem EGMR: 2
3 o ursprünglich war dem EGMR die Europäische Kommission für Menschenrechte vorgeschaltet, die über Fälle in Form von Berichten entschied und gegen deren Entscheidung Berufung zum Gerichtshof eingelegt werden konnte; seit 1998 gibt es nur noch den Gerichtshof o Zulässigkeit einer Individualbeschwerde: Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs (vgl. Art. 35 Abs. 1 EMRK) für Deutschland inkl. erfolgloser Verfassungsbeschwerde Hintergrund: es soll sichergestellt werden, dass auf nationaler Ebene wirklich alle Möglichkeiten ausgeschöpft wurden, einen Verstoß gegen die Konvention zu beheben Frist zum Einlegen der Beschwerde: 6 Monate (vgl. Art. 35 Abs. 1 EMRK) o Rechtsmittel: ein Ausschuss von fünf Richtern kann Rechtsmittel gegen eine Kammerentscheidung zulassen, dann wird der Fall zur Neuentscheidung an die Große Kammer verwiesen Wirkungen der Urteile: o Feststellungsurteile, d.h. der Gerichtshof stellt nur fest, dass gegen die Konvention verstoßen worden ist; er kann Gesetze oder Urteil nicht aufheben, verfügt also nicht über supranationale Befugnisse gegen Deutschland gerichtete Urteile des EGMR müssen in der nationalen Rechtsordnung umgesetzt werden gemäß Art. 46 Abs. 1 EMRK sind Mitgliedstaaten verpflichtet, einen völkerrechtsgemäßen Zustand herzustellen, z.b. ein Gesetz zu ändern oder einen VA zurückzunehmen (Ministerkomitee überwacht Einhaltung der Urteile) ohne dass sich eine entsprechende Kompetenz des EGMR aus der EMRK ergäbe, ist der Gerichtshof im Falle struktureller Defizite in der Rechtsordnung eines Mitgliedstaats, die zu einer Vielzahl gleich gelagerter Individualbeschwerden führt, dazu übergegangen, im Rahmen sog. Piloturteilsverfahren konkrete Änderungen des nationalen Rechts innerhalb einer bestimmten Frist zu fordern o Urteile des EGMR durchbrechen also nicht die Rechtskraft konventionswidriger nationaler Gerichtsentscheidungen Einführung spezieller Wiederaufnahmegründe in 359 Nr. 6 StPO, 580 Nr. 8 ZPO) o Pflicht zur Umsetzung der Urteile des EGMR ist auf den konkreten Streitgegenstand beschränkt Urteile binden daher grundsätzlich nur den verurteilten Staat, vgl. Art. 46 Abs. 1 EMRK; andere Mitgliedstaaten mit gleicher Rechtslage können Verurteilungen durch eine Rechtsanpassung vorbeugen (sog. Orientierungswirkung der Rechtsprechung des EGMR) 3
4 2. Geltung der EMRK in der deutschen Rechtsordnung a) Geltung und Wirkung der EMRK im deutschen Recht seit dem Vertragsgesetz von 1952 (vgl. Art. 59 Abs. 2 GG!) gilt die EMRK im deutschen Recht im Rang eines einfachen Gesetzes; trotzdem ergeben sich Besonderheiten im Vergleich zu anderen völkerrechtlichen Verträgen o Die einzelnen menschenrechtlichen Garantien sind unmittelbar anwendbar; es bedarf also keiner konkreten Umsetzungsgesetze. o Mitgliedschaft Deutschlands führt zu einer Verdoppelung des Grundrechtsschutzes (möglicherweise sogar Verdreifachung bei der Umsetzung von EU- Recht, weil dann eine Bindung des nationalen Gesetzgebers an die Grundrechtecharta der EU bestehen kann) EMRK wird von späteren Gesetzen nicht verdrängt (keine lex posterior-regel), d.h. jedes nationale Gesetz muss im Einklang mit der EMRK ausgelegt und angewendet werden o Dies ergibt sich bereits aus dem Verfassungsgrundsatz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung: Wenn es mehrere Auslegungsvarianten einer Norm des deutschen Rechts gibt, ist diejenige Vorschrift zu wählen, die mit den Vorgaben des Völkerrechts in Einklang steht. o Dieser Grundsatz ist im GG nicht ausdrücklich kodifiziert, ergibt sich aber nach hm aus der Zusammenschau der das Außenverfassungsrecht konstituierenden GG-Normen (siehe Arbeitsblatt zur 1. Sitzung). o Auch die Grundrechte des GG müssen im Licht der parallelen Garantien der EMRK ausgelegt werden Bsp.: Das Gesetz zur nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung hätte die EMRK bei Anwendung der lex-posterior-regel innerstaatlich eigentlich verdrängen müssen. Das BVerfG hat indes im Nachgang zu einem Urteil des EGMR akzeptiert, dass die deutschen Grundrechte im Lichte der EMRK völkerrechtsfreundlich ausgelegt werden müssen und das Gesetz deshalb verfassungswidrig ist (vgl. BVerfGE 128, 326 ff.) vollständige Missachtung der EMRK (nicht: falsche Anwendung) durch ein deutsches Gericht wäre unter keinem denkbaren Gesichtspunkten mit der Gesetzesbindung nach Art. 20 Abs. 3 GG vereinbar und entbehrte damit jeglichen sachlichen Grundes Verstoß gegen das Willkürverbot des Art. 3 Abs. 1 GG 4
5 b) Geltung und Wirkung der Entscheidungen des EGMR im deutschen Recht über Art. 59 Abs. 2 i.v.m. Art. 20 Abs. 3 GG wirkt die Bindungswirkung der gegen die Bundesrepublik Deutschland gerichteten Entscheidungen des EGMR auch im innerstaatlichen Recht o Bindungswirkung beruht auf dem Umstand, dass die Zustimmung der Bundesrepublik Deutschland zur EMRK auch die Zuständigkeit des EGMR sowohl für Staaten- als auch für Individualbeschwerden (vgl. Art. 33 f. EMRK) sowie die Rechtswirkungen seiner Entscheidungen umfasst; sie kann prinzipiell daher nicht weiter reichen, als es die rechtskraftbezogenen Vorgaben der EMRK vorsehen aber: Grundgesetz hat sich hinsichtlich bestimmter Sachbereiche in besonderer Weise gegenüber dem Völkerrecht geöffnet o In den betroffenen Bereichen sind die deutschen Staatsorgane von Verfassung wegen verpflichtet, dem Völkerrecht Effektivität zu sichern und das Risiko der Nichtbefolgung internationalen Rechts zu vermindern. o Diese Pflicht ist jedoch nicht unbesehen für jede beliebige Bestimmung des Völkerrechts anzunehmen, sondern nur, soweit es dem in den Art. 23 bis 26 GG sowie in den Art. 1 Abs. 2, Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG niedergelegten Konzept des Grundgesetzes entspricht (BVerfGE 112, 1, 25). o Für die EMRK ist insoweit Art. 1 Abs. 2 GG bedeutsam: Diese Norm gewährt dem Kernbestand der internationalen Menschenrechte ungeachtet ihres insoweit nicht eindeutigen Wortlauts besonderen Schutz spezielles Gebot der menschenrechtsfreundlichen Auslegung der deutschen Rechtsordnung, das da unmittelbar auf verfassungsrechtlicher Ebene angelegt auch die Auslegung der Grundrechte erfasst. Dies gilt wegen Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG jedenfalls für menschenrechtliche Verträge wie der EMRK, denen die Bundesrepublik Deutschland beigetreten ist. Konsequenz: Nach Ansicht des BVerfG sind die staatlichen Organe auf der Grundlage von Art. 1 Abs. 2 i.v.m. Art. 59 Abs. 2 Satz 1 i.v.m. Art. 20 Abs. 3 GG verpflichtet, die Gewährleistungen der EMRK in ihrer konkreten Auslegung durch den EGMR auch über den konkreten Streitgegenstand hinaus zu berücksichtigen (vgl. BVerfGE 111, 307, 329; BVerfGE 128, 326, 367 ff.). o daher: Deutsche staatliche Organe müssen auch Entscheidungen des EGMR berücksichtigen, die gegen andere Vertragsparteien der EMRK ergangen sind. 5
6 o Berücksichtigen ist aber etwas anderes als eine starre Rechtsbindung; gemäß BVerfG bedeutet berücksichtigen, die Konventionsbestimmung in der Auslegung des Gerichtshofs zur Kenntnis zu nehmen und auf den Fall anzuwenden, soweit die Anwendung nicht gegen höherrangiges Recht, insbesondere gegen Verfassungsrecht verstößt. Die Konventionsbestimmung muss in der Auslegung des Gerichtshofs jedenfalls in die Entscheidungsfindung einbezogen werden, das Gericht muss sich zumindest gebührend mit ihr auseinander setzen (BVerfGE 111, 307, 329) o Pflicht zur Berücksichtigung einer Entscheidung des EGMR auch bei nichtidentischem Streitgegenstand führt somit dazu, dass sich ein deutsches Gericht dann, wenn es einer Norm der EMRK in ihrer Auslegung durch den EGMR nicht folgen will, sich mit dessen Urteil in besonderer Weise auseinandersetzen und substantiiert unter Bezugnahme auf Rechtsgüter von Verfassungsrang begründen muss, warum die einschlägige Norm abweichend zu interpretieren ist o besondere Darlegungsanforderungen o bei Missachtung dieser Vorgaben (d.h. Nichtberücksichtigung einer sachlich einschlägigen Entscheidung des EGMR): laut BVerfG ist es möglich, gestützt auf das einschlägige Grundrecht, in einem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht zu rügen, staatliche Organe hätten eine Entscheidung des Gerichtshofs missachtet oder nicht berücksichtigt (BVerfGE 111, 307, 329 f.) zur Anwendung gelangt also nicht Art. 3 Abs. 1 GG, sondern das tatbestandlich betroffene (deutsche) Spezialgrundrecht hat sich das Gericht, dessen Entscheidung mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen wurde, nicht mit den sachlich einschlägigen Entscheidungen des EGMR auseinandergesetzt, ist die Verfassungsbeschwerde automatisch begründet (keine Verhältnismäßigkeitsprüfung o.ä.!) 6
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