In: Widerspruch Nr. 37 Jüdisches Denken Jüdische Philosophie (2001), S Autor: Friedrich Niewöhner Artikel
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- Gert Kranz
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1 In: Widerspruch Nr. 37 Jüdisches Denken Jüdische Philosophie (2001), S Autor: Friedrich Niewöhner Artikel Umfrage Fragen zur jüdischen Philosophie heute I. Bis 1933 spielten jüdische Denker in der deutschen Philosophie eine große Rolle. Durch die Rückkehr von Emigranten erlebte diese Tradition nach 1945 nochmals eine kurze Renaissance. Dann brach sie ab. Heute gibt es wieder Ansätze: etwa die Hochschule für jüdische Studien in Heidelberg oder der Jüdische Verlag bei Suhrkamp. 1. Sehen Sie Chancen, daß sich heute in Deutschland und Mitteleuropa wieder ein jüdisches Geistesleben etabliert? 2. Gibt es Ihrer Meinung nach aktuelle politische Tendenzen, aber auch mentale Einstellungen, die dem im Wege stehen? 3. Worin sehen Sie den Gewinn sowohl für Nicht-Juden als auch für Juden? II. In der Geschichte der Philosophie ist es üblich geworden, eine Rubrik jüdische Philosophie zu bilden, unter der Denker wie Philon, Maimonides, Mendelssohn, Cohen und Buber zusammengefaßt werden. Dieser Rubrizierung entgegen steht allerdings die Auffassung, daß es im Grunde nur eine Philosophie gibt, die solche Etikettierungen nicht erlaubt. 1. Läßt sich Ihrer Meinung nach eine Denktradition identifizieren, die in dem Spannungsfeld zwischen Athen und Jerusalem philosophiert und über die religiöse Motivation hinaus auf säkulare Weise argumentiert hat?
2 2. Wenn ja, worin sehen Sie das Spezifische, das solches jüdisches Philosophieren ausgezeichnet hat und auszeichnet? III. Eine der Wurzeln jüdischen Denkens war die rabbinische Tradition, die in Deutschland ihre Schwerpunkte in Berlin und Breslau hatte. Nach dem neueren Antisemitismus in Europa, der im Holocaust gipfelte, hat auch bei anderen jüdischen Denkern eine Rückbesinnung auf das Judentum stattgefunden. 1. Haben die Bemühungen, die aus der damit einhergehenden Auseinandersetzung mit den europäischen Denkmustern hervorgegangen sind, die Gegenwartsphilosophie Ihrer Meinung nach insgesamt befruchtet oder eher gelähmt? 2. Sehen Sie im jüdischen Philosophieren heute (neue) Konfliktlinien, die zwischen Traditionsbezug (etwa dem rabbinischen) und modernem bzw. postmodernem Denken verlaufen? Und wenn ja, welche? Friedrich Niewöhner Jüdische Philosophie Versuch einer Begriffsbestimmung Wie ist der Begriff "Philosophie" mit einem Adjektiv jüdisch zu verbinden, das nicht selbstverständlich zur Philosophie hinzuzugehören scheint, das als in einem Spannungsverhältnis zur Philosophie angesehen werden kann, und das die Philosophie vielleicht verändert, ihr Grenzen setzt? Um es gleich vorweg zu sagen: es gibt nur eine Vernunft, die allgemeine Menschenvernunft. Es gibt weder eine spezifisch jüdische oder islamische oder christliche Vernunft; auch kein spezifisch islamisches, christliches oder jüdisches Denken mit je eigenen Rationalitätsstandards.
3 Was für einen Sinn hat es dann aber, von einer "jüdischen Philosophie" zu sprechen? Warum bezeichnen erstmals Leopold Zunz (1818) und Salomon Munk (1849) im 19. Jahrhundert die Reflexionen der Juden im Mittelalter als "jüdische Philosophie"? Versuch einer Bestimmung: 1. Wenn ein Jude philosophiert, dann ist das nicht notwendig eine jüdische Philosophie. Beispiele: Baruch de Spinozas "Ethik", Karl Marx' "Das Kapital", Edmund Husserls "Ideen zu einer reinen Phänomenologie". 2. Wenn ein Jude (oder ein Christ, Muslim, Atheist) über Moses Maimonides oder Jehuda Halevi schreibt, dann ist das nicht notwendig eine jüdische Philosophie. So etwas wäre eher zu subsumieren unter "Geschichte" der Philosophie (wobei noch offen bleiben muß, ob Maimonides oder Halevi als Philosophen bezeichnet werden können). 3. Wenn ein Christ (oder ein Muslim oder ein Atheist) über das Judentum reflektiert, dann ist das noch keine jüdische Philosophie. In diesem Fall sollte man eher von Religionsphilosophie oder Religionsphänomenologie sprechen. 4. Wenn jedoch ein Jude über das Judentum als solches mit der allgemeinen Menschenvernunft reflektiert, dann ist das jüdische Philosophie. Jüdische Philosophie ist "Philosophie des Judentums" (Julius Guttmann), wobei "des Judentums" sowohl genitivus objectivus als auch genitivus subjectivus ist. Begründung: Es ist Philosophie, weil die Reflexion mit der allgemeinen Menschenvernunft durchgeführt wird. Philosophie ist immer auch ein Nachdenken über uns selbst und über unsere Herkunft. Es ist jüdische Philosophie, weil das Judentum als solches von einem "Juden" reflektiert wird, er über seine Herkunft nachdenkt, über die Gemeinschaft reflektiert, zu welcher er gehört. Was ist der Unterschied zwischen der Reflexion eines Juden über das Judentum und der Reflexion eines Christen über das Christentum? Ein Jude kann über das Judentum mit der allgemeinen Menschenvernunft reflektieren, denn er braucht nicht gläubig (fromm, mosaischen Glaubens) zu sein. Er ist auch dann Jude, wenn er Atheist, Nietzscheaner, Kantianer
4 oder Anarchist ist. Jude sein heißt nicht, Anhänger der mosaischen Religion zu sein, sondern Sohn einer jüdischen Mutter und so zu einer Gemeinschaft gehörend. Ein Christ jedoch, wenn er wirklich ein gläubiger Christ ist, kann über das Christentum nur in religiösen Kategorien reflektieren, denn "der Glaube ist höher als alle Vernunft". Das ist Theologie, aber keine christliche Philosophie. Es kann keine "christliche Philosophie" geben (Martin Luther, Karl Barth). Das heißt: nur ein Jude, der nicht gläubig ist, der sich aber dennoch zum Judentum als "seiner" Gemeinschaft bekennt, kann mit der allgemeinen Menschenvernunft über das Judentum reflektieren. Was ist der Unterschied zwischen einem Juden, der nicht gläubig ist und der über das Judentum reflektiert, und einem Christ, der nicht gläubig ist und über das Christentum reflektiert? Ein Christ, der nicht gläubig ist, ist kein Christ mehr ein Jude, der nicht gläubig ist, ist dennoch ein Jude. Begründung: Aus dem Judentum kann man nicht austreten; man bleibt auch dann noch ein Jude, wenn man mit der allgemeinen Menschenvernunft philosophiert. D. h.: jüdische Philosophie ist die Philosophie von einem Juden, der mit der allgemeinen Menschenvernunft das Judentum (als Religion oder Ethnizität) reflektiert. Das aber heißt nun zweierlei: 1. Jüdische Philosophie ist immer eine Philosophie von einem Denker, die ihn selbst angeht und notwendig ist, weil sie sich mit der Herkunft des Denkers, die er nicht abschütteln kann, auseinandersetzt. 2. Jüdische Philosophie hat es immer zu tun mit dem Spannungsverhältnis zwischen allgemeiner Menschenvernunft und dem partikularen Judentum (als Religion oder Ethnizität). Weiterhin geschieht jüdisches Philosophieren immer in einer extremen Situation: im Exil, in einer die jüdische Tradition gefährdenden nicht-jüdischen Umwelt und in Auseinandersetzung mit nicht-jüdischen Gedanken, Glaubenssätzen und Philosophemen. Beispiele: Moses Maimonides' "Führer der Unschlüssigen" (in Auseinandersetzung mit dem Islam); Moses Mendelssohns "Jerusalem oder über die re-
5 ligiöse Macht und Judentum" (in Auseinandersetzung mit dem Christentum); Leo Strauss' "Philosophie und Gesetz" (in Auseinandersetzung mit der Aufklärung). Wo dieses Spannungsverhältnis verneint wird, sollte man nicht von jüdischer Philosophie sprechen, sondern von Theologie. Beispiele: Jehuda Halevis "Kuzari"; Franz Rosenzweigs "Stern der Erlösung"; Hermann Cohens "Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums"; rabbinisches Denken. Ergebnis: Ist jüdische Philosophie die Philosophie eines Juden, der über das Judentum (als Religion oder Ethnizität) mit der allgemeinen Menschenvernunft reflektiert, weil diese Reflexion ihn notwendig angehen muß, dann wird ersichtlich, warum die jüdische Philosophie die allgemeine Gegenwartsphilosophie befruchten kann: Das Verhältnis und die Spannung von Partikularität und Universalität, Glauben und Wissen, Besonderem und Allgemeinen, Religion und Philosophie, Gesetz und Freiheit, Individualität und Objektivität etc. wird nirgendwo so radikal befragt wie in der jüdischen Philosophie, weil nur der jüdische Philosoph diese Fragen wegen seiner Herkunft stellen muß. Jüdische Philosophie ist zwar eine Reflexion auf das Judentum, sie kann a- ber nicht von ihren Ergebnissen her bewertet werden. Da sie in Theologie umschlägt, wenn sie zu dem Ergebnis kommt, daß die Wahrheit allein bei den Rabbinern zu finden sei (wie bei Halevi), ist jüdische Philosophie nur dann gegeben, wenn die Spannungsverhältnisse nicht aufgelöst und nicht harmonisiert werden (wie z. B. bei Maimonides und Leo Strauss). Das wiederum hat zur Folge: Da jüdische Philosophie mit der allgemeinen Menschenvernunft reflektiert, muß sie notwendigerweise immer eine kritische Philosophie sein, kritisch gegen die Religion, Ethnizität, Partikularität, den Glauben etc. Als kritische Philosophie ist sie gegen jeden Dogmatismus. Diese Begriffe und Problemkomplexe beschreiben die Herkunft des jüdischen Philosophen, nicht seine Zukunft. Diese wird entworfen mit der allgemeinen Menschenvernunft, obwohl dieser Philosoph immer auch Jude bleiben wird. Zur Geschichte des Begriffs "Jüdische Philosophie":
6 1. F. Niewöhner: Vorüberlegungen zu einem Stichwort: "Philosophie, jüdische". In: Archiv für Begriffsgeschichte, Band 24, Bonn 1980, S F. Niewöhner: Philosophie, jüdische. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 7, Basel 1989, Spalten
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