Von Freud und Kraepelin zu ICD-10: Wo sind die Neurosen?
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- Dörte Heidrich
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1 Von Freud und Kraepelin zu ICD-10: Wo sind die Neurosen? Paul Hoff Fortbildungsveranstaltung Luzerner Psychiatrie 3. November 2016
2 In memoriam Christian Scharfetter Seite 2
3 Agenda Psychiatrie und Psychotherapie Ein notwendig kontroverses Fach? Der Krankheitsbegriff Was ist eine psychische Krankheit? Der Neurosebegriff von William Cullen bis zu ICD-10 / DSM-5 und RDoC Eine alles andere als kontinuierliche Entwicklung Résumé Seite 3
4 Agenda Psychiatrie und Psychotherapie Ein notwendig kontroverses Fach? Der Krankheitsbegriff Was ist eine psychische Krankheit? Der Neurosebegriff von William Cullen bis zu ICD-10 / DSM-5 und RDoC Eine alles andere als kontinuierliche Entwicklung Résumé Seite 4
5 Charakteristika der Psychiatrie Enge Vernetzung mit dem gesellschaftlichen und politischen Umfeld Kontroverse Positionen, theoretisch wie praktisch - Schulenbildung, -ismen, Antipsychiatrie, Theoretische Fragen sind praxisrelevant - Soma & Psyche, Subjekt & Objekt, Gesundheit & Krankheit, Seite 5
6 «Psychisch krank» Hypothesen und Metaphern von 1750 bis heute Krankheit der Vernunft Lebensführung & Verantwortung Erkrankung des Gehirns Natürliche Krankheitseinheiten Psychische Fehlentwicklung Pathogenität des Unbewussten Degeneration ( Entartung ) Folge sozialer Missstände Existentielles Anderssein Repressiver Begriff Kommunikationsstörung Bio-psycho-soziales Modell Seite 6
7 Der Beginn Kant, Immanuel (1784) Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Berlinische Monatsschrift, Heft 12, S Seite 7
8 Antipsychiatrische Kritik Einige Klassiker Seite 8
9 Krankheit? Teil der conditio humana? Beides? Angst 1896 Edvard Munch Seite 9
10 Ein markantes Spannungsfeld Diagnose Krankheitsbegriff Recht Begutachtung Therapie Berufspolitik Menschenbild Identität des Faches Gesundheitspolitik Ökonomie Prinzip der Autonomie Werte (Ethik) Psychiatrie und Psychotherapie Zwang Rolle des Umfeldes (Sozialwissenschaft) Deskription ( wertfrei ) Naturalismus (Neuroscience) Deutung (individuell) Seite 10
11 Agenda Psychiatrie und Psychotherapie Ein notwendig kontroverses Fach? Der Krankheitsbegriff Was ist eine psychische Krankheit? Der Neurosebegriff von William Cullen bis zu ICD-10 / DSM-5 und RDoC Eine alles andere als kontinuierliche Entwicklung Résumé Seite 11
12 Was ist eine psychische Krankheit? Objektiver Gegenstand? Naturalistische Realdefinition (z.b. neurobiologisch erklärbare Hirnstörung) Individuelle Reaktions- oder Lebensform? Biographische Definition (z.b. verständliche psychische Fehlentwicklung) Begriffliches Konstrukt? Nominaldefinition (z.b. operationale Diagnosen; ICD-10/DSM-5) Seite 12
13 Bio-psycho-soziales Modell: Gut, aber komplizierter, als es aussieht... Biologische, Psychologische, Soziale Faktoren Psychische Störung B Stö S P Seite 13
14 und kontrovers diskutiert Seite 14
15 Ein konstruktivistischer Ansatz: In some ways disease does not exist until we have agreed that it does, by perceiving, naming, and responding to it Seite 15
16 Zwischenstand Je nach «Framing», also je nach theoretischem und kulturhistorischem Kontext, können psychiatrische Kernbegriffe unterschiedliche Bedeutungen und Konnotationen annehmen. Dies gilt für den Begriff Neurose ebenso wie etwa für Psychose, Krankheit, Diagnose oder Therapie. Seite 16
17 Agenda Psychiatrie und Psychotherapie Ein notwendig kontroverses Fach? Der Krankheitsbegriff Was ist eine psychische Krankheit? Der Neurosebegriff von William Cullen bis zu ICD-10 / DSM-5 und RDoC Eine alles andere als kontinuierliche Entwicklung Résumé Seite 17
18 «Neurose»: Eine Wurzel in der Physiologie Albrecht von Haller Seite 18
19 William Cullen Seite 19
20 Carl Gustav Carus Seite 20
21 Emil Kraepelin Seite 21
22 Beginn 20. Jh. Psychoanalyse und Behaviorismus Unbewusste Inhalte prägen die Person Lernvorgänge prägen die Person Sigmund Freud Burrhus Frederic Skinner Seite 22
23 Nach 1945 Anthropologische Psychiatrie Die Sinnfrage in Biographie und Krankheit (bei Anerkennung biologischer Faktoren!) Ludwig Binswanger Medard Boss Seite 23
24 Operationale Diagnosemanuale ICD-10 International Classification of Diseases World Health Organization (WHO) DSM-5 Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders American Psychiatric Association (APA) Seite 24
25 World Health Organization (WHO) ICD und -11? Seite 25
26 American Psychiatric Association (APA) DSM-IV TR... seit Mai 2013: DSM-5 Seite 26
27 Hauptmerkmale operationaler psychiatrischer Diagnostik Klare und nachvollziehbare Kriterien, keine blosse Eindrucksdiagnose Höhere Zuverlässigkeit ( Reliabilität ) Unabhängig von Annahmen zur Entstehung ( ätiologisch neutral, theoriefrei [?]) Prinzip der Komorbidität Seite 27
28 Jenseits operationaler Diagnosen Komplexe psychopathologische Befunde Leichte Ausprägungen ( sub-threshold ) Persönlichkeitsentwicklung / Biographie Intersubjektive & soziale Faktoren ( Funktionalität im Alltag, ICF, HoNOS) Forensische Folgerungen Seite 28
29 ICD 10 (aus dem Vorwort zur deutschen Übersetzung) «Konzeptionell wird versucht, zumindest teilweise einem atheoretischen Ansatz folgend, auf Begriffsbildungen wie etwa Neurose, Psychose und Endogenität zu verzichten und diese durch Einführung einer deskriptiven, an diagnostischen Kriterien orientierten Klassifikation zu ersetzen. So ersetzt der Begriff «Störung» den der psychischen Krankheit weitgehend» Seite 29
30 ICD-10 Beginn des Abschnittes F40 F48 Seite 30
31 France Schad Ein kontroverses Thema Seite 31
32 Eine sorgfältige und kritische Analyse 2013 Seite 32
33 NZZaS Seite 33
34 Seite 34
35 Die Zukunft der psychiatrischen Diagnostik? Seite 35
36 Zum Schluss noch eine (unangenehme) Frage Muss uns die unübersichtliche Ideenund Begriffsgeschichte der Psychiatrie verunsichern oder an der Wissenschaftlichkeit des Faches zweifeln lassen? Seite 36
37 Wissenschaft kränkt. Sie weiss aber nicht alles. Nikolaus Kopernikus Charles Darwin Karl Marx Sigmund Freud Neuroscience? Seite 37
38 Seite 38
39 2009 Seite 39
40 Values-Based und Evidence-Based medicine/practice: Eine notwendige Ergänzung 2012 Seite 40
41 Psychopathologie Psychopathologie als Klammer Deskriptiv: Kommunikation Klinisch: Diagnose und Klassifikation Struktural: Erfassen von Zusammenhängen und Bedeutungen Ebene Methodenkritik Ebene Wissenschaftstheorie / Philosophie mod. nach: Stanghellini G (2009) Curr Opin Psychiatry 22: und Hoff P (2008) Int Rev Psychiatry 20: Seite 41
42 1979 Seite 42
43 Es ist Einiges in Bewegung Seite 43
44 Agenda Psychiatrie und Psychotherapie Ein notwendig kontroverses Fach? Der Krankheitsbegriff Was ist eine psychische Krankheit? Der Neurosebegriff von William Cullen bis zu ICD-10 / DSM-5 und RDoC Eine alles andere als kontinuierliche Entwicklung Résumé Seite 44
45 Résumé 1 Diagnostische Begriffe als solche sind nicht das Entscheidende. Sie können (und sollten), sofern es überzeugende wissenschaftliche Argumente gibt, angepasst oder abgeschafft werden. Aussagekräftige Beispiele für diese Debatte sind der Schizophrenie- und der Neurosebegriff. Seite 45
46 Résumé 2 Es muss aber verhindert werden, dass mit der Anpassung/Abschaffung eines tradierten psychiatrischen Begriffes eine allfällige reichhaltige Denktradition (conceptual history) aufgegeben wird nur weil sie Tradition ist. Paradigmatisch: Der Begriff Neurose Seite 46
47 Résumé 3 «Krankheiten als solche gibt es nicht, wir kennen nur kranke Menschen.» Albrecht Ludolf von Krehl ( ) «Neurosen als solche gibt es nicht, wir kennen nur Menschen mit neurotischen Störungen.» Deren Behandlungsanspruch ist von der jeweiligen Terminologie unabhängig. Seite 47
48 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Seite 48
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