Autistische Kinder in Regelschulen Gedanken über die Grenzen der Alltagspädagogik
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- Adrian Weber
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1 Mag. Dr. Elisabeth Furch Autistische Kinder in Regelschulen Gedanken über die Grenzen der Alltagspädagogik Wenn ich einem behinderten Menschen begegne, ihn anschaue und denke, wie er denn sein könnte, beschreibe ich mich selbst - meine Wahrnehmung des anderen. Ob ich die daraus entstehende Chance nütze, mich selbst zu erkennen, steht auf einem anderen Blatt...! GEORG FEUSER Es gibt Kolleginnen und Kollegen, die sich exakt in der für sie neuen Situation versuchen, in Eigeninitiative zu engagieren, fachlich hochstehenden Rat einzuholen und sich einschlägig weiterzubilden, um beim Integrationsprozess von Kindern mit diversen Behinderungen hilfreich sein zu können. Nur eines sollte nicht passieren: Die Lehrperson darf sich nicht auf Klischees und vorgefasste Meinungen einlassen, denn jedes Kind ist anders. Man darf sich auch nicht mit Rezepten begnügen in der Hoffnung, rasch eine Lösung anstehender Probleme zu finden. Dies gilt für alle Schülerinnen und Schüler in einer Lerngruppe, nicht nur für Kinder mit Behinderungen. Nun zum eigentlichen Thema: Mohamed ist in einen stummen Tanz ganz eigener Art versunken: Immer wieder legt der siebenjährige Junge seinen Pullover mit einer leichten Bewegung ordentlich vor seine Füße auf den Boden, zieht ihn über den Kopf und sogleich wieder aus. Dann beginnt er von vorne mit seinem eigenwilligen Reigen, mal benutzt er den eigenen Pulli, mal den eines anderen Kindes aus seiner Kindergartengruppe. Dabei lächelt er versonnen.... Ruhelosigkeit treibt Mohamed um. Kaum hält er in seinem Pullover-Spiel inne, jagt sie ihn schon durch die Flure des Kindergartens. Selbstgenügsam wirkt der kleine, stämmige Bursche; geschäftig und beschäftigt, vor allem mit sich selbst. ur Willie verliert er selten aus dem Blick. Ungestüm greift Mohamed immer wieder nach ihm, bedrängt und herzt seinen Freund. Der zarte Junge läßt die Liebesbezeigungen ungerührt über sich ergehen Erzieherinnen eines Kindergartens meinen, dass Mohamed kein richtiger Autist ist, worüber Hartmut Janetzke, Psychologe, Psychotherapeut und Leiter des Hamburger Autismus-Instituts, nur den Kopf schütteln kann, da er seit Jahren gegen Urteile und Vorurteile gegenüber Autisten kämpft. Ihre Meinungen, Autisten seien Kinder, die keinen Kontakt zu Menschen aufnehmen, die niemanden anblicken, die selbst die Berührungen ihrer Eltern ablehnen und nicht sprechen können, sind festgefahren. Es handelt sich also kurz gesagt um hoffnungslose Fälle. Oder aber: Autisten, das sind doch diese verkappten Genies mit den außergewöhnlichen Begabungen, die in Minutenschnelle hoch komplizierte Rechenaufgaben lösen oder die Daten aller Mondfinsternisse in diesem Jahrtausend nennen können. 2 Der Leiter des Hamburger Autismus-Instituts lehnt alle diese Klischees ab, ebenso wie die Bezeichnung von Autismus als Krankheit. Er verweist hingegen auf das Normale bei solchen Menschen und sucht nach autistischen Zügen im Alltag. 1 Koch, Sannah: Wege aus der Versunkenheit, In: Psychologie heute, Februar 1997, S ebd., S. 36 1
2 Er bezeichnet seine Gäste als Menschen mit unfreiwilliger Ich-Bezogenheit, ausgestattet mit scheinbarer Dickfelligkeit, deren Gehirn anders organisiert ist. Er spricht von verschiedenen, individuell ausgeprägten autistischen Störungen, wobei er auf die Bezeichnung individuell großen Wert legt. 3 Mit der differentiellen Beziehungstherapie hat er einen eigenen Ansatz entwickelt: Eine ganzheitliche, beziehungsfördernde Behandlungsmethode, die die emotionalen, geistigen und sprachlichen Fähigkeiten entwickeln und die Kinder in einen sozial-kommunikativen Prozeß einbeziehen will. 4 Georg Feuser meinte in seinem Referat vor dem Österreichischen Nationalrat in Wien: Was wir als Behinderung fassen und an einem Menschen gering achten oder gar abqualifizieren, in der Regel aber als defizitär betrachten, ist Ausdruckeiner Kompetenz; Ausdruck der Kompetenz, (...) lebensbeeinträchtigende (bio-psycho-soziale) Bedingungen zum Erhalt der individuellen Existenz im jeweiligen Milieu ins System zu integrieren. Mithin ist jede Form von Behinderung, psychischer und auch körperlicher Krankheit menschlich und menschenmöglich und unter bestimmten Bedingungen existentiell notwendig. Für den Menschen ist es so >>normal<< behindert zu sein, wie es >>normal<< ist, nicht behindert zu sein. icht behindert zu sein ist kein Kennzeichen oder Prädikat von ormalität ; das nehmen wir nur aufgrund unserer definitorischen Macht als gesellschaftliches Attribut für uns in Anspruch. Behinderung definiert in gleicher Weise >> ormalität<< wie ichtbehinderung; >> ormalität<< nun allerdings nicht mehr bezogen auf einen gesellschaftlichen ormenkodex, sondern auf die menschliche Entwicklungslogik unter den für einen Menschen bestehenden Ausgangs- und Randbedingungen seiner Lebensgeschichte. 5 Phänomen AUTISMUS : Def.: Autismus ist ein Syndrom, welches eine Gruppe abnormer Verhaltensweisen und gestörter Hirnfunktionsleistungen umfaßt und mit einer schweren Störung des affektiven Kontaktes einhergeht. Somit handelt es sich um ein organisches Syndrom, genauer um eine Entwicklungsstörung, nicht um eine Psychose. Die Veränderung liegt im Entwicklungsprozeß selbst, d.h, die Entwicklung ist qualitativ verändert im Gegensatz zur quantitativen Entwicklungsverzögerung bei geistiger Behinderung. ach anderer Auffassung ist Autismus kein Syndrom, sondern ein Verhaltensspektrum. ach dem multiaxialen Klassifikationsschema für psychiatrische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen handelt es sich um ein Syndrom, das entweder von Geburt an besteht oder fast ausschließlich in den ersten 30 Lebensmonaten beginnt. 6 Eugen Bleuler hatte 1911 den Begriff autistisch das erste Mal erwähnt. Er beschreibt psychotische, meist schizophrene Persönlichkeitsstörungen, die durch extreme Selbstbezogenheit und Insichgekehrtheit sowie durch phantastisch-traumhaftes, unlogisches Denken und Sprechen gekennzeichnet sind befassen sich Kanner und Asperger unabhängig voneinander mit dem Krankheitsbild Autismus als einer frühkindlichen Entwicklungsstörung. Asperger spricht in Österreich von autistischen Psychopaten, Kanner in den USA von kindlichen Autisten, da er in erster Linie Kinder bis zum zweiten Lebensjahr untersucht hat und dabei Störungen bis zum 6. Lebensmonat zurückverfolgen konnte. 3 vgl. ebd. S.37 4 ebd. S.38 5 Feuser, Georg; Vortrag vor den Abgeordneten zum Nationalrat im Parlament am 29. Oktober 1996 in Wien 6 Wirth, Günter: Sprachstörungen Sprechstörungen Kindliche Hörstörungen, 4. Auflage. - Deutscher Ärzte-Verlag Köln, S. 723 ff. 2
3 Bei Mahler, die wesentlich traditioneller als Bettelheim an das Phänomen Autismus herangeht, liest man, dass sich Säuglinge in den ersten zwei Lebensmonaten in einer normalen autistischen Phase befinden, in der sie bewusst Reize sortieren. Selbst die Mutter wird oft nicht wahrgenommen, da der Säugling mit sich selbst beschäftigt ist. Es kommt zur Bildung eines inneren Körperbildes, dem Innen, und dem äußeren Umweltbild, dem Außen. Regeln geben in dieser Entwicklungsphase Sicherheit und Orientierung. Rödler spricht von einer Wahrnehmungsstörung als Ursache für autistisches Verhalten, wobei nicht von Verhaltenstherapie, sondern von der Sinneslehre ausgegangen werden soll. Die Wahrnehmung der Sinne ist gestört. Delacato beobachtete die Verhaltensweisen von Autisten und verglich sie miteinander. Er kam zu dem Schluss, dass Autisten möglicherweise Sinnesstörungen haben. Er konnte bei allen gleichermaßen folgende drei Symptome feststellen: 1. Unterempfindlichkeit, 2. Überempfindlichkeit, 3. eine unspezifische Information, eine spontane Aktivität (Hyperaktivität). Bei Delacato hat man jedoch den Eindruck, dass er den Autismus nicht ganz ernst nimmt, da er den Autismus als Schüchternheit interpretiert, wobei es sich um Menschen handelt, die halt nur nicht sprechen! Es gibt Fachleute, die bezogen auf Autismus auch Gegensätzliches entdeckt haben und festhalten, wie z.b. Pfeffer, Kleinbach und Bornefeld, was wiederum Folgendes bestätigt: Man muß - selbstverständlich aufbauend auf gewisse wissenschaftlich-theoretische Grundlagen - seine Beobachtungen bei jedem zu beschulenden und möglicherweise in die Klassengemeinschaft zu integrierenden Kind von Neuem beginnen und anhand des Hintergrundwissens im Zusammenhang mit den neu zu entdeckenden Phänomenen neue Wege suchen. Symptome des AUTISMUS: Kanner: zwei Kardinalsymptome: extremer Grad von Selbstisolation extreme Angst vor jeglicher Veränderung Weitere Symptome nach Kanner: Autisten besitzen keine kommunikative Sprache. 1/3 der Autisten spricht so gut wie gar nicht, was vor mehreren Jahren noch als Taubheit diagnostiziert worden ist. 2/3 der Autisten vertauschen die Begriffe DU und ICH. Es kommt oft zu globalen negativen Äußerungen, es ist eine unübliche Analogiesprache zu bemerken, es kommen häufige Generalisierungen vor ebenso wie Restriktionen. Autistisches Verhalten hat immer einen Grund! Nur diesen zu entdecken, ist oft ein Lebenswerk! Autisten haben vor Bewegungen und Geräuschen von außen Angst. Sie haben weiters enorme Angst vor Gegenständen, nicht unbedingt vor Personen, z.b. Angst vor der Injektionsnadel und nicht vor dem Arzt. Es kommt zu Automatismen, die extrem monoton und rhythmisch sind. Autisten meiden jeden Blickkontakt zu Personen, blicken nur Gegenstände an. Sie besitzen keinen Zeitbegriff. Nur Routine ist für sie erträglich, jede Veränderung löst Angst und Aggressionen aus. Wirth beschreibt folgende Symptome: Die qualitativen Veränderungen im Entwicklungsprozeß zeigen sich in der sog. Verhaltenstriade: 3
4 einer schweren Beeinträchtigung der zwischenmenschlichen Interaktion der non-verbalen sozialen Kommunikation und der Vorstellungskraft sowie in einem Muster an Aktivitäten, die beherrscht sind von wiederholten, stereotypen Routinen....3 Typen autistischer Kinder...: sozial zurückgezogene, sozial passive und sozial aktive, aber sonderbare Kinder. Ein Autismus ist an folgenden Symptomen erkennbar: Verzögerte Sprachentwicklung mit starker Echolalie-Tendenz, auffallend verspätetem Gebrauch des Wortes ich, allgemein falscher Verwendung der Pronomina; einfache grammatikalische Struktur mit auch noch später groben Fehlern in Satzbau und Grammatik; Unfähigkeit, abstrakte Begriffe zu gebrauchen. Sprache wird nicht zur Kommunikation verwandt; es kommen nur stereotype Fragen. Sprache ist somit in ihrer Beziehungsfunktion und sozialen Bedeutung beeinträchtigt, nicht die artikulatorischen Fähigkeiten. Die reflektorische Echolalie entwickelt sich zur Stereotypie einer Echophrasie, die Satzteile oder ganze Sätze umfaßt. Auffälligkeiten beim Sprechen bezgl. Lautstärke, Tonhöhe, Betonung, Geschwindigkeit, Rhythmus, Intonation. Auffälligkeiten in Form und Inhalt des Sprechens. Verwendung von Du, wenn Ich gemeint ist. Beeinträchtigung der Fähigkeit zum Anknüpfen oder Führen einer Konversation mit anderen, trotz ausreichenden Sprechvermögens. Sprachliches Denken nicht möglich. Schwer beurteilbares Sprachverständnis, da auf sprachliche Aufforderungen entweder überhaupt keine Reaktion erfolgt oder mit negativistischer Bosheit das Gegenteil des Gewünschten getan wird. Geräuschempfindlichkeit oder Geräuschängste. Die Kinder wenden sich oft ab, wenn man sie anspricht. Es besteht ein grundlegender Mangel an Reaktion auf andere Menschen (Autismus). Abnorme Reaktionen auf akustische und manchmal auch auf visuelle Eindrücke. Schwierigkeiten hinsichtlich des Sprachverstehens. Kontaktstörungen mit gestörtem Blickkontakt, Störung der zwischenmenschlichen Bindungen und des kooperativen Spielens mit anderen Kindern. Bizarre Reaktionen auf verschiedene Aspekte der Umgebung; rituelles Verhalten, abnorme Gewohnheiten, Widerstand gegen Veränderungen, Bindung an seltsame Objekte, stereotype Spielmuster. Die Fähigkeit zum abstrakten oder symbolischen Denken und zum phantasiereichen Spielen ist herabgesetzt. Die Intelligenz ist durchschnittlich bis schwer beeinträchtigt.... Allgemeine oder partielle motorische Ungeschicklichkeit, die sich auch sprachmotorisch auswirkt. Motorische Stereotypien aller Arten:... Zwanghaftes Bedürfnis nach Gleicherhaltung der dinglichen Umwelt. ichtentwicklung des mitmenschlichen Kontaktes. Jeder Versuch zur Kontaktaufnahme wird mit starker Abwehr beantwortet. Kreiseln von Dingen. Ideomotorische und ideatorische Apraxie (gestörter Bewegungsentwurf). 7 Ursachen des AUTISMUS: Man kann nur in einem von 55 Fällen auf neurologische Störungen schließen, die Feinmotorik bei diesen Menschen ist häufig gut entwickelt. Statistisch gesehen sind männliche Personen im Verhältnis 4:1 mehr betroffen als weibliche. 7 Wirth, Günter, ebd., S.724 ff. 4
5 Bei weiteren Forschungen kam Kanner zur Erkenntnis, dass autistische Kinder vermehrt von intellektuellen Eltern und aus sogenannten perfekten Familien stammen, wobei erwähnt werden muss, dass diesen Kindern es oft an menschlicher Zuneigung und Wärme fehlt, und die Väter aus unterschiedlichen Gründen ihre Kinder kaum kennen. In den meisten Fällen waren diese Kinder aber Wunschkinder! Trotz vieler Untersuchungen weiß Kanner nicht die wirkliche Ursache für kindlichen Autismus. Er vermutet jedoch, dass familiäre Zwänge wesentlich an der Autismusentwicklung beteiligt sind. Das eben erwähnte ist mit ein Grund, warum es für die Pädagogik auf diesem Gebiet keine Antworten, Rezepte und handfeste Tips geben kann, man kann sich als betroffene Integrationslehrerin oder -lehrer nur an allgemeinen Maßstäben und Erfahrungswerten als Hilfestellungen orientieren. Hier wiederum ein Versuch einer Ursachenbeschreibung nach Wirth: Folgende Faktoren sind an der Ätiologie und Genese beteiligt: Störung früher kognitiver Prozesse; Störung der zentralen Aktivierung; Wahrnehmungsstörungen; Hirnschädigungen und neurologische Ausfälle; bei 50% der Kinder nachweisbare Hirnschäden, bei 2/3 der Kinder pathologische EEG-Befunde; Genetische Einflüsse; eineiige Zwillinge sind häufig beide autistisch. Biochemische Besonderheiten;... Chromosomenabnormität;... 40% bis 60% der Kinder zeigen im Schulalter neurologische Befunde, 30% entwickeln in der Adoleszenz eine Epilepsie. 8 Wirth unterscheidet 3 Schweregrade des Autismus: Kinder mit ausgeprägtem Autismus; Kinder mit leicht bis mittelgradigen autistischen Verhaltensweisen; Kinder mit Kommunikationsstörungen ohne autistisches Verhalten. 9 Autistische Syndrome werden in 4 Gruppen eingeteilt: 1. psychogener Autismus 2. Asperger-Syndrom 3. Kanner-Syndrom 4. somatogener Autismus. Das Asperger- und Kanner-Syndrom bilden die beiden Kerngruppen Wirth, Günter, ebd., S, Wirth, Günter, ebd., S. 726 ff. 10 Wirth, Günter, ebd., S
6 Verwendete Literatur: Feuser, G. Vortrag vor den Abgeordneten zum Nationalrat im Parlament am 29. Oktober 1996 in Wien Kleinbach, K. Zur ethischen Begründung einer Praxis der Geistigbehindertenpädagogik, Bad Heilbrunn, 1994 Koch, Sannah Wege aus der Versunkenheit, In: Psychologie heute, Februar 1997, S Mahler, M. S. Symbiose und Individuation, Stuttgart, 1972 Mahler, M. S. Die psychische Geburt des Menschen, Frankfurt / Main, 1978 Maturana, H. R., Varela, F. Der Baum der Erkenntnis, Bern, München, Wien, 1987 Pfeffer, W. Förderung schwer geistig Behinderter, Würzburg, 1988 Rödler, P. Menschen, lebenslang auf Hilfe anderer angewiesen, Afra-Verlag, Frankfurt am Main/Griedel, 1993 Wirth, G. Sprachstörungen Sprechstörungen Kindliche Hörstörungen, 4. überarbeitete Auflage, Deutscher Ärzte-Verlag Köln,
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