Tschechien. Eine Reise nach Mitteleuropa. Čechy. Cesta do střední Evropy. Theresienstadt Hradec Králové Brünn Prag

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1 Tschechien. Eine Reise nach Mitteleuropa Čechy. Cesta do střední Evropy Theresienstadt Hradec Králové Brünn Prag Textbuch zur Auslandsakademie des Cusanuswerks vom 15. bis 28. September 2002

2 Impressum. Herausgeber: Redaktion: Übersetzungen: Druck: Bischöfliche Studienförderung Cusanuswerk Baumschulallee 5 D Bonn Dr. Stefan Raueiser, Bonn; Daniel Kraus, Lübeck Eva Marie Kalivoda, Konstanz Cologne Print Service Franke GmbH, Köln Korrigierte Fassung ( ) Die Texte, die in diesem Textbuch enthalten sind, wurden von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Auslandsakademie des Cusanuswerks geschrieben. Sie dienen zur inhaltlichen Vorbereitung der Akademie. Sie geben nicht notwendigerweise die Meinung des Cusanuswerks wieder. Titelbild: Bibliothek von Strahov Symbolische Landkarte von Europa als Jungfrau (1592) Strahovská knihovna Symbolická mapa Evropy jako panny (1592)

3 Die deutsche Literaturszene in Prag Daniel Kraus, Lübeck Meine Situation ist jetzt eine sehr schlimme: Ich bin plötzlich im Büro auf einen Posten übersetzt worden, wo ich ernstlich arbeiten sogar denken muß. Wer diese Sätze schrieb, war nicht etwa ein Drückeberger, dem ernsthafte Arbeit zuwider war. Ganz im Gegenteil, es handelt sich um einen Mann, für den der Beruf nicht mehr als Broterwerb war und der soviel Zeit als möglich erübrigen wollte, um sich seiner großen Leidenschaft zu widmen, dem Schreiben. Ähnlich ging es einem seiner besten Freunde, der tagsüber in einer Arbeiter-Unfall- Versicherungs-Anstalt arbeitete und der des nachts Erzählungen und Romane schrieb, die längst zum kulturellen Erbe Europas geworden sind. Die Rede ist von Max Brod ( ) und Franz Kafka ( ), zwei der prominentesten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Sie wirkten in Prag in jener Zeit zwischen der Jahrhundertwende und dem Einmarsch deutscher Truppen, in der die tschechoslowakische Hauptstadt eine blühende deutsche Literaturszene sah. Sie gehören auch zu den wenigen Prager deutschen Schriftstellern dieser Epoche, an die man sich heute noch erinnert, die heute noch gelesen werden. Die Dichtung der Prager Schule könnte als etwas Einzigartiges in Europa dastehen. Doch dieses Europa begnügte sich mit Rilke und Kafka. Für die anderen interessierte sich kaum jemand. Diese Klage des zeitgenössischen Journalisten und Autors Jürgen Serke spiegelt sich wider in den heute lieferbaren Büchern von und über Kafka und Rilke ist im Buchhandel sehr viel erhältlich, doch bereits die Werke Max Brods sind meist vergriffen und fristen ein Dasein als wurmstichige Ausgaben in öffentlichen Bibliotheken. Die anderen Prager deutschen Autoren des frühen 20. Jahrhunderts sind vielen Menschen völlig unbekannt, und nur wenige ihrer Werke können heute noch erworben werden: Darunter Oskar Baum ( ), Felix Weltsch ( ), Ludwig Winder ( ), Johannes Urzidil ( ), Franz Werfel ( ), Egon Erwin Kisch ( ), Leo Perutz ( ). Um 1900 lebten in Prag ungefähr Tschechen, nichtjüdische Deutsche und Juden, darunter deutschsprachige. Die weitaus meisten der deutschsprachigen Schriftsteller gehörten zu dieser jüdisch-deutschen Minderheit. Sie lebten in einem Vielvölkerstaat aus Tschechen, Deutschen, Slowaken und Polen gewissermaßen zwischen allen Stühlen. Für die Tschechen waren die Juden Deutsche, für die Deutschen waren sie Tschechen. Franz Werfel sprach von der dreifachen Seele Böhmens. Jüdische Assimilationssucht nennt Max Brod in seinen Erinnerungen Der Prager Kreis das Bestreben der Schriftsteller, als Minderheit in einer Mehrheit aufzugehen oder doch zumindest von der Mehrheit angenommen zu werden. Das Verbindende das war der Traum aller jüdischen Minderheiten, schreibt Jürgen Serke, und er meint damit einen Traum, den die Autoren im Schreiben Wirklichkeit werden lassen wollten. Doch es war niemals leicht, das Verbindende zu finden. Lange bevor Hitler auch in der Tschechoslowakei wütete, sahen sich die Juden in Böhmen einer antisemitischen Haltung ausgesetzt. Niedergeschlagen hat sich das an mindestens einer Stelle Prager Weltliteratur, nämlich der Schlußszene aus Kafkas Der Prozeß, wo seine Romanfigur Josef K. auf geradezu groteske Weise hingerichtet wird ( Wie ein Hund! sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben. ). Als Vorbild für diese Szene soll Kafka eine Postkarte verwendet haben, auf der ein ungeklärter Mordfall dargestellt wird, der um 1899 für Aufsehen 108

4 Der Prager Kreis: Max Brod (um 1925), Franz Kafka (ca. 1914), Felix Weltsch (um 1963), Oskar Baum (um 1912). Fotos zitiert aus Brod 1966 und Serke 1987 sorgte und für den im Prozeß von Polná ein Jude zunächst zum Tode verurteilt wurde weil er ein Jude war. Manche jüdische Schriftsteller, etwa Fritz Mauthner oder Hugo Salus, suchten ihren Frieden in einer deutschnationalen Denkweise. Doch Brod zufolge waren die Unterschiede zwischen Deutschen und Juden zu groß, als daß sie überwunden werden konnten. Er hielt allenfalls eine Distanzliebe für möglich, in der man aufeinander zugeht und doch das Trennende im Blick behält. So wurden sich die Juden in Prag immer stärker ihres eigenen kulturellen Erbes bewußt. Das gilt auch und gerade für eine Handvoll junger Autoren, die eng miteinander befreundet waren und sich zwischen etwa 1904 und 1939 regelmäßig, alle zwei Wochen, in ihren Wohnungen zu abendlichen Lesungen aus den eigenen Werken trafen: Der verschworene Prager Kreis, das waren die Schulfreunde Max Brod und Felix Weltsch, dazu Franz Kafka, den Brod während des Studiums kennengelernt hatte, und Oskar Baum. Nach Kafkas Tod 1924 stieß Ludwig Winder hinzu. Ihre Muttersprache war Deutsch, als Prager Gewüchse beherrschten sie selbstredend ebenso das Tschechische (Kafka soll sich im Sudetenland mit den dort ansässigen Deutschen nur auf tschechisch unterhalten haben, weil er den sudetendeutschen Dialekt nicht verstand). Die schwierige Situation, als Juden zwischen zwei Völkern zu stehen, hatten sie teilweise am eigenen Leibe erfahren: Oskar Baum, der mit nur einem funktionierenden Auge geboren wurde, verlor sein Sehvermögen in der Schule, wo ihn seine tschechischen Mitschüler verprügelten, weil er für sie Deutscher war. Ihre literarischen Wurzeln hatten die Freunde in Karl Postl alias Charles Sealsfield ( ), Marie von Ebner-Eschenbach ( ) und Alfred von Meißner ( ) allesamt nicht Juden. Mit der Besinnung auf das Jüdische machten sich die Prager bei anderen vertraut, Martin Buber ( ) etwa oder bei Theodor Herzl ( ), dem Begründer des politischen Zionismus. Die Aussicht auf einen eigenen jüdischen Staat, den der Zionismus anstrebte, war für die meisten jüdischen Schriftsteller verlockend. Sie beteiligten sich schreibend und handelnd an der zionistischen Bewegung in Prag. Kafka war schon in Studienjahren ein begeisterter Zionist, erklärte 1965 ein ehemaliger Mitschüler in einem Zeitungsinterview. Felix Weltsch, ebenfalls Schulfreund Kafkas, war von 1918 an Chefredakteur der zionistischen Wochenzeitung Selbstwehr. Max Brod erreichte bei Thomáš G. Masaryk, dem ersten Präsidenten der tschechoslowakischen Republik, die Zusage, die jüdische Nationalität in der Republik anzuerkennen. Er engagierte sich außerdem für jüdische Flüchtlinge aus Galizien (heute Polen/Ukraine). Im literarischen Kontext der Prager Schriftsteller waren die (sudeten-)deutschen Vorläufer Adalbert Stifter ( ), Hugo Salus ( ), Friedrich Adler ( ); und natürlich standen die jüdischen Autoren auch unter dem starken Einfluß tschechischer Poeten: Mit den Tschechen hielten wir gute Nachbarschaft 109

5 und die tschechischen Dichter liebten wir... Wir alle beherrschten die tschechische Sprache vollständig, erinnert sich Brod. Zu erwähnen sind vor allem Božena Němcová ( , Babička ) und Jan Neruda ( , Kleinseitner Geschichten ). Dem Tschechen Jaroslav Hašek ( Schwejk ) verhalf Brod zum Durchbruch: Bisher war nix mit mir. Aber jetzt, wo das ein Jud in die Hand nimmt, jetzt werdet s ihr sehen, soll Hašek geäußert haben. Mit der berühmten Prager Kaffeehausliteratur, über die in jedem Reiseführer zu lesen ist, hatte der Kreis freilich denkbar wenig zu tun. Was über das Café Arco gefabelt wird, ist unwahr oder doch stark übertrieben, schreibt Brod, und weiter: Erst Werfel und die Seinen machten das (neue) Café Arco zu ihrem Stammlokal. Der Prager Kreis war zwar ein Kristallisationspunkt der Literatur in dieser Stadt, vielleicht der wichtigste, aber doch nicht der einzige. Viele Dichter hatten mit der Clique um Max Brod nichts oder nur am Rande etwas zu tun. Rainer (René) Maria Rilke verbrachte nur seine Jugend in Prag. Der Wiener Gustav Meyrink ( ) arbeitete dreizehn Jahre in einer Prager Bank und schrieb später den Golem. Egon Erwin Kisch, dessen literarische Qualitäten Brod nicht besonders schätzte ( Zweckschriftsteller ) machte sich einen Namen mit Der rasende Reporter. Mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus in Deutschland war das Ende der Blütezeit deutscher Literatur in Prag eingeläutet. Im Nachhinein werden die glücklich geschätzt, die noch vor dem Einmarsch der Hitler-Truppen am 15. März 1939 verstarben. Obwohl die Autoren an ihrer Stadt hingen, nicht von ihr loskamen (Kafka: Dieses Mütterchen hat Krallen. ), flüchteten sie sich ins Ausland, die Zionisten unter ihnen, wenn sie konnten, nach Israel: Die Sonne Prags geht im Mittelländischen Meer unter (Brod). Unzählige Juden schafften es jedoch nicht, den Nazis zu entkommen. Sie wurden in Konzentrationslager verschleppt. Nach einem Diktum von H.G. Adler ( ) war das KZ Theresienstadt die letzte Enklave der Prager Schule und ihrer schöpferischen Literatur in deutscher Sprache. Nur wenige ihrer schöpferischen Literaten kehrten nach dem Krieg nach Prag zurück. Literatur Max Brod: Der Prager Kreis. Stuttgart 1966 (W. Kohlhammer). Jürgen Serke: Böhmische Dörfer. Wanderungen durch eine verlassene literarische Landschaft. Wien 1987 (Paul Zsolnay). 110

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