Hauptvorlesung Psychiatrie und Psychotherapie 2: Psychotische Funktionsstörungen II

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1 Hauptvorlesung Psychiatrie und Psychotherapie 2: Psychotische Funktionsstörungen II Professor Dr. Joachim Klosterkötter

2 Hauptvorlesung 1: Psychotische Funktionsstörungen I Lernziele erreicht? Aufgabe für die Vorlesung am Benennen Sie die drei Wahnkriterien. 2. Erklären Sie die Zweigliedrigkeit der Wahnwahrnehmung. Seite 2

3 Der psychische Befund Struktur und Dokumentation der speziellen Anamnese Bewusstsein und Orientierung Aufmerksamkeit und Gedächtnis Affektivität (einschl. Ängste und Zwänge) Verhalten, Antrieb, Psychomotorik formales Denken inhaltliches Denken Ich-Erleben Wahrnehmung Vegetativum Selbst- und Fremdgefährdung Besonderheiten (z.b. Minderbegabung; Sucht; auffälliges Äußeres, z.b. Kleidung) Seite 3

4 PSYCHOTISCHE FUNKTIONSSTÖRUNGEN II (Inhaltliches Denken, Ich-Erleben, Wahrnehmung) Lernziele 1) Was versteht man unter Ich-Störungen? 2) Erklärung des Begriffs psychotischer Erlebniswandel 3) Halluzinationen: - wichtigste Sonderformen und diagnostische Zuordnung -Differenzierung zu illusionären Verkennungen und Pseudohalluzinationen Seite 4

5 Ich-Störungen Edmund Kalb (* 2. Februar 1900; 20. Oktober 1952), Vorarlberger Maler und Zeichner Selbstbildnisse 1929/1930 Seite 5

6 Störung der Meinhaftigkeit = Ich-Störungen Gedankenausbreitung Gedankenentzug Gedankeneingebung Das Erlebnis des von außen Gemachten bezogen auf die eigenen Leibgefühle = leibliche Beeinflussungserlebnisse Das Erlebnis des von außen Gemachten bezogen auf die eigenen Bewegungen und Handlungen = Willensbeeinflussungserlebnisse Seite 6

7 Gedankenausbreitung Der Patient ist überzeugt, dass andere wissen, was er denkt: Sie können seine Gedanken lesen, die nicht mehr ihm allein gehören. Der Patient kann dafür verschiedene Erklärungen haben oder sich einfach nur gewiss sein. Er kann wähnen, dass Geräte oder Telepathie im Spiel sind oder dass seine Gedanken laut werden und von anderen mitgehört werden(=gedankenlautwerden). Beispiel: Jemand zapft mein Gehirn an, ich sehe das an den Reaktionen der Kolleginnen, die meine Pläne durchkreuzen. Andere hören meine Gedanken, neulich hat ein Mann auf der Strasse genau das gesagt, was ich gerade gedacht habe. (Gedankenlautwerden) Seite 7

8 Gedankenausbreitung Vorkommen: Charakteristisch für Schizophrenien; selten auch organische Störungen, in Einzelfällen auch im Verlauf affektiver (v.a. schwerer manischer) Störungen. Fragen: Haben Sie das Gefühl, andere kennen Ihre Gedanken, wissen, was Sie denken? Woran bemerken Sie das? Beispiele nennen lassen. Seite 8

9 Gedankenentzug Die Patienten haben die wahnhafte Überzeugung, dass ihnen ihre Gedanken weggenommen oder entzogen werden. Sie tritt als unmittelbare Gewissheit auf oder wird mittelbar vom Patienten empfunden, z.b. durch Hypnose, Strahlen. Beispiel: Plötzlich waren alle Gedanken weg, da hat mich jemand hypnotisiert. Seite 9

10 Gedankenentzug Vorkommen: Charakteristisch für Schizophrenien, sehr selten auch organische Störungen, in Einzelfällen auch im Verlauf affektiver (v.a. schwerer manischer) Störungen. Fragen: Ist manchmal einfach ein Gedanke weg? Wie passiert das, steckt jemand oder etwas dahinter, nimmt Sie Ihnen jemand weg (z.b. durch Hypnose, ein Gerät)? Beispiele nennen lassen. Seite 10

11 Gedankeneingebung Der wahnhafte Überzeugung, dass fremde Gedanken eingegeben werden. Der Kranke muss mitdenken, was andere denken. Hierzu gehört auch, wenn ein Patient glaubt, dass die Gedanken und Vorstellungen von der Umwelt beeinflusst oder gelenkt werden. Beispiel: Ich muss ständig die Gedanken meiner Zimmernachbarn mitdenken, das stört mich. Das bin nicht Ich, irgend jemand sendet mir diese Einfälle zu. Ich glaube an Telepathie, ich bekomme ständig Eingebungen von Medien. Seite 11

12 Gedankeneingebung Vorkommen: Charakteristisch für Schizophrenien, selten auch organische Störungen, in Einzelfällen auch im Verlauf affektiver (v.a. schwerer manischer) Störungen. Fragen: Haben Sie Gedanken, die gar nicht zu Ihnen gehören? Denken Sie die Gedanken anderer Menschen manchmal einfach mit? Können Sie noch so denken, wie Sie wollen, oder stimmt mit Ihrem Denken irgendetwas nicht mehr? Werden Ihre Gedanken gesteuert, z.b. mit Telepathie, Hypnose oder Strahlen? Beispiele nennen lassen. Seite 12

13 Leibliche Beeinflussung Diese merkwürdigen Kribbelgefühle kommen nicht von meinem Körper, sondern von der Bestrahlung, mit der man mich mürbe machen will. Willensbeeinflussung Ich bewege mich wie eine Marionette und werde von außen gesteuert. Seite 13

14 Psychotischer Erlebniswandel Durchlässigwerden der Ich-Grenzen Welt ich-zentriert Wahrgenommene Gegenstände werden als für mich aufgestellt, inszeniert usw., also gemacht erlebt Wahnwahrnehmungen Ich welt-zentriert Denkakte, Willenshandlungen und Leibgefühle werden als von außen gemacht erlebt Ich-Erlebnisstörungen Seite 14

15 Akustische Halluzinationen Treten auf als: ungeformte Gehörtäuschungen (=Akoasmen)., z.b. hören Patienten Geräusche wie Krachen, Klirren, Bellen, Schießen usw. (Differentialdiagnose: Tinnitus) Wortfragmente, einzelne Bedeutung tragende Laute (=Phoneme) Stimmenhören: ganze Worte und Sätze werden halluziniert Die Stimmen können als wichtige Sonderformen sich über den Patienten unterhalten (kommentierende Stimmen), ihm Befehle geben (imperative Stimmen), mit mindestens zwei Stimmen sich in Rede und Gegenrede unterhalten (dialogisierende Stimmen), als eigene Gedanken empfunden werden (Gedankenlautwerden). Seite 15

16 Akustische Halluzinationen Beispiel: Patient klagt darüber, nachts ständig Schüsse zu hören, die alle Mitbewohner verleugnen (Akoasmen). Eine Stimme befiehlt mir, mich zu töten (=imperative Stimme). Nachbarn unterhalten sich den ganzen Tag über mich und machen mich schlecht, ich kann es durch die Wände in meiner Wohnung hören (dialogisierende und kommentierende Stimmen). Vorkommen: Bei Schizophrenien und organischen Störungen (v.a. Temporallappenläsionen, Epilepsie), selten auch bei affektiven Störungen. Seite 16

17 Akustische Halluzinationen Fragen: Es hat wenig Sinn, zu fragen, ob jemand Stimmen hört, stattdessen: Hören Sie manchmal jemanden sprechen, obwohl niemand im Raum ist? Oder Hören Sie Personen, die nicht anwesend sind, vielleicht auch Nachbarn durch die Wände oder Passanten auf der Strasse über Sie sprechen? Falls ja, genauer erklären lassen, ob sie so deutlich wie die Stimme des Untersuchers zu hören sind, ob es sich um Mann oder Frau handelt, und was sie sagen. Haben Sie Geräusche, Töne gehört, die andere nicht hören? Seite 17

18 Optische Halluzinationen Sie treten auf als: ungeformte elementare Wahrnehmungen (=Photopsie): z.b. Lichtblitze, Sterne, Farben (Differentialdiagnose: Migräne) komplexe Sinnestäuschungen: einzelne Gestalten (Personen, Gesichter, Tiere, wie z.b. weiße Mäuse) oder ganze gestaltete Szenen als szenische Halluzination. Traumähnliche, szenische Halluzinationen, bei denen der Patient meist aktiv im Mittelpunkt steht, heißen auch oneiroide Halluzinationen. Beispiel: Vor jedem Anfall sehe ich nur noch farbige Lichtblitze. (=Photopsie). Was sollen die vielen Käfer auf meiner Bettdecke? Seite 18

19 Optische Halluzinationen Vorkommen: Bei organischen Störungen insbesondere dem Alkoholentzugsdelir, anderen Delirien, drogeninduzierten Psychosen, Okzipitallappenläsionen, epileptischen Auren. Physiologisch auch im Halbschlaf (hypnagoge Halluzinationen). Szenische Halluzinationen sind sehr selten bei Schizophrenien, häufig bei deliranten Syndromen. Fragen: Haben Sie Dinge und Personen gesehen, die andere nicht so sehen können, vielleicht auch kleine Tierchen? Haben Sie Visionen? Seite 19

20 Geruchs- und Geschmackshalluzinationen Wahrnehmung meist unangenehmer oder ungewöhnlicher Geschmacksempfindungen (=gustatorische Halluzination) oder Gerüche (=olfaktorische Halluzination). Beide gehen oft ineinander über. Beispiel: Es riecht nach Gas. Probieren Sie das Essen, das schmeckt nach Gift. Seite 20

21 Geruchs- und Geschmackshalluzinationen Vorkommen: Bei organischen Störungen (häufig Prozessen des limbischen Systems, epileptischen Auren), Schizophrenien, auch schweren Depressionen. Fragen: Haben Sie eigenartige Gerüche gemerkt, z.b. Gas? Schmecken Speisen und Getränke anders, ist auf der Zunge ein eigenartiger Geschmack? Beispiele nennen lassen. Seite 21

22 Illusion, illusionäre Verkennung Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Es ist der Vater mit seinem Kind. Er hat den Knaben wohl in dem Arm, Er faßt ihn sicher, er hält ihn warm. Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht? Siehst Vater, du den Erlkönig nicht! Den Erlenkönig mit Kron' und Schweif? Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif. Johann Wolfgang von Goethe ( ) Seite 22

23 Illusion, illusionäre Verkennung Etwas wirklich gegenständlich Vorhandenes wird für etwas anderes gehalten, als es tatsächlich ist, oder einer realen Wahrnehmung wird etwas hinzugefügt. Beispiel: Ängstliches Kind verkennt nachts Büsche als Personen. Vorkommen: Unspezifisch, tritt v.a. bei affektiver Anspannung oder kognitiven Beeinträchtigungen (z.b. bei Minderbegabung) auf. Fragen: Einstiegsfrage, aus der auch Wahrnehmungsanomalien und Illusionen erschlossen werden können. Sehen Sie manche Dinge anders? Nehmen Sie seltsame Sachen wahr? Seite 23

24 Pseudohalluzinationen Keine Wahrnehmungen, sondern Vorstellungen Nicht leibhaftig mit Objektivitätscharakter, sondern bildhaft mit Subjektivitätscharakter Erscheinen nicht im äußeren objektiven Raum, sondern im inneren subjektiven Vorstellungsraum Innere Bilder (optisch) oder Stimmen (akustisch), von denen ich weiß, dass da nichts ist, dass ihnen keine Realität entspricht Seite 24

25 Hauptvorlesung 2: Psychotische Funktionsstörungen II Lernziele erreicht? Aufgabe für die Vorlesung am Benennen Sie Beispiele zu folgenden Ich-Störungen: Gedankenausbreitung Gedankenentzug Gedankeneingebung 2. Erklären Sie den psychotischen Erlebniswandel. 3. Wie wird eine illusionäre Verkennung von einer Wahnwahrnehmung differenziert? Seite 25