Im Bann der Alchemie

Transkript

1 Unverkäufliche Leseprobe Annette Neubauer Tatort Forschung Im Bann der Alchemie illustriert von Joachim Krause 13,0 x 20,0 cm, Hardcover 128 Seiten, ab 10 Jahren, Juni ,90 EUR [D], 8,20 EUR [A], 14,50 CHF ISBN: Alle Rechte vorbehalten. Die weitere Verwendung der Texte und Bilder, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen Loewe Verlag, Bindlach

2 Inhalt Begegnung im Tower Gefährliches Wissen Schritte im Treppenhaus Überfall in der Nacht Der Streit Verfolgung in der Dämmerung Das dritte Gesetz Der Stein der Weisen Das geheime Labor In der Hexenküche Lösungen Glossar Zeittafel Isaac Newton: ein Universalgenie

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4 Begegnung im Tower Geht das nicht schneller?, rief Newton ungeduldig und beugte sich nach vorne. Der Kutscher ließ die Peitsche knallen und die Pferde zogen an. Die Räder des Wagens knarrten, als sie um eine Ecke in die St. Albans Street bogen. Warum muss in London auch überall gebaut werden? Newton fuhr sich hektisch durch sein halblanges graues Haar. Die ganze Stadt ist versperrt. Beruhigt Euch, Sir. George, der auch in der kleinen Kalesche saß, hatte bei den ständigen Wutausbrüchen Newtons ein mulmiges Gefühl. Er war erst seit einem Tag bei dem bekannten Naturwissenschaftler zu Besuch. Trotzdem wusste er bereits, dass Newton alles, was ihn von seinen Forschungen abhielt, hasste. George dagegen war froh, Newtons Wohnung in der Jermynstreet für ein paar Stunden verlassen zu können. Für ihn war die Kutschfahrt zum Tower eine willkommene Abwechslung. Ich würde gern mehr von der Hauptstadt sehen, seufzte George und blickte zur Themse, in der sich die warme Herbstsonne spiegelte. George, ich habe deinem Vater versprochen, dich 11

5 in Mathematik, Physik und Astronomie zu unterrichten. Von Spazierfahrten war nie die Rede. Newton zog seine Mundwinkel nach unten, wobei sein Nasenrücken noch länger wirkte als gewöhnlich. Mit seinen wachen Augen betrachtete er seinen Schüler und runzelte die Stirn. Deine Kenntnisse in den Naturwissenschaften sind katastrophal. Dabei bist du schon zwölf Jahre alt! George wandte beschämt den Kopf zum Fenster und beobachtete, wie eine Frau mit einem schweren Korb auf der Schulter den Bürgersteig entlanghastete. Er wollte sich nicht mit Newton streiten. Gegen den scharfen Verstand seines Lehrers kam George ohnehin nicht an und er wechselte lieber das Thema. Sir, Ihr habt mir immer noch nicht erklärt, weshalb Ihr im Tower vorsprechen müsst. Das, mein junger Freund, wirst du ohnehin nicht verstehen, antwortete Newton und nestelte an seinem Seidentuch. Wie soll ich etwas lernen, wenn ich keine Antworten auf meine Fragen bekomme?, brummelte George leise. Mein Vater hat mich zu Euch gebracht, damit ich bei Euch Privatunterricht erhalte. Und jetzt haltet Ihr Euer Wissen vor mir geheim. Ich verbitte mir diesen Ton! Wenn ich dir etwas 12

6 wirklich Wichtiges erkläre, wie die Erdanziehungskraft, hörst du doch überhaupt nicht zu! Newton betrachtete seinen Schüler mit griesgrämigem Gesicht. Wenn mir deine Eltern nicht die Wohnung in London besorgt hätten, würde ich dich auf der Stelle zu ihnen zurückschicken. George schwieg und blickte Newton trotzig an. Nun gut, du bist schließlich bei dem bevorstehenden Termin mit dabei, willigte Newton ein. Wenn du es unbedingt wissen willst: Ich werde eines Kapitalverbrechens beschuldigt. Was?, rief George erschrocken und riss die Augen auf. Habt Ihr jemanden umgebracht? 13

7 Noch bevor Newton antworten konnte, zog der Kutscher kräftig die Zügel an und die Pferde blieben mit einem Ruck stehen. Natürlich nicht, antwortete Newton ungeduldig. Dabei zog er eine Dose Kautabak aus seiner Jackentasche. Aber jetzt steigen wir erst einmal aus. Wir sind angekommen. Newton kletterte umständlich aus dem Wagen und drückte dem Kutscher einige Münzen in die Hand. George sprang ihm nach und schaute sich neugierig um. Der Tower hatte die Größe eines Städtchens und beherbergte den königlichen Palast, ein Gefängnis und die Münzanstalt. Vor ihnen lag eine Gasse, die rechts und links mit Fachwerkbauten gesäumt war. In den Häusern waren Wohnungen und Schmieden untergebracht. Ohne seinen Schüler zu beachten, eilte Newton auf ein weißes Gebäude mit vier Türmen zu, deren Kuppeln golden glänzten. Seine schnellen Schritte hallten laut auf dem Kopfsteinpflaster wider. Wartet doch!, rief George, der mit dem Tempo seines Lehrers kaum mithalten konnte. Verratet mir noch eins: Was habt Ihr denn verbrochen? Newton blieb vor einem Eingang stehen, der hinauf zu einem der Türme führte, und drehte sich um. 14

8 Nicht das Geringste. Ich lebe für die Wissenschaft und versuche lediglich, die Gesetze der Erde und des Himmels zu verstehen. Mit einem Ruck drückte Newton den eisernen Türgriff herunter. Damit habe ich mir, weiß Gott, nicht nur Freunde gemacht. Wie meint Ihr das?, fragte George neugierig. Dabei folgte er Newton in das Treppenhaus, wo ihnen die kühle Luft der Steinmauern entgegenschlug. Wenn wir Blei in Gold verwandeln können, haben wir eines der wichtigsten Rätsel gelöst, erklärte Newton und stieg die steilen Stufen zum zweiten Stockwerk hinauf. Die Verwandlung von Materie gehört zu den bedeutendsten Fragen der Naturwissenschaften. Ihr seid ein Alchemist?, fragte George fassungslos. Ein Schwarzkünstler? Nenn es, wie du willst, antwortete Newton gelassen und betrat einen langen Gang. Aber du weißt ja, 15

9 dass Alchemie unter Strafe steht, auch wenn sie ernsthaft und nicht aus Geldgier betrieben wird. Die Herrschenden fürchten, ihre Macht zu verlieren, die auf ihrem Reichtum beruht. Denn wenn Gold hergestellt werden kann, wird es über kurz oder lang wertlos. Und nur, was selten ist, wird von den Menschen begehrt. 16