Polizei- und Ordnungsrecht
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- Rüdiger Schmitz
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1 Philipps-Universität Marburg WS 2011/2012 Polizei- und Ordnungsrecht - 14 Doppelstunden - Lehrbeauftragter RVGH Falko Jeuthe Dienstag, 7. Februar 2012 (2 Doppelstunden) F. Fallbearbeitung I. Vorbemerkungen Den Grundfall einer polizeirechtlichen Klausur stellt die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Gefahrenabwehrverfügung (oder eines eingreifenden Realakts) einer Polizei- oder Gefahrenabwehrbehörde (Ordnungsbehörde oder allgemeine Verwaltungsbehörde) dar. Der klassische zweistufige Prüfungsaufbau (formelle und materielle Rechtmäßigkeit) sollte ergänzt werden um eine vorangestellte Prüfung der in Frage kommenden Ermächtigungsgrundlage (Spezialgesetz, HSOG-Standardmaßnahme oder Generalklausel gemäß 11 HSOG), weil von der Ermächtigungsgrundlage formelle Anforderungen abhängen können, wie insbes. die Behördenzuständigkeit. Wenn die Frage der Ermächtigungsgrundlage nicht problematisch, sie etwa schon im Bescheid benannt ist, reicht es aus, die in Frage kommende Ermächtigungsgrundlage bzw. Befugnisnorm kurz zu benennen. Wenn Anhaltspunkte für Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Ermächtigungsgrundlage bestehen oder geltend gemacht werden, kann diese Frage schon auf dieser ersten Stufe, besser aber erst im Rahmen der materiellen Prüfung erörtert werden. Bei der Prüfung der formellen Rechtmäßigkeit auf der zweiten Stufe sind drei Teilfragen zu berücksichtigen, nämlich Zuständigkeit, Verfahren und Form, wobei ggfs. die besonderen Anforderungen von Standardbefugnissen (z.b. Richtervorbehalt) und als allgemeine Verfahrensfrage insbesondere die Anhörung gemäß 28 HVwVfG zu beachten sind.
2 2 Die materielle Prüfung geht von der herangezogenen Ermächtigungsgrundlage aus und prüft deren Tatbestandsvoraussetzungen (ggfs. Umdeutung gemäß 47 HVwVfG) und anschließend die Inanspruchnahme des richtigen Adressaten/Verantwortlichen der Maßnahme. Auf der Rechtsfolgenseite ist das Übermaßverbot bzw. die Verhältnismäßigkeit bei Ermessensentscheidungen unter dem Gesichtspunkt der Ermessensüberschreitung (neben Ermessensunterschreitung und - fehlgebrauch) zu prüfen, bei gebundenen Entscheidungen als eigenständiger Prüfungspunkt. In anderen Fallgestaltungen ist häufig dieser Grundfall in die Prüfung einzubauen oder umgekehrt die Prüfung zu ergänzen. Das gilt etwa für solche Fälle, in denen eine Gefahrenabwehrverfügung darauf gestützt wird, dass ein Verstoß gegen eine Gefahrenabwehrverordnung droht oder erfolgt ist, weil dies eine Gefahr oder Störung für die öffentliche Sicherheit in Form der Unverletzlichkeit der Rechtsordnung darstellt. In diesem Zusammenhang ist dann die Rechtmäßigkeit der Gefahrenabwehrverordnung zu prüfen, da sie als Rechtsnorm anders als Verwaltungsakte andernfalls unwirksam ist. Es gibt aber auch Fälle, in denen im Sinne einer abstrakten Normenkontrolle gemäß 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO nur nach der Rechtmäßigkeit der Gefahrenabwehrverordnung gefragt ist. Dafür ist ein eigenes Prüfungsschema zugrunde zu legen. Das gilt auch für die Frage nach der Rechtmäßigkeit einer Vollstreckungsmaßnahme, weil hier vollstreckungsrechtliche Normen zu prüfen sind. Ob die Rechtmäßigkeit der Grundverfügung für die Rechtmäßigkeit der Vollstreckungsmaßnahme eine Rolle spielt, das Schema des Grundfalles also einzubauen ist, ist wie früher ausgeführt streitig und wohl eher zu verneinen (anders bei einstufiger Vollstreckung). Ein ähnliches Problem kann sich stellen, wenn es um die Erstattung der Vollstreckungskosten geht. Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass die in einem Prüfungsschema aufgeführten Punkte zwar gedanklich abgeprüft, aber nur insoweit in einer Fallbearbeitung abgehandelt werden sollen, als sie entweder tatsächlich problematisch erscheinen oder von Beteiligten problematisiert werden. Besonderes Augenmerk ist auch auf die Fallfrage zu richten, ob diese etwa nur auf die Prüfung eines dieser Punkte zielt. Weiterhin ist zu beachten, dass je nach Fallfrage das Prüfungsschema ggfs. hilfsweise durchgeprüft werden soll, wenn schon an einem frühen Prüfungspunkt die Rechtswidrigkeit der Maßnahme festgestellt wird.
3 3 II. Prüfungsschemata a) Rechtmäßigkeit einer Gefahrenabwehrverfügung (Beispielsfall: Baumschaden, Frage A) I. Ermächtigungsgrundlage (Spezialgesetz, HSOG-Standardmaßnahme, Generalklausel 11 HSOG) II. Formelle Rechtmäßigkeit 1. Zuständigkeit a) sachlich (insbesondere 2 HSOG, 1 HSOG-DVO) b) örtlich ( 100, 101 HSOG) c) instanziell ( 89 Abs. 2 HSOG) 2. Verfahren a) besondere spezialgesetzliche Anforderungen b) Anhörung ( 28 HVwVfG) 3. Form a) Erlass ( 37 Abs. 2 HVwVfG) b) Begründung ( 39 HVwVfG) c) Bekanntgabe ( 41 HVwVfG) III. Materielle Rechtmäßigkeit 1. Ermächtigungsgrundlage a) ggfs. Wirksamkeit/Verfassungsmäßigkeit b) Tatbestandsvoraussetzungen 2. Verantwortlichkeit (Spezialgesetz, 6 ff. HSOG) 3. Allgemeine Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen a) Bestimmtheit ( 37 HVwVfG) b) rechtliche und tatsächliche Möglichkeit c) Übermaßverbot (Art. 20 Abs. 3 GG, 4 HSOG) 4. Ermessensausübung ( 5 HSOG) a) Entschließungs- und Auswahlermessen b) Ermessensfehler ( 40 HVwVfG) (1) Unterschreitung (2) Fehlgebrauch (3) Überschreitung (vgl. 3.c)
4 4 b) Rechtmäßigkeit einer Gefahrenabwehrverordnung (Beispielsfall: gemeindlicher Leinenzwang) I. Ermächtigungsgrundlage (Spezialgesetz, 71 ff. HSOG) II. Formelle Rechtmäßigkeit 1. Zuständigkeit ( 72 bis 74 HSOG) 2. Verfahren a) kommunale Vorschriften b) Verkündung 3. Form ( 78 HSOG) III. Materielle Rechtmäßigkeit 1. Ermächtigungsgrundlage ( 71 HSOG) (abstrakte Gefahr) 2. Verantwortlichkeit 3. Inhaltliche Rechtmäßigkeit a) Bestimmtheit ( 76 HSOG) b) höherrangige Regelung ( 75 Abs. 2 HSOG) 4. Übermaßverbot 5. Ermessensausübung c) Rechtmäßigkeit einer Vollstreckungsmaßnahme (gestrecktes Vollstreckungsverfahren) (Beispielsfall: Baumschaden, Frage B) I. Ermächtigungsgrundlage (HVwVG oder 47 ff. HSOG) II. Formelle Rechtmäßigkeit 1. Zuständigkeit ( 68 Abs. 1 HVwVG, 47 Abs. 3 HSOG) 2. Zwangsmittelandrohung ( 69 HVwVG, 53, 58 HSOG) 3. Festsetzung ( 76 HVwVG, 50 HSOG) 4. Anhörung ( 28 Abs. 5 HVwVfG)
5 5 III. Materielle Rechtmäßigkeit 1. vollstreckbare Grundverfügung ( 2 HVwVG, 47 HSOG) 2. Richtiges Zwangsmittel 3. Adressat 4. Allgemeine Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen a) Bestimmtheit b) Vollstreckungshindernis c) Erfüllung d) Übermaßverbot 5. Ermessensausübung III. Rechtsschutz 1. Allgemeines Die Fallfrage einer Klausur kann auch über die bloße Rechtmäßigkeit einer Maßnahme hinaus auf die dagegen gegebenen Rechtsschutzmöglichkeiten zielen, so dass nach den Erfolgsaussichten eines Widerspruchs, eines einstweiligen Rechtsschutzantrags oder einer Klage oder nur ergänzend nach deren Zulässigkeit - gefragt ist. Dann ist (zunächst) die Zulässigkeit eines solchen Rechtsbehelfs und ggfs. im Rahmen der Begründetheitsprüfung wiederum die Rechtmäßigkeit der Maßnahme zu prüfen. Hier ist allerdings im Obersatz eine Verknüpfung mit dem Rechtsbehelf erforderlich, also im Falle eines Anfechtungswiderspruchs etwa gemäß 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO analog, bei einer Anfechtungsklage in direkter Anwendung dieser Vorschrift und bei Anträgen einstweiligen Rechtsschutzes über den Anordnungsan-spruch gemäß 123 Abs. 1 VwGO oder im Rahmen der Interessenabwägung gemäß 80 Abs. 5 VwGO, wobei hier die Rechtmäßigkeit nur einer summarischen Prüfung unterzogen wird. Das bedeutet allerdings nur, dass die Prüfung sich auf die vorhandenen Tatsachengrundlagen beschränkt, auf dieser Grundlage aber eine uneingeschränkte rechtliche Prüfung durchzuführen ist. 2. Einzelfragen a) Da die Anfechtung einer Maßnahme der Polizei oder der Gefahrabwehrbehörden im Bereich des Polizei- und Ordnungsrechts ohne Weiteres als öffentlichrechtliche Streitigkeit nicht verfassungsrechtlicher Art gemäß 40 Abs. 1 Satz 1
6 6 VwGO anzusehen ist, ist der Verwaltungsrechtsweg bei polizeirechtlichen Klausuren nur zu problematisieren, wenn eine abdrängende Sonderzuweisung in Betracht kommt. Das gilt etwa für einen Schadensausgleichanspruch gemäß 70 HSOG i.v.m. 40 Abs. 1 Satz 2 VwGO, für vermögensrechtliche Ansprüche aus Aufopferung, für das gemeine Wohl und aus öffentlich-rechtlicher Verwahrung sowie für Schadensersatzansprüche aus der Verletzung öffentlich-rechtlicher Pflichten gemäß 40 Abs. 2 Satz 1 VwGO. Wichtig ist die Sonderzuweisungsnorm des 23 EGGVG, wonach über Maßnahmen der Justizbehörden auf dem Gebiet der Strafrechtspflege im ordentlichen Rechtsweg zu entscheiden ist, also auch über Maßnahmen der Polizei im repressiven Bereich nach der StPO in Abgrenzung zur präventiven Gefahrenabwehr. b) Als Rechtsschutzformen kommen Widerspruch gemäß 68 ff. VwGO und Anfechtungsklage gemäß 42 Abs. 1 VwGO in Betracht, wenn es sich bei der angegriffenen Maßnahme um einen Verwaltungsakt gemäß 35 HVwVfG handelt. Das kann bei der Anwendung der Ersatzvornahme und des unmittelbaren Zwangs im Hinblick auf den Regelungscharakter derartiger Maßnahmen zweifelhaft sein. Die Frage, ob der Anwendung des Zwangs eine Duldungsverfügung zugrunde liegt, ist wie oben dargelegt problematisch und deshalb in einer Klausur zu diskutieren. Besondere Relevanz bekommt dieses Problem, wenn die Ersatzvornahme oder der unmittelbare Zwang nicht im gestreckten Vollstreckungsverfahren, sondern im sog. einstufigen Verfahren gemäß 47 Abs. 2 HSOG oder insbesondere als unmittelbare Ausführung gemäß 8 Abs. 1 HSOG erfolgt. Hier ist die Neigung in Literatur und Rechtsprechung erheblich, einen zusammenfassenden Verwaltungsakt anzunehmen. Da sich Gefahrabwehrmaßnahmen oft mit kurzfristiger Durchführung erledigen, kommt der sog. Fortsetzungsfeststellungsklage gemäß 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO im Gefahrabwehrrecht insbes. in versammlungsrechtlichen Fällen - erhebliches Gewicht zu. Als Zulässigkeitsvoraussetzungen sind im Verhältnis zur Anfechtungsklage zusätzlich Erledigung und Fortsetzungsfeststellungsinteresse zu prüfen (Wiederholungsgefahr, Präjudiz für Schadensersatz/Amtshaftung, Rehabilitationsinteresse, schwerwiegender und kurzfristiger Grundrechtseingriff). Ob bei einer Erledigung vor Klageerhebung diese Klageform oder eine allgemeine Feststellungsklage gemäß 43 VwGO zu erheben ist, ist umstritten. Als einstweilige Rechtsschutzform gegen eingreifende Gefahrenabwehrverfü-
7 7 gungen kommt regelmäßig nach der Schaltstelle des 123 Abs. 5 VwGO der vorrangige Antrag auf Anordnung oder Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung eines dagegen gerichteten Rechtsbehelfs in der Hauptsache (Anfechtungswiderspruch oder klage) gemäß 80 Abs. 5 VwGO in Frage; bei Drittanfechtungsfällen über 80 a VwGO. In den sonstigen Fällen ist einstweiliger Rechtsschutz über einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß 123 VwGO zu suchen. c) Eine Widerspruchs-, Antrags- oder Klagebefugnis analog oder gemäß 42 Abs. 2 VwGO (Ausschluss der sog. Popularklage) ist im Regelfall einer Gefahrenabwehrverfügung nicht besonders erörterungsbedürftig, auch nicht als Hinweis auf die sog. Adressatentheorie gemäß Art. 2 Abs. 1 GG. Das ist bei Rechtsbehelfen Dritter anders, weil der Dritte geltend machen muss, durch die (getroffene oder unterlassene) Maßnahme möglicherweise (sog. Möglichkeitstheorie) in drittschützenden Rechten verletzt zu sein. Diese nach der sog. Schutznormtheorie zu beantwortende Frage ist insbesondere in Fällen bau-, immissions-, gaststättenrechtlicher oder sonstiger Nachbarstreitigkeiten i.d.r. ein wesentliches Fallproblem.
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