SWR2 Musikstunde. Ouvertüren (1) SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE. Von Stephan Hoffmann

Transkript

1 SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Musikstunde Ouvertüren (1) Von Stephan Hoffmann Sendung: Montag, 11. Januar Uhr Redaktion: Bettina Winkler Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Musik sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für 12,50 erhältlich. Bestellungen über Telefon: 07221/ Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert.jetzt anmelden unter 07221/ oder swr2.de

2 2 Musikstunde Ouvertüre. Folge 1 ( ) Heute mit Stephan Hoffmann. Weil sie die Thür zu den folgenden Sachen aufschließet ist der Titel der Musikstunde in dieser Woche und als Schlüssel fungiert die Ouvertüre; als Schlüssel zu Opern, zu Schauspielen, zu Balletten, zu Suiten. Oder auch als Schlüssel zu gar nichts, wie wir schnell sehen werden. Seien Sie willkommen im sprachlichen Irrenhaus Ouvertüre. Das Unternehmen hatte es in sich: Johann Sebastian Bach wollte in den vier Teilen seiner sogenannten Clavierübungen nicht weniger als einen möglichst vollständigen Überblick über die Kunst des Cembalospiels geben. Diesmal ging es nicht wie im Wohltemperierten Clavier um das Spiel in sämtlichen Tonarten, sondern um kompositorische Formen, Gattungen und Nationalstile. Im zweiten Teil der Clavierübungen, veröffentlicht im Jahre 1735, packte Bach zwei Nationalstile zusammen, den italienischen und den französischen: Enthalten sind das Italienische Konzert und die Ouvertüre nach französischer Art, die allgemein als französische Ouvertüre bekannt geworden ist. Es lag sicher nicht in Bachs Absicht, aber bereits hier wird die Verwirrung um den Begriff Ouvertüre auf die Spitze getrieben, denn die acht Sätze der französischen Ouvertüre beginnen mit einer Ouvertüre. Diese Ouvertüre zur französischen Ouvertüre eröffnet zwar etwas, nämlich die französische Ouvertüre, die französische Ouvertüre als Ganzes aber eröffnet gar nichts. Warum aber heißt sie dann Ouvertüre? Eine Ouvertüre hat den Namen vom Eröffnen, weil sie gleichsam die Tür zu den Suiten oder folgenden Sachen aufschließet, schrieb Johann Mattheson, einer der wichtigsten Musiktheoretiker seiner Zeit, in seiner 1713 veröffentlichten Schrift Das Neu-Eröffnete Orchester.

3 3 Die Tür zu den folgenden Sachen aufschließen tat die Ouvertüre auch, aber eben nicht nur. Es kann mit dem Begriff Ouvertüre zumindest in dieser Zeit, also in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, auch eine komplette Suite gemeint sein. Hier also die Ouvertüre zur Ouvertüre. Musik 1: J. S. Bach, Französische Ouvertüre BWV 831. Evgeni Koroliov, Klavier. Archiv-Nr Tr. 3. Dauer: 9'32 Evgeni Koroliov spielte die Ouvertüre, also den ersten Satz aus Bachs französischer Ouvertüre BWV 831. Wegen der doppelten Bedeutung des Begriffs Ouvertüre ist das Stück ideal als Einstieg in diese Musikstunden-Woche, zu der ich Sie herzlich begrüße, denn die hat genau diesen Begriff zum Thema: die Ouvertüre. Der Begriff Ouvertüre leitet sich her vom französischen ouver offen, geöffnet und in Frankreich wurde er in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts auch zuerst verwendet. Allerdings nicht als Eröffnungsstück einer Oper, die steckte damals noch in den Kinderschuhen, sondern als Eröffnungsstück eines Balletts. Doch auch die ersten Opern wurden natürlich musikalisch eröffnet, nur hießen diese Eröffnungen nicht beziehungsweise noch nicht Ouvertüre. Sie hatten auch eine andere Struktur als die späteren Opern- Ouvertüren. Zu den frühesten Opern, die wir kennen, zählt Claudio Monteverdis Orfeo. Der aber wird mit einer Fanfare eröffnet, die offiziell Toccata heißt und eben nicht Ouvertüre. -- Musik 2: Claudio Monteverdi, Orfeo. Toccata. English Baroque Soloists, Dir: John Eliot Gardiner. Archiv-Nr Tr. 1, 0'05-1'34. Dauer: 1'29 --

4 4 Die English Baroque Soloists unter John Eliot Gardiner waren das mit der Toccata aus Claudio Monteverdis Orfeo. Fanfaren wie die eben gehörte konnten nicht nur Opern eröffnen, sondern auch Schauspiele. So ist überliefert, dass im Shakespeareschen Theater, bevor der Vorhang hochgezogen wurde, drei Trompetenstöße ertönten; die Fanfare ist also nicht nur die Mutter der Opern-, sondern auch die der Schauspielmusik-Ouvertüre. Natürlich lassen sich auch ganz andere Dinge eröffnen als Musikstücke, so bedeutet Ouvertüre im militärischen Kontext Nachricht oder Mitteilung, in der Jurisprudenz heißt Ouvertüre Offenbleiben oder Vorbehalt. Hier aber soll es um die musikalische Bedeutung des Begriffs gehen, und in diesem Zusammenhang taucht er zum ersten Mal im Jahr 1640 auf. Das Stück heißt Ballet de Mademoiselle, der erste Satz ist mit Ouuerture überschrieben. Wir wissen nicht, wer diese Ouvertüre und das ganze Ballett komponiert hat, mit Sicherheit war es nicht Jean-Baptiste Lully, denn der war 1640 gerade mal zarte acht Jahre alt. Allerdings kann Lullys Bedeutung für die Entwicklung der Ouvertüre kaum überschätzt werden, nicht nur, weil er als erster regelmäßig Ouvertüren schrieb; zuerst in seinen Ballettmusiken, wenig später auch in seinen Opern. Musik 3: Jean-Baptiste Lully, Le Bourgois gentilhomme. Ouverture. La petite Bande, Dir: Gustav Leonhardt. Deutsche harmonia mundi GD CD 1, Tr. 1. Dauer: 3'00 Gustav Leonhardt leitete das Ensemble La Petite Bande bei der Ouvertüre zu Jean-Baptiste Lullys Comédie-ballet Le Bourgois gentilhomme - Der Bürger als Edelmann. Das Werk wurde nicht nur deshalb besonders populär, weil auch Richard Strauss sich an Molières Vorlage versuchte, sondern

5 5 auch wegen seiner Entstehungsgeschichte. Ein eher untergeordneter türkischer Gesandter, der zu Besuch in Frankreich war und sich von Ludwig XIV. nicht standesgemäß behandelt fühlte und der sich deshalb nicht gerade besonders diplomatisch verhielt, sollte auf Befehl des Königs in eben dieser Comédie-ballet lächerlich gemacht werden. Das gelang so gut, dass Der Bürger als Edelmann bis heute das meistgespielte Stück von Molière ist allerdings meist ohne die Musik und deshalb auch ohne die Ouvertüre von Lully. Dieses Schicksal konnte Lullys Opern nicht widerfahren, mit deren Ouverturen Lully den französischen Ouvertüren-Typus ein für allemal festlegte: langsam schnell langsam oder auch, wie in diesem Fall, langsam schnell langsam schnell langsam, wobei die schnellen Teile in aller Regel eine Fuge oder doch zumindest ein Fugato sind. Musik 4: Jean-Baptiste Lully, Phaéton (Ouvertüre). Les Talons Lyriques, Dir. Christophe Rousset. Archiv-Nr CD 1, Tr. 1. Dauer: 3'22 Das waren Les Talents Lyriques unter Christophe Rousset mit der Ouvertüre zu Jean-Baptiste Lullys Oper Phaéton aus dem Jahre Bei der folgenden Ouvertüre handelt es sich zwar wie bei Lullys Phaéton um die Eröffnung einer Oper, aber deren Umstände sind in der Musikgeschichte einmalig und so ungewöhnlich, dass sie schon deshalb hier hingehören. Die Geschichte der Oper und ihrer immerhin vier verschiedenen Ouvertüren ist einigermaßen unübersichtlich, zumal zwei dieser Ouvertüren, nämlich Leonore II und Leonore III, verwirrenderweise auch noch dieselbe Opuszahl tragen: Opus 72a. Jedenfalls erklang 1805, bei der ersten Aufführung von Beethovens einziger, allerdings mehrfach

6 6 umgearbeiteter Oper Fidelio, die Ouvertüre Leonore II, Leonore I könnte kurz nach dieser Uraufführung, aber auch kurz zuvor entstanden sein ganz genau weiß man das nicht. Da die erste Fassung der Oper ein Misserfolg war, arbeitete Beethoven das Werk um und schrieb eine neue Ouvertüre dazu: Leonore III. Diese Fassung war zwar wesentlich erfolgreicher, dennoch zog Beethoven auch sie zurück und überarbeitete das Werk 1814 nochmals, wiederum mit einer neuen Ouvertüre, die als Fidelio- Ouvertüre bekannt wurde, die endlich vor den Augen ihres skrupulösen Komponisten Gnade fand und die bis heute vor Fidelio -Aufführungen gespielt wird. --- Musik 5: Ludwig van Beethoven, Fidelio-Ouvertüre op. 72b. Radio-Sinfonieorchester Stuttgart, Dir. Neville Marriner. Capriccio Tr. 1. Dauer: 6' Das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart unter Neville Marriner spielte die Ouvertüre zu Beethovens Oper Fidelio. Szenenwechsel: Die Ouvertüre, um die es jetzt geht, kennt wahrscheinlich jeder Liebhaber der so genannten klassischen Musik. Das hat zwei Gründe. Zunächst einen biographischen: Felix Mendelssohn Bartholdy war, als er die Ouvertüre zu Shakespeares Sommernachtstraum komponierte, unbegreifliche 17 Jahre alt. Wie kann man in diesem Alter ein Werk von solch abgeklärter Perfektion schreiben, das völlig zu Recht zu den Höhepunkten romantischer Musik überhaupt zählt? Welcher Ausnahmerang der Sommernachtstraum -Ouvertüre zukommt, wird deutlich aus der Reaktion der antisemitischen Mendelssohn-Gegner, also der Nazis. Die nämlich versuchten ziemlich hektisch, Mendelssohns Musik durch eine neue Komposition zu ersetzen nachdem man mangels Alternativen zwei Jahre lang stillschweigend und ganz sicher

7 7 zähneknirschend akzeptiert hatte, dass Mendelssohns Musik bei Aufführungen von Shakespeares Schauspiel weiter gespielt wurde. Doch das war natürlich keine Dauerlösung, es musste eine neue Musik her. Also lobte die nationalsozialistische Kulturgemeinde eine neue Schauspielmusik aus, aber entweder weigerten sich die wirklich namhaften Komponisten dieser Zeit wie etwa Hans Pfitzner: Denken Sie, man ist an mich herangetreten und wollte, dass ich den Sommernachtstraum neu komponieren solle, weil die jüdische Mendelssohnmusik nicht mehr tragbar sei. So etwas ist doch eine Gemeinheit! Oder aber die neu entstandenen Schauspielmusiken waren eher jämmerlich jedenfalls schrieb der Kritiker Hans Wyneken im Anschluss an die Heidelberger Reichsfestspiele: Trotz alledem bleibt der Wunsch nach einer ganz neuen, auf eigenen Füßen stehenden Sommernachtstraummusik offen. Wer schreibt sie? Ein schöneres Kompliment hätten die Nazis Mendelssohn gar nicht machen können. Die für die Nazis peinliche Situation änderte sich erst, als im Spätjahr 1939 Carl Orff, der durch seine Carmina burana hohes Ansehen genoss, eine eigene Sommernachtstraum-Musik komponierte. Doch nach dem Ende des Krieges nahm Mendelssohns kongeniale Vertonung ohnehin die Stellung wieder ein, die sie vor 1933 innegehabt hatte. Als 17jähriger hatte Mendelssohn übrigens nur die Ouvertüre komponiert, den Rest der Schauspielmusik schrieb er erst 17 Jahre und 40 Opusnummern später, 1843, und unter völlig anderen biographischen und künstlerischen Umständen. Zunächst eröffnete also auch diese Ouvertüre gar nichts, sie stand allein. Ein kompositorischer Bruch zwischen der Ouvertüre und den restlichen Sätzen, als es sie dann 1843 gab, ist dennoch nicht feststellbar. Auch das mag ein Indiz sein für die unglaubliche Frühreife Mendelssohns.

8 8 -- Musik 6: Felix Mendelssohn Bartholdy, Ouvertüre zu Shakespeares Sommernachtstraum op. 21. Barockorchester Stuttgart, Dir: Frieder Bernius. Carus Tr. 1. Dauer: 11'49 - Frieder Bernius dirigierte das Barockorchester Stuttgart mit der Ouvertüre zu Shakespeares Sommernachtstraum von Felix Mendelssohn Bartholdy. Erneuter Szenenwechsel: Schlachtenmusiken haben heute eine eher schlechte Presse und das, obwohl wir nun wirklich nicht in besonders friedlichen Zeiten leben. Auch Peter Tschaikowski mochte Schlachtenmusiken nicht wirklich jedenfalls dann nicht, wenn er sie selber komponiert hatte. Die Ouvertüre wird sehr laut und lärmend sei, schrieb Tschaikowski an seine Gönnerin, Muse und Freundin Nadeshda von Mekk. Ich schrieb sie ohne warmes Gefühl und deshalb wird sie vermutlich keinen künstlerischen Wert haben. Schon einige Tage zuvor hatte Tschaikowski dieselbe Adressatin wissen lassen: Trotz eines gewissen Widerwillens gegen die Ausstellungsmusik habe ich ziemlich eifrig damit angefangen, damit ich bald die große Last, die mich sehr bedrückt, los bin. Neben Beethovens Schlachtengemälde Wellingtons Sieg ist Tschaikowskis Das Jahr 1812 der wohl prominenteste Vertreter des Genres Schlachtenmusik. Entstanden ist das Werk übrigens aus gar keinem besonders kriegerischen Anlass, sondern zur Eröffnung einer großen Industrie- und Kunstausstellung, die für das Jahr 1881 anberaumt war. Daraus wurde dann aber doch nichts, weil die Ausstellung verschoben werden musste. Die Uraufführung der 1812-Ouvertüre fand 1882 im Rahmen eines ganz normalen Konzerts statt. Im Jahre 1812 begann Napoleon seinen Feldzug gegen Russland, dabei seine eigenen Kräfte ähnlich grotesk

9 9 überschätzend und die zermürbende Kraft des russischen Winters ebenso fahrlässig unterschätzend wie 130 Jahre später Hitler. Den militärischen Todesstoß bildete bei Hitler die desaströse Schlacht bei Stalingrad, bei Napoleon der völlig verunglückte Übergang über die Beresina. Es existiert zwar kein ausdrückliches Programm zur 1812-Ouvertüre, doch der Titel und die dominierenden Themen lassen keinen Zweifel daran, dass hier außermusikalische Vorgänge geschildert werden. Diese dominierenden Themen sind: 1. die Marseillaise, 2. die Zarenhymne und 3. eine liturgische Melodie. Und um allerletzte Zweifel zu beseitigen, schrieb Tschaikowski 1882 an seinen Verleger: Was den Bombardone betrifft, so erkundige dich bitte im Theater, wie das Instrument heißt, das man als Kanone benutzt...wenn es keine Bezeichnung dafür gibt und wenn ich mich wirklich irre, dass dieses Ding Bombardone heißt, dann setze auf die Partitur statt Bombardone Kanone. Doch, das Ding heißt wirklich Bombardon und ist ein Blechblasinstrument in Bass- Lage. In der Aufnahme, die Sie gleich hören werden, hat der Dirigent Erich Kunzel allerdings kein Bombardon verwendet, sondern wirkliche Kanonenschüsse. -- Musik 7: Peter Tschaikowski, Ouvertüre op. 49. Cincinnati Symphony Orchestra, Dir. Erich Kunzel Telarc CD Tr. 1, auf Ende einblenden - Erich Kunzel dirigierte das Cincinnati Symphony Orchestra mit dem Schluss von Peter Tschaikowskis Festouvertüre, wie sie offiziell heißt, Das Jahr Nun haben wir in dieser Musikstunde ganz unterschiedliche Musiken gehört: Ein Klavierstück, eine barocke Opern- Einleitung, die Eröffnung einer Schauspiel-Musik und einer Oper und ein romantisches programm-musikalisches Orchesterstück. Nur eines hatten all diese Musiken

10 10 gemeinsam: Den Titel Ouvertüre, und zwar unabhängig davon, ob mit ihnen etwas eröffnet wurde oder nicht. Die heutige Musikstunde mit Stephan Hoffmann war der erste Teil einer Woche, in der es um die verschiedenen Bedeutungen des Begriffs Ouvertüre gehen soll. Das Thema morgen sind die zum Teil recht abenteuerlichen Verschränkungen zwischen Ouvertüre und einer scheinbar völlig anders gearteten Gattung wie der Sinfonie.