Einführung in die praktische Philosophie
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- Leander Schreiber
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1 Einführung in die praktische Philosophie Vorlesung 4. Die goldene Mitte: Tugenden Aristoteles' Nikomachische Ethik II Claus Beisbart TU Dortmund Sommersemester 2009
2 Unsere Frage Wie sieht das Glück/das gute Leben aus? Wir wollen eine genauere Bestimmung des guten Lebens Glück hier im Sinne der Eudaimonia, des gelungenen Lebens, des erfüllten/guten/glücklichen Lebens Warum die Frage? Aristoteles: Glück in diesem Sinne ist letztlich der Zielpunkt all unseres Handelns.
3 Leitfaden für die Vorlesung I. Nachdenken über das gute Leben (ein paar systematische Überlegungen) II. Aristoteles' Bestimmung des guten Lebens i. negativ ii. positiv 1. Das Ergon-Argument 2. Konkretisierungen: A. Tugenden: a. Charaktertugenden b. Verstandestugenden B. Überlegungen in Buch X der NE Zusammenfassung Literatur
4 I. Nachdenken über das gute Leben In seiner [des obersten Ziels] Benennung stimmen fast alle überein. Das Glück so sagen die Leute, und so sagen die feineren Geister [ ]. Aber was das Wesen des Glückes sei, darüber ist man unsicher, und die Antwort der Menge lautet anders als die des Denkers. Die Menge stellt sich etwas Handgreifliches und Augenfälliges darunter vor, z.b. Lust, Wohlstand, Ehre: jeder etwas anderes. Bisweilen wechselt sogar ein und derselbe Mensch seine Meinung. NE 1095a
5 Ihre Antworten zum Glück Meiner Meinung nach ist die Frage, wann unser Leben gelingt oder nach dem Sinn des Lebens, sehr schwer zu beantworten. Auf jeden Fall ist das aber eine individuelle Antwort, die für jedermann anders ausfällt. Für einige mag ein gelungenes Leben aus Party und Trinkgelagen bestehen, wohingegen andere dieses als nicht erfülltes oder ungelungenes Leben deuten würden. Ich glaube dass nur der Einzelne darüber urteilen kann, ob sein Leben gelingt, bzw. gelungen ist. Tenor oft: Das ist alles subjektiv.
6 In welchem Sinn subjektiv? In welchem Sinne ist die Frage nach dem guten Leben nur subjektiv zu beantworten? Ich diskutiere drei Thesen, denen zufolge die Frage, was das gute Leben ist, in einem bestimmten Sinn nur subjektiv zu beantworten ist.
7 In welchem Sinne subjektiv? 1. Wenn wir beschreiben wollen, wie ein gelungenes Leben für eine bestimmte Person aussieht, dann müssen wir ihre individuellen Anlagen, Talente, Neigungen, insbesondere auch ihre subjektiven Zustände wie ihre Gefühle berücksichtigen. Ja! Das begrenzt die Möglichkeiten einer allgemeinen Theorie des guten Lebens. Aber: Es kann sein, dass sich allgemein gültige Aussagen über die Struktur eines guten Lebens fällen lassen.
8 Was heißt hier subjektiv? 2. Die Frage, ob eine bestimmte Person ein gutes Leben führt, ist gar nicht objektiv entscheidbar. D.h. es ist typischerweise der Fall, dass ein Betrachter das Leben einer Person P für gut und gelungen hält, während ein anderer Betrachter das Leben für nicht gut hält. Nein! Es ist natürlich oft schwer, herauszufinden, ob eine Person ein gutes Leben führt, insbesondere müssen wir sie dazu selbst zu Wort kommen lassen. Aber es ist eine objektive Tatsache, ob eine Person ein gutes Leben führt.
9 Was heißt hier subjektiv? 3. Ob eine Person ein gutes Leben führt, hängt nur von deren subjektiven Zuständen von deren Gefühlen, Stimmungen, Wünschen, Meinungen, Sehnsüchten etc. ab. Nein! Wenn sich eine Person über grundlegende Züge ihres eigenen Lebens täuscht, dann führt sie kein gutes Leben. Beispiel: Nozicks Gedanken-Experiment: Sie können sich für den Rest Ihres Lebens in eine Glücksmaschine (die es natürlich in Wirklichkeit nicht gibt) begeben, die ihnen positive Gefühle gibt, ihnen positive Nachrichten vorgaukelt etc. Die meisten von uns würden nicht in diese Maschine wollen. Das scheint darauf hinzudeuten, das das Glück auch eine objektive (von der eigenen Perspektive unabhängige) Komponente besitzt.
10 Die Ziel/Wunsch-Theorie Eine Person hat ein gutes Leben, wenn ihre wesentlichen Ziele und Wünsche so erfüllt werden, wie sie sich das denkt. Objektive Komponente: Die Ziele müssen nicht nur scheinbar, sondern wirklich realisiert werden. Terminologie: Eine Person ist erfolgreich, wenn sie das erreicht, was sie sich vornimmt. Die Ziel/Wunsch-Theorie hält also das gute Leben für das erfolgreiche Leben.
11 Probleme 1. Die Ziel/Wunsch-Theorie des guten Lebens beantwortet die Frage nach dem guten Leben im Kontext von Aristoteles gar nicht. Denn unsere Frage lautete ja: Wie lässt sich das oberste Gut, das letzte Ziel, wonach wir letztlich streben, inhaltlich genauer bestimmen? Die Antwort Erfüllung der eigenen Ziele lässt aber offen, welche Ziele denn eigentlich erstrebt werden sollten.
12 Lösungsvorschlag Jeder Mensch hat schon immer bestimmte Neigungen, Sehnsüchte, Wünsche, Leidenschaften, und das gelungene Leben besteht darin, dass diese Neigungen/Wünsche erfüllt werden. Beispiel: Jochen hat Spass beim Fußballspielen, viele andere Dinge interessieren ihn nur wenig. Nach der Ziel/Wunsch-Theorie führt Jochen ein gutes Leben, wenn er seiner Leidenschaft, dem Fußballspielen, nachgeht.
13 Problem Gilt das wirklich für alle Wünsche? Was ist, wenn Jochen vor allem den Wunsch hat, sich zu kratzen (vgl. Sokrates im Gorgias ), sich zu verletzen ( cutter ), andere zu verletzen... Ist das noch ein gutes Leben?
14 Lösungsvorschlag Wir sagen: Eine Person hat ein gutes Leben, wenn die wesentlichen Ziele und Wünsche, die sie sinnvollerweise haben kann, so erfüllt werden, wie sie sich das denkt. Begrenze das sinnvollerweise geeignet: a. Indem man eine Prozedur angibt, wie eine Person herausfindet, was sie sinnvollerweise wünschen kann (Beispiel: Die Person über alle Folgen dessen aufgeklärt, was die Erfüllung ihrer Wünsche bedeutet; Brandt, Rawls) b. Indem man inhaltlich einschränkt, was eine Person sinnvollerweise wünschen kann (Gesundheit).
15 Bemerkung Mit der letzten Variante nähern wir uns einer noch objektiveren Konzeption des Glücks an. Objektive Liste -Konzeption des Glücks: Eine Person hat ein gutes Leben, wenn sie an folgenden Gütern Besitz hat: [Liste: Gesundheit, gute soziale Beziehungen, Zusammenleben mit der Partnerin, die man liebt, etc.]
16 II. Aristoteles Bestimmung des guten Lebens Vielleicht ist aber die Gleichsetzung von Glück und oberstem Gut nur ein Gemeinplatz und es wird eine noch deutlichere Antwort auf die Frage nach seinem Wesen gewünscht. NE 1097b
17 i. Negativ: Warum nicht die Ehre, z. B.? Edle und aktive Naturen entscheiden sich für die Ehre. Denn das ist im ganzen gesehen das Ziel eines Lebens im Staat. Doch ist dieses Ziel wohl etwas äußerlich und kann nicht als das gelten, was wir suchen. Hier liegt nämlich der Schwerpunkt mehr in dem, der die Ehre spendet, als in dem, der sie empfängt. Den obersten Wert aber erahnen wir als etwas, was uns zuinnerst zugeordnet und nicht leicht ablösbar ist. Außerdem ist anzunehmen, daß man nach der Ehre strebt, um sich des eigenen Wertes zu vergewissern. Deshalb sucht man von Urteilsfähigen geehrt zu werden, von Menschen, die uns kennen, und zwar auf Grund der Tüchtigkeit. Jedenfalls ergibt sich aus diesem Verhalten ganz klar, daß die Tüchtigkeit der höhere Wert ist NE 1095b
18 Analyse Man kann diese Passage als eine Kritik an einer Auffassung deuten, derzufolge das Glück in der Ehre liegt. Argumentation: Wenn wir wirklich über die Ehre nachdenken, dann sehen wir, daß wir sie nicht (sinnvollerweise) als Selbstzweck erstreben.
19 ii. Positiv: 1. Das Ergon- Argument Dem [dem Ansinnen, das Wesen des Glücks deutlicher bestimmt zu haben] kann entsprochen werden, indem man zu erfassen sucht, welches die dem Menschen eigentümliche Leistung [gr. ergon] ist. Wie nämlich für den Flötenkünstler und den Bildhauer und für jeden Handwerker oder Künstler, kurz über all da, wo Leistung und Tätigkeit gegeben ist, eben in der Leistung, wie man annehmen darf, der Wert und das Wohlgelungene beschlossen liegt, so ist das auch beim Menschen anzunehmen, wenn es überhaupt eine ihm eigentümliche Leistung gibt. NE 1097b
20 Das Ergon-Argument Also: 1. Leben heißt tätiges Mensch-Sein. 2. Allgemein: Ein tätiges X-sein ist dann gelungen, wenn die spezifische Aufgabe, die man als X hat, erfüllt wird, wenn das spezifische Ergon realisiert wird, und zwar in besonders guter Weise. 3. Folgerung: Unser Leben ist dann gelungen, wenn wir die spezifische Aufgabe, die wir als Mensch haben, erfüllen, und zwar in besonders guter Weise.
21 Das Ergon-Argument Alternativ: - Wann liegt gelungenes Flötenspieler-Sein vor? Wenn jemand die Aufgabe, die ein Flötenspieler hat, gut erfüllt. - Wann liegt gelungenes Fußballspieler-Sein vor? Wenn jemand die Aufgabe, die ein Fußballspieler hat, gut erfüllt - Wann liegt gelungenes Mensch-Sein vor? Wenn jemand die Aufgabe, die ein Mensch hat, gut erfüllt. Also: Auf das Ergon kommt es an.
22 Was ist das Ergon des Menschen? Idee: Die Aufgabe des Menschen muss in etwas liegen, was nur der Mensch kann. Das heißt, die Aufgabe des Menschen ist ihm im folgenden Sinne eigentümlich: Niemand kann diese Aufgabe sonst erfüllen. Welche [Leistung] nun könnte das [das Ergon des Menschen] sein? Die bloße Funktion des Lebens ist es nicht, denn die ist auch den Pflanzen eigen. Gesucht wird aber, was dem Menschen eigentümlich ist. [...] Als nächstes käme dann das Leben als Sinnesempfindung. Doch teilen wir auch diese gemeinsam mit Pferd, Rind und jeglichem Lebewesen. So bleibt schließlich nur das Leben als Wirken des rationalen Seelenteils. NE 1097b
23 Analyse Das ist ein Ausschluss-Argument. Plausible Kandidaten für das Ergon des Menschen werden ausgeschlossen.
24 Das Ergebnis 1 Also: Das Ergon des Menschen ist Leben als Wirken des rationalen Seelenteils (NE 1097b). Der rationale Seelenteil kann aus zwei Teilen bestehend angesehen werden: 1. Rationales im engeren Sinne: Vollführt geistige Tätigkeiten 2. Strebevermögen (kann dem Rationalen im engeren Sinne gehorchen) Hier muss das Rationale im engeren Sinne ist aktiv Priorität haben, daher Ergon: Leben als eigenständiges Tätig-sein Ibid.
25 Das Ergebnis 2 Erfüllen des Ergon Daher das Glück des Menschen: das oberste dem Menschen erreichbare Gut stellt sich dar als ein Tätigsein der Seele im Sinne der ihr wesenhaften Tüchtigkeit. NE 1098b Das gute Erfüllen des Ergon
26 Qualifikation 1 Zusatz: Beizufügen ist noch: in einem vollen Menschenleben. Denn eine Schwalbe macht noch keinen Frühling und auch nicht einen Tag. Also: Aspekt der Kontinuität. NE 1098a
27 Qualifikation 2 Indes gehören zum Glück doch auch die äußeren Güter [ ] Denn es ist unmöglich, zum mindesten nicht leicht, durch edle Taten zu glänzen, wenn man über keine Hilfsmittel verfügt. Läßt sich doch vieles nur mit Hilfe von Freunden, von Geld und politischem Einfluß, also gleichsam durch Werkzeuge, erreichen. NE 1099a Also: Art Realismus: Ob ein Leben gelingt, hängt auch von äußeren Umständen ab.
28 Zusammenfassung Was hindert also zu sagen: Glücklich ist, wer im Sinne vollendeter Trefflichkeit tätig und dazu hinreichend mit äußeren Gütern ausgestattet ist und zwar nicht in einer zufälligen Zeitspanne, sondern so lange, daß das Leben seinen Vollsinn erreicht? NE 1101a
29 Zusätzliche Argumentation Die Bestimmung des guten Lebens stimmt auch gut mit einschlägigen Meinungen zum guten Leben überein, wenigstens wenn man erstere und letztere geeignet deutet. Beispiel: Einige fordern die Lust als Element des gelungenen Lebens. Aristoteles versucht zu zeigen, dass das gelungene Leben im Sinne des A. in hohem Maße lustvoll ist.
30 Aristoteles Bestimmung des Glücks I. Wie ergibt sie sich? 1. Der Inhalt des gelungenen Lebens ergibt sich über die Zugehörigkeit zur Gattung Mensch. Problem: Lässt Aris Glücksbestimmung genug Raum für indviduelle Bedürfnisse/Lebensentwürfe?
31 Aristoteles Bestimmung des Glücks 2. Der Inhalt des gelungenen Lebens ergibt sich über die Funktion, die der Mensch hat. Vergleich zu Sokrates /Platons Verteidigung der Gerechtigkeit: Funktion/Aufgabe der Seele Problem: Können wir dem Menschen einfach eine Funktion zuordnen? Ist der Mensch das Wesen, das sich immer wieder selber Zwecke setzt?
32 Aristoteles Bestimmung des Glücks 3. Der Inhalt des gelungenen Lebens ergibt sich über das, was nur der Mensch kann. Problem: Hat das, was nur wir können, wirklich eine solche Relevanz für das gelungene Leben?
33 Aristoteles Bestimmung des Glücks II. Wodurch ist sie inhaltlich gekennzeichnet? 1. Inhaltlich: a. Betonung der Tätigkeit, der Aktivität (Wirken des rationalen Seelenteils äußert sich im Handeln) b. Perfektionismus: Es kommt darauf an, die Tätigkeiten, die wir tun können, gut zu tun.
34 Aristoteles Bestimmung des Glücks 2. Der Inhalt des gelungenen Lebens ist immer noch sehr abstrakt und vage. Aristoteles Antworten: A. Ausführungen zu den Tüchtigkeiten, von denen die Rede war. B. Ausführungen in Buch X der NE
35 2. Konkretisierungen: A. Tüchtigkeiten Nachdem das Glück ein Tätigsein der Seele ist im Sinne der ihr wesenhaften Tüchtigkeit, haben wir nunmehr die Tüchtigkeit zu betrachten. 1102a
36 Terminologie Statt Tüchtigkeit heißt es in deutschen Übersetzungen oft auch Tugend. Aristoteles Ethik wird daher oft dem Typus einer Tugendethik zugeordnet. Tugend klingt für uns heute oft etwas altbacken. Man denkt an Pünktlichkeit etc. Das ist aber nicht gemeint. Das griechische Wort heißt arete, es ist etymologisch verwandt mit aristos (der Beste, Aristokratie ) und meint Exzellenz in einem bestimmten Bereich.
37 Terminologie Das deutsche Wort Tugend ist verwandt mit taugen. Die Vorstellung, die Aristoteles mit Tugenden (aretai) verbindet, ist also folgende: Jemand taugt in bestimmter Hinsicht etwas, ist in bestimmter Hinsicht sogar exzellent. Diese Hinsicht hat etwas mit dem Ergon des Menschen zu tun. Erinnerung: Auch bei Sokrates/Platon spielten die Tugenden eine wichtige Rolle.
38 Einteilung der Tugenden Grundlegend für die Einteilung der Tugenden ist die Seelenlehre (I.13): Rationales im engeren Sinne Irrationales { im weit. Sinne Strebe-/Begehrungsvermögen Vegetatives Vermögen } Rationales im weit. Sinne
39 Phänomenologisch Welche Erfahrung steht hinter der Aufteilung der Seele? Manchmal liegen unsere Triebe/Neigungen im Konflikt mit der Vernunft. Beispiel: Wir wollen noch ein Stück Sahnetorte essen, weil es lustvoll erscheint, aber die Vernunft rät davon ab, da Sahnetorte dick macht. Dieser Konflikt wird konzeptualisiert, indem verschiedene Teile der Seele unterschieden werden, die dann in Konflikt miteinander treten können.
40 Tugenden Die beiden Seelenteile, die das Rationale im weiteren Sinne ausmachen, haben jeweils ihre eigenen Tugenden: 1. Verstandestugenden (dianoetische Tugenden). Beispiel: Sophia (Weisheit) 2. Charaktertugenden (ethische Tugenden, von ethos mit langem eta: Charakter. Das ethisch hat hier nicht die Konnotation des Moralischen). Beispiele: Besonnenheit (sophrosyne), Großzügigkeit
41 Der Erwerb der Tugenden 1. Verstandestugenden: Gewinnen wir durch Lernen 2. Charaktertugenden: Gewinnen wir durch Übung. Aristoteles plausibilisiert das durch die Etymologie: ethisch leitet sich letztlich von gr. ethos mit kurzem epsilon am Anfang an, das Sitte, Brauch, Gewohnheit bedeutet. Also: Charaktertugenden gewinnen wir durch Gewöhnung. Mit einem Wort: aus gleichen Einzelhandlungen erwächst schließlich die gefestigte Haltung. NE 1103b
42 a. Charaktertugenden Was sind Charaktertugenden? So ist also die sittliche Werthaftigkeit [Charaktertugend] eine feste, auf Entscheidung hingeordnete Haltung; sie liegt in jener Mitte, die die Mitte in bezug auf uns ist, jener Mitte, die durch den richtigen Plan festgelegt ist, d. h. durch jenen, mit dessen Hilfe der Einsichtige (die Mitte) festlegen würde. Sie ist die Mitte zwischen den beiden falschen Weisen, die durch Übermaß und Unzulänglichkeit charakterisiert sind NE 1107a
43 Analyse Allgemein (Aristotelische Definitionslehre): Einen Begriff kann man durch Angabe des genus proximum (der nächsthöheren Oberklasse) und der differentia specifica (dem charakteristischen Unterschied) beschreiben. genus proximum Beispiel: Eine Waschmaschine ist ein Haushaltsgerät, mit dem man Kleidungsstücke waschen kann. differentia specifica
44 Bild Haushaltsgeräte Genus proximum Waschmaschine Rührer Herd Differentia specifica
45 Analyse genus proximum: eine Charaktertugend bildet eine feste Haltung (gr. hexis) Aristoteles Argument: Ausschlussbeweis. Charaktertugenden haben es mit dem Charakter zu tun, daher kommen als Kandidaten für das genus proximum infrage: a. Irrationale Regungen (Emotionen) wie Zorn, Furcht b. Anlagen die Fähigkeit, bestimmte Emotionen zu haben c. Feste Grundhaltungen (hexeis, Plural von hexis) 1105b 1106a
46 a. und b. scheiden aus, da Analyse i. Tugenden positive Charaktereigenschaften sind, die ein Gegenstand des Lobs sein können (ich lobe eine Person für ihre Großzügigkeit) ii. Emotionen oder Anlagen nicht Gegenstand eines Lobs sein können (weil wir dafür nichts können) Daher: Tugenden sind Haltungen 1105b 1106a
47 Analyse Welche Haltung sind die Charaktertugenden? Specifica differentia? Antwort: Die Charaktertugenden helfen dem mittleren Seelenteil (Strebevermögen), seine Aufgaben zu erfüllen. Dabei kommt es auf eine Mitte an.
48 Genauer zur Mitte Wo entfalten sich Charaktertugenden? 1. Im Bereich der Emotionen 2. Im Bereich der Handlungen NE 1106b
49 i. Mitte im Bereich der Emotionen Wer eine Charaktertugend hat, der empfindet in bestimmten Situation eine bestimmte Emotion in angemessener Weise zwischen Zuviel und Zuwenig. Beispiel: Die tapfere Person empfindet weder zu viel Furcht noch zu wenig.
50 i. Mitte im Bereich der Emotionen Bei der Angst z. B. und beim Mut, beim Begehren, beim Zorn, beim Mitleid und überhaupt bei den Erlebnissen von Lust und Unlust gibt es ein Zuviel und Zuwenig und keines von beiden ist richtig. Dagegen diese Regungen zur rechten Zeit zu empfinden und den rechten Situationen und Menschen gegenüber sowie aus dem richtigen Beweggrund und in der richtigen Weise das ist jenes Mittlere, das ist das Beste, das ist die Leistung der sittlichen Tüchtigkeit [Charaktertugend]. 1106b
51 ii. Mitte im Bereich der Handlungen Wer eine Charaktertugend hat, der handelt tugendhaft, d.h. trifft im Handeln die richtige Mitte zwischen einem Zuviel und Zuwenig. Beispiel: Wer großzügig ist, der gibt nicht zu viel und nicht zu wenig. NE 1107b
52 Mitte Mit Mitte ist hier nicht ein arithmetisches Mittel gemeint, sondern das Richtige und Angemessene. Was richtig ist, hängt von der Situation und von der handelnden Person ab (situatives und individuelles Element). 1106a-b Was richtig ist, lässt sich also nicht mit Mathematik bestimmen, sondern ist eine Sache der Fähigkeit, die konkrete Situation und die eigene Person richtig einzuschätzen.
53 Folge Folge: Jede Charaktertugend liegt in der Mitte zwischen zwei Untugenden. Stumpfsinn Besonnenheit Zügellosigkeit zu wenig richtige Mitte zu viel Die Charaktertugenden bestehen also nicht nur darin, dass man gemäß der richtigen Mitte empfindet und handelt. Sie sind auch eine Haltung, die in der Mitte von andere Haltungen liegt.
54 Mitte Argument dafür, dass es die Charaktertugenden mit einer Mitte zu tun haben: Die Charaktertugenden entstehen, indem man ein Zuviel und ein Zuwenig vermeidet (Plausibilisierung: zu viel und zu wenig Sport schadet dem Körper) Die Charaktertugenden verwirklichen sich dort, wo sie entstehen (wir müssen sie in dem Bereich einüben, wo wir sie später einsetzen) und müssen daher auch die Mitte zwischen einem Zuviel und Zuwenig finden. 1104a-b und 1106a
55 Handeln und Emotion Oben hatten wir gesagt, dass sich Charaktertugenden auf dem Bereich der Emotionen und des Handelns bewegen. Dabei lassen sich Emotion und Handeln aber nicht wirklich trennen. Zwei Wechselwirkungen zwischen Emotionen und Handlungen. 1. Emotionen können Handlungsmotive liefern. Beispiel: Wenn ich große Furcht empfinde, laufe ich aus Furcht davon. 2. Ich kann meine Emotionen durch Handlungen mitformen. Beispiel: Gabi hat Furcht vor Spinnen, d.h. immer wenn sie Spinnen sieht, fürchtet sie sich. Sie handelt jedoch nicht immer im Einklang mit der Furcht, tut also nicht immer, was die Furcht ihre nahelegt. Damit überwindet sie ihre Furcht, d.h. eines Tages empfindet sie keine Furcht mehr (oder deutlich weniger Furcht) vor Spinnen.
56 Tugendhaftes Handeln Weil Handlungen oft durch Emotionen als Motive mitbestimmt werden, bewerten wir einzelne Handlungen oft, indem wir die Emotionen, die die Handlung begleiten, mitbewerten. Beispiel: Hilfeleistung ist nicht gleich Hilfeleistung Gabi hilft Peter, aber nur sehr widerwillig sie muss die Zähne zusammenbeißen, sie zwingt sich dazu, Peter zu helfen. Irene hilft Peter und sie tut das gerne, sie empfindet Freude dabei. Unsere Reaktion: Wir würden Gabis Handeln höher bewerten als Irenes Handeln. Aristoteles würde sagen, nur Irene handelt wirklich gemäß der Tugend.
57 Tugendhaftes Handeln Tugendhaftes Handeln im Vollsinn genügt folgenden Bedingungen: - wissentliches Handeln. - aufgrund einer freien Entscheidung, diese ist sachlich begründet ergibt sich aus der Sache: Das kalon (Edle) wird um seiner selbst willen gewählt. - Bestimmtes und sicheres Handeln. - Der Tugendhafte empfindet Freude dabei (Emotion) Vgl. 1105b
58 Tugendhaftes Handeln Orientierung dabei am Beispiel einer tugendhaften Person. Man bezeichnet also Handlungen als gerecht und besonnen, wenn sie so sind, wie sie der gerecht und besonnene Mensch vollbringen würde. Indes, gerecht und besonnen ist nicht ohne weiteres jeder, der solche Handlungen vollbringt: er muß sie auch im selben Geist vollbringen wie die gerechten und besonnenen Menschen. 1105b
59 Tugendhaftes Handeln Aristoteles' Überlegungen legen eine bestimmte Form praktischen Überlegens nahe. Wenn wir uns überlegen, was wir tun sollten, dann sollten wir überlegen, was die tugendhafte Person tun würde.
60 Zwei Einwände 1. Aristoteles verwickelt sich bei der Behandlung der Charaktertugenden in einen Widerspruch. Anfangs argumentiert er, dass eine Charaktertugend keine Emotion sein kann, weil wir nichts für Emotionen können. Die Charaktertugenden hingegen seien ein Gegenstand des Lobs, woraus folgt, dass wir etwas für sie können müssen. Später wird die Charaktertugend aber wesentlich dadurch gekennzeichnet, dass die tugendhafte Person bestimmte Emotionen hat. Das passt nicht zusammen! Entweder wir können etwas für unsere Emotionen dann kann die Charaktertugend im Haben bestimmter Emotionen bestehen oder wir können nichts für unsere Emotionen, dann können die Charaktertugenden nicht im Haben bestimmter Emotionen bestehen.
61 Zwei Einwände Vorschlag für eine Antwort zu 1: Wir können in einem begrenzten Sinn etwas für unsere Emotionen, weil wir sie durch Gewöhnung mitformen. Nehmen wir etwa an, Gabi empfindet gerade das richtige Ausmaß von Furcht vor einer Spinne. In gewisser Hinsicht können wir Gabi dafür nicht loben die Emotion hat sich unwillkürlich eingestellt, sie unterliegt nicht Gabis Kontrolle (man kann sich nicht willentlich dazu bestimmen, jetzt ein bestimmtes Ausmaß von Furcht zu empfinden). In einer anderen Hinsicht können wir Gabi dafür loben, denn Gabi hat durch vorheriges Handeln ihre emotionale Ausstattung so mitgeformt, dass sie jetzt das richtige Ausmaß von Furcht empfindet.
62 Zwei Einwände 2. Aristoteles kann nicht wirklich erklären, wie man eine Charaktertugend erwirbt, denn: Aristoteles zufolge erwirbt man eine Charaktertugend (etwa Besonnenheit), indem man häufig viele tugendhafte (besonnene) Handlungen ausführt. Die wirkliche tugendhafte Handlung zeichnet sich aber dadurch aus, dass man ganz wie die tugendhafte Person handelt, z. B. dass man Freude an diesem Handeln empfindet. Aber wenn ich beginne, tugendhaft zu werden, bin ich ja noch nicht tugendhaft, werde also z. B. noch keine Freude an meinem Handeln empfinden. Wie kann ich dann jemals tugendhaft werden? NE 1105a
63 Zwei Einwände 2. Vorschlag einer Antwort: Unterscheide äußerlich tugendhaftes (besonnenes) Handeln und tugendhaftes (besonnenes) Handeln im Vollsinn. Letzteres ist durch Freude etc. gekennzeichnet. Wenn ich tugendhaft werden will, dann beginne ich mit äußerlich tugendhaftem Handeln. Dann stellt sich langsam das tugendhafte Handeln im Vollsinn ein.
64 Charaktertugenden Beispiele Worum es geht Zuwenig Tugend Zuviel manche Arten von Lust Stumpfsinnigkeit Besonnenheit Zügellosigkeit Geld (kleine Beträge)* Knauserei Großzügigkeit Verschwendungssucht Ehre (kleinere Ehren)* Engsinnigkeit Hochsinnigkeit dummer Stolz Zorn Phlegma Ruhiges Wesen Jähzorn NE, 1107b 1108a, Begriffe nach Dirlmeier-Übersetzung * Für Umgang mit großen Beträgen von Geld und Ehre kennt Aristoteles noch gesonderte Tugenden
65 b. Verstandestugenden Grundlage für die Diskussion: Weitere Unterteilung des rationalen Seelenteils im engeren Sinn: 1. Erkenntnis des Unveränderlichen Tugend: Sophia (hier im Sinne philosophischer Weisheit) 2. Erkenntnis des Veränderlichen (auch mit Abwägen) Tugend: phronesis: Praktische Klugheit/Weisheit So ist denn die Leistung beider Teile des Denkvermögens die Erkenntnis des Richtigen. Und jene feste Grundhaltung also, die am ehesten die Erkenntnis des Richtigen gewährleistet, die ist die Trefflichkeit eines jeden der beiden Teile NE 1139
66 Sophia Somit ist offenbar Weisheit die vollendetste Form von Erkenntnis. Es ergibt sich also notwendig, daß der Weise nicht nur das weiß, was aus den obersten Ausgangssätzen abgeleitet wird; er hat auch von diesen obersten Sätzen ein sicheres Wissen. So dürfen wir denn in der philosophischen Weisheit eine Verbindung von intuitivem Verstand und diskursiver Erkenntnis erblicken. Sie ist die Wissenschaft von den erhabensten Seinsformen, Wissenschaft sozusagen in Vollendung. NE 1141a
67 Phronesis (praktische Klug-/ Weisheit) als Merkmal des Menschen mit sittlicher Einsicht gilt, daß er fähig ist, Wert oder Nutzen für seine Person richtig abzuwägen, und zwar nicht im speziellen Sinn, z.b. Mittel und Wege zu Gesundheit oder Kraft, sondern in dem umfassenden Sinn: Mittel und Wege zum guten und glücklichen Leben. NE 1140a Mit der Phronesis schließt Aristoteles eine Lücke in der Theorie der Charaktertugenden: Denn wenn die Mitte das Richtige ist, wie erkennen wir, was richtig ist? Antwort: Phronesis.
68 Überblick über die Tugenden Seele Tugenden Rationales Seelenteil: dianoetische Tugenden a. Erkennen des Unverän. Sophia b. Erkennen des Veränder. Phronesis Strebevermögen ethische Tugenden: Besonnenheit Tapferkeit Großzügigkeit Gerechtigkeit (Buch V)
69 Bemerkungen 1 1. Durch die Behandlung der Tugenden wird deutlicher, wie das gute Leben nach Aristoteles aussieht. 2. Nur die Charaktertugenden sind im oben beschriebenen Sinne durch die Mitte zu charakterisieren.
70 Bemerkungen 2 3. Den größten Teil der NE nimmt die Behandlung der (Charakter)tugenden ein. Daher: Bei Aristoteles verschiebt sich die Frage nach dem guten Leben (Wann gelingt unser Leben?) schnell zur Frage nach der guten Person (Wann ist eine Person gut?) Heute: erneutes Interesse an einer Tugendethik (Anscombe, Foot, Hursthouse, Slote). Die moderne Tugendethik geht systematisch von der tugendhaften Person aus.
71 B. Buch X Zum Schluss der NE nimmt Aristoteles die Frage nach dem Glück wieder auf. Glück als Tätigsein im Sinne der höchsten Tugenden. Was heißt das konkreter? 1. Leben als geistige Schau (Theoria) 2. Leben im Sinne einer Praxis im Einklang mit den Charaktertugenden: Einsatz für die Polis.
72 Theoria Wir dürfen also das Glück als ein geistiges Schauen betrachten. NE 1178 b Lebensideal der Philosophie, Theoria: interesselos Warum ist die Theoria das höchste Glück?
73 Beweisstruktur Aristoteles nennt erneut verschiedene Eigenschaften des obersten Guts und zeigt, dass die Theoria diese Eigenschaften aufs vollkommenste verwirklicht.
74 Beispiel 1 Aristoteles hatte das Glück des Menschen an das gebunden, was nur der Mensch kann, und das interesselose Schauen wird dieser Bestimmung sehr gut gerecht. Aristoteles: Es ist die oberste Form menschlichen Wirkens NE 1177a
75 Beispiel 2 Es ist ein Gemeinplatz, dass sich das glückliche Leben für den, der es hat, positiv anfühlt, dass es Freude und Lust bringt. Die geistige Schau bringt aber höchste Freude mit sich Jedenfalls gilt von der Philosophie, daß sie eine durch ihre Reinheit und Dauer großartige Lust gewährt. (1177a)
76 Beispiel 3 Das Glück ist in folgendem Sinne autark: Das Glück genügt sich selbst (1097b) und ist unabhängig von anderen Gütern: Mit dem Glück allein können wir zufrieden sein, das Glück allein würde uns genügen, wir brauchen nichts über das Glück hinaus. Die geistige Schau genügt sich selbst, sie bedarf kaum weiterer Güter. (1177a)
77 Beispiel 4 Das Glück wird um seiner selbst willen gewählt. Die Theoria dient keinem anderen Zweck, sie ist interesselos. (1177b)
78 Aber 1. Diese Art von Glück ist für uns dauerhaft nicht erreichbar (körperliche Bedürfnisse). Ein solches Leben aber wäre übermenschlich, denn man kann es in dieser Form nicht leben, sofern man Mensch ist, sondern [nur] sofern ein göttliches Element in uns wohnt. Und so groß der Unterschied zwischen diesem göttlichen Element und unserer zusammengesetzten Wesenheit ist, so weit ist auch das Wirken des göttlichen Elements von den übrigen Formen wertvoller Tätigkeit entfernt. 1177b 1178a
79 Aber 2. Dieses Leben können gar nicht alle Menschen führen. Für die Befriedigung unserer körperlichen Bedürfnisse ist viel Einsatz in der Gesellschaft erforderlich. Daher (?) ein zweites Lebensideal.
80 Das zweite Ideal (politisches) Handeln im Sinne der Charaktertugenden. In einer zweitrangigen Weise ist das Leben im Sinne der anderen Formen werthaften Tuns ein glückliches Leben. Denn ein Tätigsein in diesem Sinn hält sich im Bereich des Menschlichen a
81 Eine Überlegung dazu Nun ist aber jenes Tätig-sein wählenswert an sich, dem man außer der Funktion des Tätig-seins nichts weiter abverlangt. Als solches aber gilt das ethische wertvolle Handeln, denn das Edle und Wertvolle tun, das gehört zu den Werten, die wählenswert an sich sind. 1176b
82 Zusammenfassung Ansatz: Aristoteles versucht allgemein zu bestimmen, worin ein gutes Leben besteht (eudaimonia). Ergebnis: Wir leben gut, wenn wir vernünftig handeln (Tätigkeit des rationalen Seelenteils) und dabei die charakteristischen menschlichen Tugenden an den Tag legen. Konkretisierungen: 1. Theoria, 2. Leben im Einsatz für die Polis. Typ: Tugendethik. Tugenden: dianoetische und ethische Ethische Tugenden: Beispiel Besonnenheit, werden durch Übung erworben, zeichnen sich durch Mitte aus.
83 Literatur Originalliteratur: Zitate nach der Übersetzung von F. Dirlmeier (Stuttgart 1969) Kurze Einführungen: Kraut, Richard, "Aristotle's Ethics", The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Spring 2009 Edition), E. N. Zalta (Hrsg.), F. D. Miller jr., Aristotle: Ethics and Politics, in: C. Shields, The Blackwell Guide to Ancient Philosophy, Oxford 2003, S Kapitel in Einführungsbüchern wie von H. Pauer-Studer, Einführung in die Ethik, Wien 2003
84 Literatur Kommentare/ausführliche Sekundärliteratur: O. Höffe (Hrsg.), Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, (Reihe: Klassiker auslegen), Frankfurt am Main 1995 G. J. Hughes, Aristotle on Ethics, London 2001 U. Wolf, Aristoteles' 'Nikomachische Ethik', Darmstadt 2002
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