Obdachlos und psychisch krank

Transkript

1 Fachwissen Obdachlos und psychisch krank Bearbeitet von Klaus Nouvertné, Theo Wessel, Christian Zechert 1., Aufl. d. Neuausg Taschenbuch. 200 S. Paperback ISBN Format (B x L): 14,8 x 21 cm Weitere Fachgebiete > Pädagogik, Schulbuch, Sozialarbeit > Sozialarbeit > Resozialisierung schnell und portofrei erhältlich bei Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft. Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, ebooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programm durch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr als 8 Millionen Produkte.

2 7 Vorwort Als die Vorläuferausgabe dieses Buches 1996 unter dem Titel Auf die Straße entlassen obdachlos und psychisch krank erschien, betraten die Autorinnen und Autoren Neuland. Zwar waren im deutschsprachigen Raum verstreut Fachaufsätze zur Psychopathologie erschienen und insbesondere in den USA gab es erste Forschungen zum Thema, aber viele Beobachtungen blieben noch nah an der schlichten Beschreibung der Lebenslagen Obdachloser mit psychischen Erkrankungen. Es fehlten größere Studien mit generalisierbaren Erkenntnissen. Nicht nur wissenschaftlich allerdings gab es weiße Flecken auf der Versorgungslandkarte. Auch in den psychosozialen Einrichtungen kamen die betroffenen Menschen kaum vor entweder weil sie statt der Unterordnung die»freiheit der Straße«bevorzugten oder weil sie wegen chronischen Alkoholmissbrauchs schlicht auf die Straße geworfen wurden. Nicht zuletzt deswegen beginnt das Buch mit einer (Wieder-)Begegnung in einer Tunnelpassage. Zum Glück aber hat sich in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre auf diesem Gebiet einiges getan. Die Neuausgabe dieses Buches kann entsprechend auf neue Erkenntnisse und Entwicklungen zurückgreifen und so sind auch neue Autorinnen und Autoren hinzugekommen. Dass das gesellschaftliche Problem der Obdach- und Wohnungslosen trotz einer leichten Entspannung strukturell nicht abgenommen hat, wird vielerorts konstatiert. Im Jahr 2000 lebten nach Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe ca Menschen (einschließlich Aussiedler) ohne eigene, gesicherte Wohnung, davon rund allein stehende Menschen zwischen Straße und Notunterkunft oder im Hilfesystem sowie Menschen auf der Straße. Wohnsitzlosigkeit ist nicht mehr nur ein Problem obdachloser Männer oft als»nichtsesshaft«diskriminiert, auch Frauen und Jugendliche sind in einem bisher unbekannten Maß betroffen. Frauen sind oftmals gezwun-

3 8 Vorwort gen, sich in Abhängigkeitsverhältnisse zu begeben, in denen sie akut oder latent auch von sexueller Gewalt bedroht sind. Und Jugendliche scheinen sich Krisen stärker als früher durch»weglaufen«zu entziehen und landen dann schon in frühen Jahren in der»spirale der Perspektivlosigkeit«. Längst müssen uns die offenkundigen Zahlen der Wohnungslosen und deren Lebenssituationen also alarmieren. Und dass der Anteil der psychisch Erkrankten unter den Obdachlosen erheblich ist, das belegt inzwischen eine ganze Reihe von Untersuchungen und Forschungen, die im vorliegenden Buch durch mehrere Beiträge dargestellt werden. Aus der Krise auf die Straße Die westlichen Gesellschaften gehen weiterhin einen fundamentalistischen Weg der Ökonomisierung so gut wie aller Lebensbereiche. Gegenwärtig befinden wir uns in einer Phase der verschärften Polarisierung zwischen Reichen und Armen, obwohl wir in einer der reichsten Gesellschaften der Welt leben. Für viele Menschen ist das Leben unter solchen Bedingungen nicht leichter geworden. Sie halten der Belastung an den Arbeitsplätzen nicht mehr stand und werden schließlich arbeitslos oder erwerbsunfähig. Um in einer reichen Gesellschaft nicht als arm angesehen zu werden, werden viele in die Verschuldung getrieben. Die Probleme eskalieren: Ökonomischen Notlagen folgt der soziale Abstieg. Wer in unserer hoch individualisierten Gesellschaft einmal allein dasteht, findet sich schnell in Isolation wieder. Für psychisch sensible, instabile, beeinträchtigte Menschen führen solche Lebensumstände offenbar nicht selten in die Wohnungs- und Obdachlosigkeit. Wer hier landet, gehört endgültig zu den Verlassenen. Was zunächst vielleicht nur eine psychische Krise war, wächst sich nun zu einer psychosozialen Erkrankung aus und chronifiziert nach Jahren auf der Straße. Auch im Gesundheitswesen ist der Mensch häufig nichts anderes als ein bloßer Kostenfaktor. Die Kassen seien leer, hören wir allenthalben, und auch die Gesundheitsversorgung müsse ökonomisch effizienter werden überhaupt scheint sich diese Gesellschaft in nichts lieber als in Krisen zu befinden. Wer unter solchen Umständen als psychisch Kranker und extrem verhaltensauffällig auf der Straße lebt, für den kann nicht mehr viel getan werden. Oder? Die Beobachtungen und Forschungen der vergangenen Dekade haben

4 Vorwort 9 uns für die Lebenslagen psychisch kranker Obdachloser sensibilisiert. Es hat eine fruchtbare Debatte begonnen zwischen Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe, der psychiatrischen Versorgung und der Suchtkrankenhilfe. Deutlich wurde dabei, dass es nicht darum gehen kann, einen neuen Einrichtungstypus zu erfinden, sondern dass den Problemen der Betroffenen am besten durch eine verstärkte Kooperation aller Hilfen geholfen werden kann, und zwar meistens weit unterhalb therapeutischer Ansprüche. Wer die soziale und gesundheitliche Not wohnungsloser Menschen zum Thema macht, setzt sich schnell dem Verdacht aus, er wolle mit einem nahezu totalitären Versorgungsanspruch diejenigen Menschen überziehen, die sich der Gewalt betreuender Institutionen durch»wanderschaft«entziehen. Das muss zwar immer kritisch bedacht werden, gerade wenn Obdachlose zum Objekt konkurrierender Wohlfahrtskonzerne werden. Dahinter darf aber kein idealisierendes und romantisierendes Bild des autonomen, wandernden»tippelbruders«stehen, das längst nicht mehr der Wirklichkeit der hohen Zahl alkohol- oder drogenabhängiger oder verhaltensauffälliger wohnungsloser Menschen entspricht. Das Leben auf der Straße ist elendig und es ist das Ergebnis einer Flucht vor belastenden Lebens- und häufig auch schlechten Betreuungsbedingungen. Aus der Klinik (und dem Heim) auf die Straße Obdachlose mit erheblichen psychischen Beeinträchtigungen und Verhaltensauffälligkeiten sind also einerseits vielfach für die Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe»nicht tragbar«, während andererseits psychiatrische Dienste und Kliniken mit immer kürzeren Behandlungszeiten zwar die psychischen Erkrankungen erkennen, aber für Wohnungsprobleme nicht»zuständig«sind. Hier tut sich ein neues Dilemma der stationären und der ambulant-komplementären Psychiatrie auf. Die Aufsplittung der einzelnen Versorgungssysteme führt dazu, dass bei psychisch kranken Obdachlosen am Ende keiner mehr richtig zuständig ist. Psychiatrische Einrichtungen haben nicht nur einen Patientenanteil, der zuvor obdachlos war und der anschließend auch wieder in die Obdachlosigkeit geht, sondern entlassen auch Menschen, deren Wohnsituation während des Klinikaufenthaltes prekär wurde, in ungeklärte Wohnverhältnisse. Die stationäre Psychiatrie als eines der Versorgungselemente für diese Obdachlosen steht also in der Pflicht, ihre Angebote angemessener zu gestalten, vielleicht hin und wieder sogar bis zu einer vorübergehenden»asylfunktion«.

5 10 Vorwort Das steht ganz und gar nicht den Reformansätzen um Enthospitalisierung und Deinstitutionalisierung entgegen. Die Veränderungen des psychiatrischen Versorgungssystems führen nur offenbar für einen sehr kleinen Teil der Patientinnen und Patienten zu Problemen, die nun wiederum angegangen werden müssen worin sich alle Richtungen der Sozialpsychiatrie einig sein dürften. Dies ist eine Erkenntnis, die auch für die angestrebte Reform der Heimunterbringung nutzbar gemacht werden sollte. Das vorliegende Buch dokumentiert eine drastische Schieflage in der Versorgung psychisch kranker Menschen. Trotz des Aufbaus und Ausbaus ambulanter und komplementärer psychiatrischer Facheinrichtungen wird ein Großteil der psychisch Kranken von diesen Einrichtungen entweder nur mangelhaft fachlich betreut oder lebt gänzlich ohne jegliche Hilfe auf der Straße bzw. in Notunterkünften. Es muss also auch hier auf die fehlenden, aber notwendigen Verknüpfungen der zu stark getrennten ambulanten und stationären Hilfebereiche Psychiatrie, Suchtkrankenhilfe und Wohnungslosenhilfe hingewiesen und die»opfer«der mangelnden Abstimmung der Bereiche untereinander müssen sichtbar gemacht werden. Die Versorgung dieser Menschen ist weiterhin eine große Aufgabe der Wohnungslosenhilfe, der Suchtkrankenhilfe und erst recht der psychiatrischen Einrichtungen. Stand die Ausgabe des vorliegenden Buches 1996 für den Zeitpunkt, sich der psychisch kranken Obdachlosen anzunehmen und ihre Lebenslagen überhaupt erst einmal zu erkennen, so soll diese Neuausgabe jenen Punkt markieren, die hier und da entstandenen Kooperationsmodelle weiterzuentwickeln und ein solches Versorgungshandeln zum Standard zu machen. Klaus Nouvertné, Theo Wessel, Christian Zechert