hr2wissen Der vererbte Leiden Traumata zwischen den Generationen

Transkript

1 Hessischer Rundfunk hr2-kultur Redaktion: Volker Bernius hr2wissen Der vererbte Leiden Traumata zwischen den Generationen 03 Warum liebst Du mich nicht? Fehlende Bindungsfähigkeit bei Kindern von Gewaltopfern Regie: Volker Bernius Sprecherin Zitator Andrea und Justin Westhoff Sendung: xy.xy.2014, hr2-kultur O-Töne: - Michaela Huber, Psychotherapeutin, Zentrum für Psychotraumatologie Kassel - Elisabeth Binder, Neurowissenschaftlerin und Direktorin am Max- Planck-Institut für Psychiatrie in München hr2wi Copyright Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der Empfänger darf es nur zu privaten Zwecken benutzen. Jede andere Verwendung (z.b. Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der Öffentlichkeit, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verteilung oder Zurverfügungstellung in elektronischen Medien, Übersetzung) ist nur mit Zustimmung des Autors/der Autoren zulässig. Die Verwendung zu Rundfunkzwecken bedarf der Genehmigung des Hessischen Rundfunks. 1

2 Zit.: Jede Woche werden in Deutschland 70 Kinder von Erwachsenen aus ihrem familiären Umfeld misshandelt. Jede Woche sterben drei Kinder an den Folgen. Und erschreckend hoch ist die Zahl der Opfer, die später selbst zu Tätern werden. Die Berliner Rechtsmediziner Michael Tsokos und Saskia Guddat haben für Aufsehen und Diskussionen gesorgt - mit ihrem 2014 erschienenen Buch "Deutschland misshandelt seine Kinder". Individuelle Gewalt wie zum Beispiel die Misshandlung als Kind oder eine Vergewaltigung hinterlässt körperliche und tief sitzende seelische Spuren. Und die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass die Kinder der Opfer ebenfalls traumatisiert werden. O-Ton 1: Huber (0'07") Gewalt wird von einer Generation zur anderen weitergegeben, das ist etwas, was uns immer wieder erschüttert, wenn wir das wahrnehmen. Michaela Huber ist Mitbegründerin des Zentrums für Psychotraumatologie in Kassel. O-Ton 2: Huber (0'28") Wie viele Patienten sagen uns: "Ich wollte es ganz anders machen als mein Vater oder meine Mutter. Und dann hab ich mich dabei ertappt, dass ich meine Kinder geschlagen habe." Oder: "Meine Tochter wirft mir jetzt vor: wie konntest Du nur mich dem Opa ausliefern, Du selbst bist von dem missbraucht worden." Das sind so Momente, in denen wir dasitzen und uns fragen: Wie passiert das von einer Generation zur anderen? Die Weitergabe von Gewalterfahrungen geschieht auf zwei Wegen: Zum einen wird die Mutter-Kind-Interaktion massiv gestört, vor allem wenn die Mütter plötzlich an ihre eigenen traumatischen Lebensumstände erinnert werden. O-Ton 3: Huber (0'51") Entweder sie sind gar nicht da oder schieben das Kind weg und sind nicht ansprechbar. Das heißt, das Kind kann Angstanfälle kriegen, und es bekommt dann natürlich sehr große Sorge um die Mutter, statt dass es selbst versorgt wird. Das ist 2

3 die eine Weise. Die andere ist, dass Mütter feindselig oder überängstlich mit ihrem Kind umgehen. Ich hab eine Mutter gehört, die gesagt hat "Mein Kind hat schon als Säugling die Faust gegen mich erhoben." Viele traumatisierte Mütter können die Gefühle ihrer Kinder nicht lesen, die verstehen nicht, was in dem Kind vorgeht, stattdessen reagieren sie so, wie ihr eigenes Stresssystem auf einen möglicherweise traumatischen Reiz reagieren würde, und das ist für die Kinder extrem verwirrend und auch belastend. Feinfühligkeit geht traumatisierten Menschen meist verloren. Aber genau die Fähigkeit, die Bedürfnisse anderer wahrzunehmen, zu verstehen und angemessen darauf zu reagieren, ist der zentrale Faktor, um Kindern ein Gefühl sicherer Bindung zu geben. Und hier schließt sich der Teufelskreis: Nachkommen von Gewaltopfern, die keine Geborgenheit erlebt haben, fällt es ebenfalls schwer, feinfühlig mit anderen umzugehen, insbesondere wiederum mit ihren Kindern. Michaela Huber: O-Ton 4: Huber (0'26") Viele der früheren Generationen sagen ja: "Man darf das Kind nicht verwöhnen und so", die moderne Bindungsforschung und Psychotraumatologie erzählt uns etwas ganz anderes, nämlich: Wer sicher gebunden ist, wird sagen können: "ja ich bin von anderen abhängig, das ist in Ordnung. Ja, andere sind von mir abhängig, das ist in Ordnung. Und trotzdem fühle ich mich auch frei und unabhängig." Zit.: "Wie Erfahrungen vererbt werden" / "Wie wir unser Erbgut steuern können" / "Schwangere Überlebende des 11. September übertrugen das Trauma auf ihre Kinder". Mittlerweile gibt es mehrere Fachpublikationen und Zeitungsartikel mit solchen Titeln. Neben den psychologischen Mechanismen der Traumaweitergabe werden inzwischen auch biologische Faktoren diskutiert, Stichwort Epigenetik, ein neuerer Forschungszweig der Biologie. Zit.: Genetik befasst sich mit Erbanlagen; Epigenese ist die Entwicklung eines Lebewesens. "Epigenetik" beschreibt das Zusammenspiel zwischen Genen und Umwelteinflüssen einschließlich der Erfahrungen. 3

4 Epigenetik meint selbstverständlich nicht, dass ein Trauma über einzelne Gene vererbt wird wie etwa die Augenfarbe. Aber durch traumatische Ereignisse können bestimmte Gene an- oder abgeschaltet werden. Elisabeth Binder, Neurowissenschaftlerin und Direktorin am Max-Planck- Institut für Psychiatrie in München, untersucht epigenetische Vorgänge. Dabei versteht sie Trauma als "toxischen Stress". O-Ton 5: Binder (0'40") Wenn wir einem Stress ausgesetzt werden, reagieren wir sehr unterschiedlich drauf, auf der hormonellen Ebene, aber auch auf der Ebene, wie unser Gehirn mit diesem Stress umgeht. In unserer Forschung konzentrieren wir uns auf traumatische Lebensereignisse, zum Beispiel Misshandlungen und Missbrauch in der Kindheit, und da haben wir eben eine Genvariante entdeckt, die auch bei der allgemeinen Bevölkerung zu einem Unterschied in diesen Stressantworten führt, und was wir dann gesehen haben, ist, dass, wenn man die Variante hat, die mit einer höheren Stressantwort verbunden ist, und einem Trauma ausgesetzt wird, dass dann die Wahrscheinlichkeit, dass man nach dieser Traumaerfahrung an einer psychiatrischen Krankheit leidet, deutlich höher ist. Bei der Diskussion um die epigenetisch vererbten Traumata schwingt oft der Vorwurf der Schuldzuweisung mit. Dazu meint Elisabeth Binder: < O-Ton 6: Binder (0'22") Es gibt natürlich biologische Mechanismen, die einfach weil wir Säugetiere sind, nur durch die Mutter weitergegeben werden, auch Traumaerfahrungen des Vaters über das Sperma zumindest in Mäusen ist das gezeigt worden kann weitergegeben werden. Also allein durch die Biologie gibt s manche Fakten, die sind dann einfach so, das hat gar nichts mit Schuld zu tun. > Eine Trauma-Weitergabe geschieht auch nicht zwangsläufig, aber epigenetisches Wissen könnte doch helfen, hofft die Professorin am Max- Planck-Institut für Psychiatrie in München, Elisabeth Binder: O-Ton 7: Binder (0'17") Das wäre ein Ziel unserer Forschung, dass wir verstehen, wie Traumata diese epigenetischen Prägungen hinterlassen und dass wir vielleicht auch verstehen, wie man diese Prägungen wieder rückgängig machen kann. Oder durch andere Prägungen, die dann schützend wirken, deren Wirkung aufheben kann. 4

5 Das versuchen auch Psychotherapeuten wie Michaela Huber aus Kassel, die vor allem mit traumatisierten Müttern und ihren Kindern arbeitet. "Feinfühligkeitsübungen" gehören dazu, aber auch, Verständnis für Ursachen von Bindungsstörungen zu wecken. Daher ist es zunächst wichtig, sich das eigene Trauma bewusst zu machen: O-Ton 8: Huber (0'48") Das Problem beim Trauma ist, dass sich die Gefühle immer wie hier und jetzt anfühlen, das heißt: "ich bin jetzt so wütend, weil das Kind mich wütend gemacht hat. Ich habe jetzt so viel Angst, weil mein Partner mir Angst gemacht hat." Und man versteht erstmal gar nicht, dass viel zu viel Angst oder Wut da drin ist von früher. Wir versuchen dass dieses Früher und Heute getrennt werden kann. Dazu ist das doch nötig, dass man sich das noch mal ein wenig vergegenwärtigt, davor hat jeder Mensch Scheu. Man möchte da nicht wieder hin, nicht zu Momenten, wo man sich so entsetzlich gefühlt hat. Aber, wer das schafft, der hat die besten Voraussetzungen dafür, es nicht an die Kinder weiterzugeben. 5