Klinisch-psychologische Diagnostik und Klassifikation I
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- Elvira Kopp
- vor 7 Jahren
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1 Klinisch-psychologische Diagnostik und Klassifikation I Multiaxialität Diagnostische Interviews DIPS Interview Folie 1
2 Multiaxiales System im DSM-IV-TR Achse I: Psychische Störungen Achse II: Persönlichkeitsstörungen und geistige Behinderung Achse III: Medizinische Krankheitsfaktoren Achse IV: Psychosoziale und umgebungsbedingte Probleme Achse V: Globale Beurteilung des Funktionsniveaus Folie 2
3 Vorteile der multiaxialen Diagnostik Breites Spektrum an Informationen erfasst Getrennte Einschätzung verhindert Vermischung Systematisierung der gewonnenen Informationen Wichtiges geht nicht vergessen Komplexität wird erfasst Heterogenität von Patienten mit gleicher Störung Folie 3
4 Multiaxiale Beurteilung: Folie 4
5 GAF-Skala - Fallbeispiel 1 Frau R. ist eine sehr dünne 19-jährige Ballettstudentin, die auf Drängen der Eltern zu einem Konsultationstermin hinsichtlich ihres Essverhaltens kommt. Während der letzten 3 Jahre hatte Frau R. täglich Essanfälle, die regelmässig von selbstinduziertem Erbrechen gefolgt waren. Eltern vermuten schon seit einiger Zeit, dass ihre Tochter Essproblem hat, doch bis vor einem Monat stritt die Tochter Schwierigkeiten durchweg ab. Während der letzten 3 Jahre sei es ihr aber sehr unangenehm gewesen, im Beisein anderer zu essen, was ihr Sozialleben in grossem Masse einschränkt. Im Alter von 16 Jahren hatte Frau R. zwei spontane Monatsblutungen, die seither aber ausblieben. Die Eltern beschreiben Frau R. als engagierte und tüchtige Studentin, obwohl sie sich wegen ihrer sozialen Isolation Sorgen machen. Folie 5
6 GAF-Skala - Fallbeispiel 2 Frau B., 27-jährige Managerin, leidet seit drei Jahren an Panikattacken, die in unterschiedlichen Situationen auftreten. Um nicht zuzulassen, dass ihre Beschwerden ihr Leben beeinträchtigen, zwang sie sich immer weiter zur Arbeit zu gehen. Mit der Zeit traten die Panikattacken immer seltener auf, Frau B. hatte aber trotzdem mehrmals im Monat Panikattacken, die meistens auftraten, wenn sie in einem überfüllten Bus fuhr, vor einer schwierigen zwischenmenschlichen Situation stand oder nachts entspannt im Bett lag. Nachdem sie bei der Arbeit befördert wurde, traten die Panikattacken wieder häufiger auf, bis zu mehrmals wöchentlich. Sie bemerkte zunehmend wie sie die Angst unsicher machte und ihre Leistung beeinträchtigte. Sie konnte ihren Chef nicht ausstehen, und glaubte dass dieser mit ihr auch nicht zufrieden war, obwohl er ihre Beförderung veranlasst hatte. Obwohl sie sich in Läden, Kinos und Restaurants unwohl fühlt, zwingt sie sich dorthin zu gehen. Frau B. arbeitet äusserst gewissenhaft und nimmt ihren Beruf sehr ernst. Obwohl sie einige Freundinnen hat, lebt sie lieber isoliert. Folie 6
7 GAF-Skala - Fallbeispiel 3 Frau C. 38-jährige Mutter von drei Kindern, wurde in den vergangenen neun Jahren fünfmal stationär behandelt aufgrund ausgeprägter depressiver Symptomatik. Nur während kurzer Perioden, Tage oder seltener Wochen, empfindet Frau C. ihr Leben als lebenswert und verfügt über genügend Selbstvertrauen und Energie, ihren alltäglichen Anforderungen nachzukommen. Der Ehemann von Frau C. ist aufgrund der aktuellen Symptomatik seiner Frau sehr beunruhigt. Er berichtet, dass seine Frau angibt, Stimmen von Ausserirdischen zu hören, mit denen sie auch kommuniziere. Sie habe ihm mitgeteilt, dass sie glaube, die Mission zu haben, jeden ihrer Familie zu töten. Folie 7
8 Multiaxiales System in der ICD-10 Offizielle Versionen der ICD-10 erlauben keine multiaxiale Beurteilung Optionale multiaxiale Version (WHO, 1997): Achse Ia: Diagnosen psychischer Störungen nach ICD-10 Achse Ib: somatische Diagnosen nach ICD-10 Achse II: Ausmass psychosozialer Funktionseinschränkung nach der WHO Achse III: Faktoren des sozialen Umfelds und der Lebensbewältigung gemäss ICD-10 Kap. XXI (Faktoren, die den Gesundheitszustand beeinflussen und zur Inanspruchnahme des Gesundheitswesens führen) Folie 8
9 Einflussvariablen beim Diagnostizieren 3 wichtigste Einflüsse auf diagnostischen Prozess: Kontext Erwartungen des Therapeuten (z.b. Bestätigungsdiagnostik, Vorwissen, Erfahrung ) Glaubwürdigkeit der Informationsquelle Folie 9
10 Standardisierte Interviewverfahren (deutschsprachig) Standardisierte Verfahren: CIDI (Wittchen & Semler, 1991) Strukturierte Interviews: SKID-I (Wittchen et al., 1997) SKID-II (Fydrich et al., 1997) DIPS (Schneider et al., 2006) Mini-DIPS (Margraf, 1994) Kinder-DIPS (Schneider et al., 2009) Checklisten: IDCL (Hiller et al., 1995) Folie 10
11 Strukturierte Interviews Für Diagnose relevante Information wird in kurzer Zeit erfasst Interviewleitfäden mit komplett ausformulierten Fragen: Wortlaut der Fragen Reihenfolge der Fragen Sprungregeln zum Auslassen der Fragen Diagnosekriterien operationalisiert und explizit vorgegeben Klinische Einschätzung des Diagnostikers entscheidet darüber, ob diagnostisches Kriterium erfüllt ist oder nicht Folie 11
12 DIPS DIPS = Diagnostisches Interview bei psychischen Störungen (Schneider & Margraf, 4. Auflage, 2011) Folie 12
13 Kurzbeschreibung des DIPS Strukturiertes Interview Basierend auf dem amerikanischen ADIS-IV (Anxiety Disorders Interview Schedule for DSM-IV; DiNardo et al., 1983) Erfasst die für den psychotherapeutischen Bereich wichtigsten psychischen Störungen im Erwachsenenalter (ab 18 Jahren) nach DSM-IV Kombination aus kategorialer Diagnostik und anderer therapierelevanter Information Folie 13
14 Mit DIPS erfasste Störungen Angststörungen Affektive Störungen Somatoforme Störungen Essstörungen Schlafstörungen Substanzmissbrauch und -abhängigkeit Borderline Persönlichkeitsstörung Screenings für sexuelle Funktionsstörungen, körperliche Erkrankungen und nicht-organische Psychosen Folie 14
15 Durchführung des DIPS Interviewleitfaden: Interviewfragen Anweisungen an die InterviewerInnen Checklisten mit DSM-IV TR Kriterien Protokollbogen: Protokollieren der Antworten des Patienten Kodierung der Diagnosekriterien (erst am Ende des Interviews, nachdem alle Störungssektionen abgefragt!) Folie 15
16 Vorbereitung des Patienten Ziel des Interviews erklären Dauer Orientierung an schriftlichem Leitfaden, Protokollierung Unterbrechung, wenn Patient ausführlicher als für Diagnosestellung erforderlich antwortet Bei Unklarheiten immer fragen Folie 16
17 Grundregeln zur Anwendung des DIPS 1. Fragen möglichst wortwörtlich stellen 2. Zusätzliche Fragen explizit erlaubt / erwünscht 3. So lange fragen, bis Antwort zur Beurteilung des erfragten Kriteriums möglich ist 4. Klinische Einschätzung des Interviewers ausschlaggebend 5. Zeitraum des Auftretens der Symptome festlegen 6. Sind Symptome klinisch relevant? 7. Immer alle Störungsbereiche abfragen Folie 17
18 Richtlinien für Diagnosen Für eine Diagnose nach DSM müssen alle Diagnose- Kriterien erfüllt sein Multiple Diagnosen erlaubt (Prinzip der Komorbidität) Zwischen primären und zusätzlichen Diagnosen unterscheiden Schweregrad 0-8 für jede Diagnose einschätzen (Klinisch relevant ab Schweregrad 4, < 4 subklinisch) Folie 18
19 Gütekriterien DIPS - Objektivität Vorgabe von Fragen, Durchführungs- und Kodierungsregeln erhöht die Objektivität von Durchführung und Auswertung Einschränkung: Informationsgehalt der Aussage kann nur begrenzt objektiv überprüft werden (und subjektive Angaben und Introspektionsfähigkeit der PatientInnen) Folie 19
20 Gütekriterien DIPS Reliabilität I Untersuchung von Suppiger et al. (2008) Methode: Interrater-Reliabilität: Aufnahme von 237 Interviews auf ipod und Gegenkodierung durch zweiten unabhängigen Interviewer Retest-Reliabilität: Durchführung von je zwei Interviews bei 50 Patienten durch zwei unabhängige Interviewer Resultate Interrater-Reliabilität: Kappa s (für Oberklassen ) zwischen.72 und.92 Retst-Reliabilität: Kappa s (für Oberklassen ) zwischen. 62 und.94 (Ausnahme Schlafstörungen: Kappa =.35) Folie 20
21 Gütekriterien DIPS - Reliabilität II Fehlerquellen/Fehleranalyse: Unterschiedliche Gewichtung des Schweregrads: 30% Falsche Anwendung des DIPS: 23% Fehler bei der Interviewführung: 18% Unterschiedliche differentialdiagnostische Gewichtung: 12% Bei Retestinterviews: unterschiedliche Angaben des Patienten bei 42% der Fehler Folie 21
22 Gütekriterien DIPS Validität I Zufriedenstellende Ergebnisse mit international etablierten Standardverfahren: STAI (State-Trait-Angstinventar) FEV (Fragebogen zum Essverhalten) SCL-90 (Symptom Checklist) BDI (Beck Depressions Inventar) Folie 22
23 Gütekriterien DIPS Validität II Untersuchung von Suppiger et al. (2008): Methode: Überprüfung der inhaltlichen Validität: Expertenurteile, ob die Fragen mit den Kriterien des DSM-IV-TR s überein-stimmen Überprüfung der Konstruktvalidität: Konvergent: Übereinstimmung mit konstruktnahen Konstrukten Diskriminant: Unterscheidung verschiedener Konstrukte Resultate: gute Validität für Angststörungen, Affektive Störungen, Somatoforme Störungen, Essstörungen, Substanz- und Alkoholmissbrauch/- abhängigkeit Ungenügende Validität für Schlafstörungen, Generalisierte Angststörung Folie 23
24 Akzeptanz des DIPS im klinischen Alltag I Untersuchung von Suppiger et al. (2008) Methode: 10 geschulte Interviewer führten 183 DIPS-Interviews in stationären und ambulanten Kliniken, sowie in Forschungssettings in der Schweiz und in Deutschland Folie 24
25 Akzeptanz des DIPS im klinischen Alltag II Resultate: Generelle Zufriedenheit (0 = überhaupt nicht zufrieden, 100 = vollkommen zufrieden): bei Patienten, bei Interviewern Hilfreich aus Sicht der Patienten: 78.5% Positives Verhältnis zum Interviewer aus Sicht der Patienten: 96.7% Mühsame Durchführung aus Sicht der Interviewer: 16% Adäquates Eingehen auf den Patienten aus Sicht der Interviewer: 92.6% Das DIPS erfreut sich einer breiten Akzeptanz bei Patienten und Interviewern in verschiedensten klinischen Settings Folie 25
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