Friedrich Schiller. Textanalyse und Interpretation zu. Rüdiger Bernhardt

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1 Band 2 Textanalyse und Interpretation zu Friedrich Schiller Rüdiger Bernhardt Alle erforderlichen Infos für Abitur, Matura, Klausur und Referat plus Musteraufgaben mit Lösungsansätzen

2 1 SCHNELLÜBERSICHT 2 FRIEDRICH SCHILLER: LEBEN UND WERK 3 TEXTANALYSE UND -INTERPRETATION Wende bei Orleans Bürger und Bauern erhoben sich in England (unter Wat Tyler), in Flandern (unter Artevelde) und in Frankreich. Die kriegerischen Auseinandersetzungen nutzte König Heinrich V. von England, um von Calais aus in Frankreich vorzudringen und die englische Macht auf weitere französische Gebiete auszudehnen. Seine Siege öffneten ihm 1415 den Weg nach Paris. Orleans, seit dem 7. Oktober 1428 belagert, wurde zum letzten Hindernis für die Engländer, die bereits Nordfrankreich beherrschten, auf dem Weg über die Loire in den Süden. Es wurde die Stadt, mit deren Befreiung Jeanne d Arc ein Zeichen ihrer göttlichen Berufung gab. Die beiden Mächte hatten auch Flandern im Auge, das wirtschaftlich hoch entwickelt und wohlhabend war nach dem Tod des geisteskranken französischen Königs Karl VI. nahm der französische Dauphin (Thronfolger) Karl den Titel des König Karl VII. von Frankreich an, ohne jedoch gekrönt zu sein. Ihm stellten die Engländer gemeinsam mit den Burgundern den Neffen Karls und einjährigen Sohn des englischen Königs Heinrich V., der ebenfalls 1422 gestorben war, als Heinrich VI., König von Frankreich, entgegen. Die Engländer belagerten unter der Führung des Herzogs von Bedford, eines Oheims (Onkels) Heinrichs VI., die Stadt Orleans, mit deren Fall das Schicksal Karls und der französischen Dynastie der Valois besiegelt gewesen wäre. Tochter eines Landmannes Jeanne d Arc ( ) Jeanne d Arc (auch genannt: La Pucelle = die Jungfrau bzw. im deutschen Sprachraum: Johanna von Orleans, die Jungfrau von Orleans) wurde am 6. Januar 1412 im lothringischen Domrémy an der Maas geboren. Ihr Vater war Landmann (Bauer), einige Zeit auch Gemeindevorsteher. Als Streit und Kampf zwischen königstreuen Franzosen und Burgundern ausbrachen, stand ihre Gemeinde auf Seiten der Königstreuen. Jeannes Wunsch war, dass der französi- 20 FRIEDRICH SCHILLER

3 4 REZEPTIONS- GESCHICHTE 5 MATERIALIEN 6 PRÜFUNGS- AUFGABEN sche König sein Reich insgesamt beherrsche und gekrönt würde. Sie erklärte, Stimmen von Engeln zu hören, die ihr aufgetragen hätten, die Belagerung der Stadt Orleans aufzuheben. Die 17-Jährige konnte den König Karl VII. überzeugen, ihr ein Truppenkontingent anzuvertrauen. Das Heer folgte ihr wie einem höheren Wesen, nach ersten Siegen fürchteten die Engländer sie wie den Teufel selbst. Ihre militärischen Erfolge entwickelten zunehmend patriotische Haltungen bei den Franzosen. Es gelang ihr tatsächlich, Orleans zu befreien; sie schlug Engländer und Burgunder zurück, führte 1429 Karl VII. zur Krönung in Reims, wurde jedoch 1430 von den Burgundern gefangen genommen, an die Engländer ausgeliefert, in Rouen vor einen geistlichen Gerichtshof gestellt, der sie als Zauberin und Ketzerin verurteilte und 1431 hinrichten ließ. Parallel dazu erfolgte die Umrüstung des französischen Ritterheeres zu einem modernen Söldnerheer, das erstmals Artillerie einsetzte einer Vorstufe des stehenden Heeres, und es gelang, die Engländer zurückzudrängen. Jeanne d Arc wurde 1909 seligund 1920 heiliggesprochen. Sie wurde zur französischen Nationalheiligen. Triumph und Hinrichtung Der europäische Kontext des Hundertjährigen Krieges Schiller hatte die historischen Hintergründe bereits in seiner Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung (1788) umrissen. Im 1. Buch stellte er die Struktur der fränkischen Länder um 1300 dar, die von der zunehmenden Souveränität der Vasallen bestimmt wurde. Der Herzog von Burgund, Philipp der Gütige, wie er bei Schiller heißt, hatte mehrere Provinzen unter seiner Herrschaft vereint, aus denen sich unter anderem ein blühendes Reich die späteren Niederlande entwickelte, die die burgundischen Herzöge zu furchtbaren Grenznachbarn Frankreichs (1. Buch) machten. Schiller betonte, dass sich in diesen bur- Burgund und die Niederlande DIE JUNGFRAU VON ORLEANS 21

4 1 SCHNELLÜBERSICHT 2 FRIEDRICH SCHILLER: LEBEN UND WERK 3 TEXTANALYSE UND -INTERPRETATION Drei Hauptpunkte des Konflikts gundischen Ländern das Bürgertum eher als in anderen Teilen aus der Leibeigenschaft befreit und ein bürgerliches Dasein erworben habe. Burgund konnte im Krieg auf die Schätze der Niederlande zurückgreifen 1. Auf drei Punkte lässt sich die komplizierte politische Gemengelage konzentrieren: 1. Es ging in dem Hundertjährigen Krieg zwischen England und Frankreich um die Nachfolge auf dem französischen Thron und um die Vorherrschaft in Europa. Damit zusammenhängend standen die englischen Besitzungen und Lehen auf französischem Boden, die Nordfrankreich und Paris einnahmen, zur Disposition. 2. Es fanden innerfranzösische Auseinandersetzungen zwischen gegensätzlichen Machtgruppen statt: die Bourguignons, die Anhänger der Herzöge von Burgund, und die Armagnacs, die Anhänger des Herzogs von Orleans und des Hauses Valois, aus dem Karl VII. stammte. Der Name Valois war für die Engländer bedeutungslos, da er nur eine Nebenlinie der ursprünglichen Herrscherfamilie der Kapetinger betraf (vgl. V. 1172). 3. Es ging um die Bildung und Festigung der europäischen Nationalstaaten und ihrer Bedeutung in Europa, im konkreten Fall um den Einfluss auf das reiche Flandern. Aus den Kämpfen zwischen den beiden Mächten entstanden weitreichende Veränderungen der Heere: In Frankreich entstand ein stehendes, fest besoldetes, partikulare Interessen zurückdrängendes und damit strenger organisiertes Heer als bei den Engländern. 1 Lucie-Smith, S FRIEDRICH SCHILLER

5 4 REZEPTIONS- GESCHICHTE 5 MATERIALIEN 6 PRÜFUNGS- AUFGABEN Historische Wirklichkeit und Schillers Stück Schiller hat die historischen Abläufe zeitlich und inhaltlich in den großen Abläufen verändert, in einzelnen Szenen aber eingehalten: Verschoben wurde die Versöhnung zwischen Karl VII. und Philipp dem Guten, Herzog von Burgund, aus dem Jahre 1435 Jeanne d Arc war bereits hingerichtet worden ins Jahr Dadurch konnte der Kampf der Franzosen gegen die Engländer als Beispiel für einen nationalen Befreiungskampf und eine nationale Einigung vorgeführt werden. Es ist das erste Thema, das in Die Jungfrau von Orleans angeschlagen wird: Heute sind wir noch / Franzosen, freie Bürger noch (V. 1 f.). Schiller verlegte den Frieden zwischen Karl und Philipp somit vor und bezog ihn bereits in die Kämpfe gegen die Engländer ein; auch benutzte er ausschließlich die militärische Auseinandersetzung zwischen Engländern und Franzosen, getragen von der Jungfrau, Dunois und La Hire ausnahmslos historische Gestalten. Den diplomatischen Bemühungen der Franzosen, getragen von La Trémoille und Regnault de Chartres, schenkte Schiller dagegen keinen Blick. Eine weitere bemerkenswerte dramaturgische Reduktion gegenüber den historischen Vorgängen: Schiller nahm nur die Ereignisse der ersten, kämpferischen Phase Johannas von 1428/29 bis 1430 in sein Stück auf und beendete sie mit dem erfundenen Tod seiner Heldin; die zweite Phase von 1430 bis 1431 von der Gefangennahme Johannas über die anhaltenden Verhöre bis zu ihrer Hinrichtung fehlt. In diesen Zusammenhang gehört auch der bei Schiller überhöhte Tod Johannas, der sie siegreich als Heldin auf dem Schlachtfeld, nicht wie in der Wirklichkeit nach langen inquisitorischen Verhören als Ketzerin im Feuer sterben sieht. Mit dieser Veränderung tritt Johanna als Kämpferin für die Schillers Veränderungen Vorverlegte Versöhnung Tod auf Schlachtfeld statt auf Scheiterhaufen DIE JUNGFRAU VON ORLEANS 23

6 1 SCHNELLÜBERSICHT 2 FRIEDRICH SCHILLER: LEBEN UND WERK 3 TEXTANALYSE UND -INTERPRETATION nationale Einheit und Freiheit vor den Zuschauer, nicht als angefeindete Hexe. Andere Veränderungen waren weniger bedeutsam und hatten dramaturgische Funktion: Agnes Sorel ( ), Karls Geliebte, kam erst 1431 an den Hof und wurde offiziell 1444 die Geliebte des Königs; durch die Vorverlegung konnte Schiller auf Karls Frau verzichten: Karl war seit 1422 mit Marie d Anjou ( ) verheiratet und hatte 1429 mit ihr bereits vier Kinder. Du Chatel (Duchatel), ein Vertrauter des Dauphin, war an der Handlung nicht beteiligt; das mächtige Burgund (V. 224) hatte nicht die Ausdehnung, die Schiller ihm in seinem Stück gab. Der englische Heerführer Talbot fiel nicht in der Schlacht bei Reims 1429 (V. 2294), sondern 1453 in der Schlacht bei Castillon, der letzten Schlacht des Hundertjährigen Krieges. Schillers Programm Die Zeit um 1800: Romantik, Französische Revolution, Napoleon Im Prolog (1798) zum Wallenstein hatte Schiller sein historisches Programm entworfen. Es galt nicht nur für das im Dreißigjährigen Krieg spielende Werk, sondern für alle Dramen aus Schillers Spätwerk. Schiller hatte mit der Arbeit an der Jungfrau von Orleans begonnen, als er in einem Brief, zur Funktion der antiken Tragödie Stellung nehmend, schrieb: Unsre Tragödie, wenn wir eine solche hätten, hat mit der Ohnmacht, der Schlaffheit, der Charakterlosigkeit des Zeitgeistes und mit einer gemeinen Denkart zu ringen, sie muss also Kraft und Charakter zeigen, sie muss das Gemüt erschüttern, zu er- 24 FRIEDRICH SCHILLER