Vorbemerkung Alltagserfahrung und Grundgefühl
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- Emma Wolf
- vor 7 Jahren
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1 Vorbemerkung Alltagserfahrung und Grundgefühl Wir alle kennen das Empfinden, dass wir mit uns einverstanden sind. Wir fühlen uns manchmal»so richtig in uns zu Hause«.»Ich bewohne meine Seele«, umschreibt der amerikanische Dichter Walt Weitman diesen Zustand. Dann wieder»stehen wir neben uns«oder sind uns fremd.»ich komme mir vor, als sei ich gar nicht da«oder»als gehöre ich nicht dazu«das sagen wir über uns oder hören wir von anderen. Oder wir spüren, dass ein Teil von uns»nicht zu uns gehört«,»uns fremd ist«,»ein Fremdkörper«. George Steiner schreibt:»welche andere menschliche Gegenwart kann mir fremder sein, als ich selbst mir manchmal bin?«(steiner 2002, S.77f.). Die Menschen, mit denen wir arbeiten, benutzen verschiedene Worte für diese Gefühle.»Ich fühle mich nicht wohl in meiner Haut«,»Ich habe keinen Draht zu mir selber«,»ich frage mich oft: Bin ich der?«,»ich habe die Orientierung verloren«, oder eben:»ich kann mich annehmen«,»ich bin authentisch«,»das bin ich«,»ich fühle mich wohl in meiner Haut«,»Ich finde eine Oase in mir«, sind Umschreibungen. Wir suchten längere Zeit nach treffenden umfassenden Bezeichnungen. Uns fiel auf, dass viele Menschen, um 7
2 das zu bezeichnen, was sie fühlen, Begriffe der nahen Umgebung verwenden. Dabei fielen oft Worte wie»heimisch«,»fremd«,»wohnen«,»zu Hause sein«usw., um diese inneren Zustände zu bezeichnen. Also haben wir die Begriffe ausgewählt, die den Titel dieses Buches ausmachen. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass sie am ehesten auf Verständnis stoßen und bei den meisten Menschen starke Echos und Resonanz hervor rufen. Wenn wir eine Klientin oder einen Klienten fragen, ob sie das Gefühl kennen, sich fremd zu sein, wissen fast alle, was damit gemeint ist. Wenn wir uns erkundigen, ob sie das Gefühl haben, in sich zu wohnen, verneinen die meisten, betonen aber, wie sehr sie sich danach sehnen. Offensichtlich ermöglichen diese Begriffe, diesen Gefühlen oder Befinden näherzukommen. Durch diese Erfahrungen sind wir zu der Überzeugung gekommen, dass In-sich-Wohnen und Sichfremd-Sein sowohl Gefühle des Alltags sind als auch eine grundlegende Bewegung des Erlebens bezeichnen: Fast alle Menschen, die wir kennen, streben danach, sich weniger und seltener fremd zu sein und häufiger und intensiver in sich zu wohnen. Wir wollen aber nicht vergessen, zu betonen, dass jeder Mensch für Überraschungen gut sein kann. So war für einen Klienten das In-sich-Wohnen ein Zustand, mit dem er verband, sich unangenehm selbstgefällig auszuruhen, während er als positiv für Veränderungen ansah, auch einmal neben sich zu stehen. Auch andere Menschen können mit den Begriffen In-sich-Wohnen und Sich-fremd-Sein nichts oder wenig anfangen. Falls Sie zu ihnen gehören (und trotzdem dieses Buch lesen), tauschen Sie bitte diese 8 VORBEMERKUNG
3 Worte aus und ersetzen Sie sie durch Bezeichnungen, die Ihnen eher zusagen. Wir wollen in diesem Buch von dem Alltagsgefühl, sich fremd zu sein bzw. in sich zu wohnen, und von dem grund legenden Sehnen und Streben erzählen, das sich mit diesem verbindet. Von Menschen werden wir berichten, die sich selbst fremd geworden sind. Manche nur ein wenig, nur gelegentlich, nur in mancher Hinsicht. Andere hat das Sich-fremd-Sein bis in den Grund ihres Daseins ergriffen und bestimmt ihr Leben. Von Menschen werden wir berichten, die uns begegnet sind, von Menschen, deren Leben in Romanen beschrieben wurden, und von prominenten Persönlichkeiten wie Romy Schneider und Karl May, die ihr Leben lang vom Sich-fremd-Sein bestimmt wurden und einen Weg suchten, in sich zu wohnen. Sich-fremd-Sein und In-sich-Wohnen sind nicht nur kurzzeitige Gefühle, sondern langfristige Prozesse des Erlebens. Wir werden deshalb besonderen Wert darauf legen, zu untersuchen und zu beschreiben, wie sich diese Prozesse in längerfristigen Entwicklungen des Lebens einzelner Menschen ausgedrückt haben. Wir werden dabei in einigen Passagen unseres Buches aus Fremdund Selbstzeugnissen dieser Menschen zitieren. Wir haben sie so ausgewählt und zusammengestellt, wie sie unserer Meinung nach dem beschriebenen Menschen und dem Thema des Sich-fremd- Seins und In-sich- Wohnens gerecht werden. Sie werden in diesem Buch verschiedenen Qualitäten, sich fremd zu sein, begegnen. Und Sie werden entdecken, dass in jedem Menschen, von dessen Sichfremd-Sein wir berichten, auch eine Erzählung darüber VORBEMERKUNG 9
4 steckt, wie dieser Mensch, beharrlich und manchmal verzweifelt, darum kämpft, sich wohnlich in sich einzurichten. Ihr Erleben und Fühlen beschreiben Menschen zumeist mit ähnlichen Begriffen. Das Gefühl oder die Vorstellung, in sich zu wohnen, wird oft verbunden mit dem Erleben von Glück, Gelassenheit, Selbstsicherheit und Selbstbewusstsein, Zufriedenheit, Klarheit und Ausgeglichensein. Sich fremd zu fühlen ist oft verknüpft mit Unsicherheit, Unausgeglichenheit, Orientierungslosigkeit, Verständnislosigkeit für sich selbst und Einsamkeit. Das Verlorensein und das Sich-fremd-Sein werden ähnlich erlebt und überlappen sich häufig. Wir haben erfahren und überprüft, dass KlientInnen genau zu unterscheiden wissen, ob sie ihr Gefühl als Verlorensein oder als Sich-fremd-Sein bezeichnen. Es fühlt sich für die meisten unterschiedlich an. Ähnliches gilt für Insich-Wohnen und Geborgenheit. Wir werden deshalb irgendwann diesem Band einen Band über das Verlorensein und die Geborgenheit folgen lassen, auch auf die Gefahr hin, dass sich manche Aspekte überschneiden. Sich fremd sein, in sich wohnen sind das überhaupt Gefühle? Wir meinen: Ja. Menschen können sich fremd oder heimisch fühlen. Andererseits gehen diese Erfahrungen über ein Gefühl hinaus, können unbestimmter als ein Gefühl wahrgenommen werden, sind Empfindungen, die den ganzen»leib«, den ganzen sich erlebenden Menschen ergreifen. In der Fachsprache der Leibphilosophie und der Kreativen Leib therapie sagen wir zu einem solchen Zustand eigentlich eher Befinden. Aber diese Unterscheidung soll uns im Weiteren nicht 10 VORBEMERKUNG
5 interessieren. Denn wichtiger als diese Frage scheint uns zu sein, dass viele Menschen darunter leiden, sich fremd zu sein, dass sie sich danach sehnen, mehr in sich zu wohnen. Den damit verbundenen Gefühlen begegnen wir in unserer therapeutischen Praxis häufig. Deswegen widmen wir diesen beiden»auch-gefühlen«einen Band in der Reihe der Bibliothek der Gefühle. Im Schlusskapitel dieses Buches werden wir zusammenfassen, was Menschen auf dem Weg zum In-sich- Wohnen hilft. Wir haben, wie Sie lesen werden, unterschiedliche Menschen befragt, die das Gefühl des Sich-fremd-Seins und die Sehnsucht nach dem In-sich- Wohnen miteinander teilen. Wir haben viele nach den Gemeinsamkeiten und Besonderheiten dieser Gefühle befragt und uns erkundigt, was ihnen geholfen hat und was ihnen hilft, sich in sich wohnlich einzurichten. Wir wollen Ihnen nun die Ergebnisse vorstellen. Wir wünschen uns, dass die Lektüre Ihnen Anregungen gibt, auf Ihrem Weg, in sich heimisch zu werden, fortzuschreiten. VORBEMERKUNG 11
Ich werf mich auf mein Lager hin Und liege lange wach Und suche es in meinem Sinn Und sehne mich darnach.«
Vorwort»Sehnsucht ist Schmalz im Kopf«, hören wir in einer Rede auf einer PsychotherapeutInnen-Tagung. Sofort regt sich in uns Protest gegenüber diesem Satz, der in unseren Ohren abwertend klingt und sicherlich
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