Heinz Müller-Pozzi. Psychoanalytisches Denken

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2 Heinz Müller-Pozzi Psychoanalytisches Denken

3 Weitere Werke zu Psychoanalyse und Tiefenpsychologie im Verlag Hans Huber: Anneliese Heigl-Evers und Brigitte Boothe: Der Körper als Bedeutungslandschaft Die unbewusste Organisation der weiblichen Geschlechtsidentität 2. überarb. Aufl., mit einem Nachwort von Bernd Nitzschke 214 Seiten (ISBN X) Manfred Pohlen und Margarethe Bautz-Holzherr Eine andere Psychodynamik Psychotherapie als Programm zur Selbstbemächtigung des Subjekts Mit CD-ROM. 551 Seiten (ISBN ) Christa Rohde-Dachser Das Borderline-Syndrom 6. korrigierte Auflage 267 Seiten (ISBN ) Christa Rohde-Dachser Im Schatten des Kirschbaums Psychoanalytische Dialoge 208 Seiten (ISBN ) Hanni Salvisberg /Michael Stigler / Verena Maxeiner (Hrsg.) Erfahrung träumend zur Sprache bringen Grundlagen und Wirkungsweise der Katathym imaginativen Psychotherapie 240 Seiten (ISBN ) Harald Ullmann (Hrsg.) Das Bild und die Erzählung in der Psychotherapie mit dem Tagtraum Zwölf Fallgeschichten Mit einem Geleitwort von Helm Stierlin und einem Essay des Herausgebers 368 Seiten (ISBN )

4 Heinz Müller-Pozzi Psychoanalytisches Denken Eine Einführung Dritte erweiterte Auflage 2 Verlag Hans Huber Bern Göttingen Toronto Seattle

5 Für den Umschlag wurde das Bild der Vorderseite eines Sarkophages verwendet, der sich im Athener Nationalmuseum befindet (Kat.-Nr. 159). Das Bild wurde dem Tafelband zu Oedipe, la Sphinx et les Thébains von Jean-Marc Moret entnommen (Bibl. Helv. Romana, Bd. 23, 1984). Adresse des Autos: Dr. Heinz Müller-Pozzi Rigistr. 27b CH-8006 Zürich Die Deutsche Bibliothek CIP-Einheitsaufnahme Müller-Pozzi, Heinz: Psychoanalytisches Denken : eine Einführung / Heinz Müller-Pozzi. 3., erw. Aufl.. Bern ; Göttingen ; Toronto ; Seattle : Huber, 2002 ISBN Lektorat: Dr. Peter Stehlin Herstellung: Daniel Berger Anregungen und Zuschriften bitte an: Verlag Hans Huber, Länggass Strasse 76, CH-3000 Bern 9 Tel: 0041 (0) / Fax: 0041 (0) verlag@hanshuber.com / Internet: 1. Nachdruck 2009 der 3., erweiterten Auflage / 1995 / 2002 by Verlag Hans Huber, Bern Druck: Hubert & Co, Göttingen Printed in Germany Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen sowie die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

6 Inhalt Einleitung Teil I: Die psychoanalytische Situation als Darstellung psychischer Wirklichkeit 1. Das Setting, die freie Assoziation und die gleichschwebende Aufmerksamkeit Übertragung und Konflikt: Die negative Übertragung Übertragung und Konfliktverarbeitung: Der Übertragungswiderstand 16 A. Der Übertragungswiderstand als Ausdruck der inneren Arbeit am Konflikt 16 B. Entracte: Vom Verdrängungswiderstand zum Übertragungswiderstand 19 C. Abwehr und Widerstand: Vom verinnerlichten Konflikt zum Übertragungskonflikt 20 D. Die analytische Arbeit am Widerstand: Ein klinisches Beispiel Übertragung und Arbeitsbündnis: Die positive Übertragung Psychoanalytische Haltung und Empathie Die Gegenübertragung Deuten 40 A. Deuten und Einsehen 40 B. Entracte: von der Traumanalyse zur Übertragungsanalyse 41 C. Deuten und Durcharbeiten Psychoanalytische Situation, Sprache und die Konzepte der psychoanalytischen Theorie 49 Teil II: Das Unbewußte und die Sinnlichkeit 1. Das Unbewußte, der Primärprozeß und die Verdrängung 53 A. Die Entmystifizierung des Unbewußten 53 B. Das Vorbewußte und das dynamisch Unbewußte: Das topische Modell 55 5

7 C. Die Wörter und die Sachen: Die Entstehung des Unbewußten 57 D. Die zwei Funktionsweisen des psychischen Geschehens 60 Das Bewußtsein und der Sekundärprozeß 60 Das Unbewußte und der Primärprozeß Entreacte: Das Ich und das Es oder Freud und die Ich-Psychologie Trieb und Objektbeziehung: Die psychoanalytische Trieblehre 72 A. Die Triebtheorie als Theorie der Leidenschaft 72 Sinnlichkeit und Trieb 72 Das psychoanalytische Triebverständnis und das Konzept des Wunsches 74 Struktur und Dynamik: Repräsentanz und Besetzung 79 B. Die Dynamik der Triebe: Libido 81 Sinnlichkeit als Empfindsamkeit mit Bedeutung 81 Körper und sinnliche Lust: Die libidinösen Affektqualitäten 82 Oralität und primäre Objektliebe 82 Analität und Willkür 85 Frühe Genitalität und Sensation 87 Leidenschaft und Liebe oder das Verhältnis von Triebbefriedigung und Objektbesetzung 92 C. Entracte: Annäherung an die Aggression. Bemerkungen zur Entwicklung der Triebtheorie 97 D. Die Dynamik der Triebe: Aggression 104 Von der Schwierigkeit, Aggression als Trieb zu fassen 104 Aggressive Befriedigung 106 Die Motilität als Wurzel der Aggression 107 Der primitive Liebesimpuls und die erbarmungslose Liebe 108 Die reine Aggression und die Funktion des Hasses 110 Ambivalenz und Triebmischung 113 Die Entwicklung der Aggression 115 Orale Aggression 115 Anale Aggression 117 Phallische Aggression 119 Triebentmischung und Destruktivität: Ein klinisches Beispiel 119 Teil III: Der Aufbau der psychischen Wirklichkeit Zur Einleitung Die Dyade Separation Triangulierung Individuation: Die psychische Geburt des Menschen 128 A. Von der Dyade zur Triade 129 6

8 B. Die frühe Triangulierung, die Bedeutung des Vaters und das Übergangsobjekt 129 C. Loslösung und Wiederannäherung: Die Dialektik der Trennung und die Objektkonstanz 132 D. Die Urszene und die Fähigkeit allein zu sein 135 E. Liebe und Narzißmus im Aufbau des Selbst 137 Die Selbstobjekt-Beziehung 137 Entracte: Annäherung an das sexuelle Selbst und der Narzißmus. Bemerkungen zur Entwicklung der Triebtheorie 138 Dyade und primärer Narzißmus und Oralität 140 Die Bedeutung der Triebobjekt-Beziehung für Selbstbild und Selbstgefühl 141 Die Bedeutung der Selbstobjekt-Beziehung für Selbstbild und Selbstgefühl Die ödipale Situation 145 A. Von der präödipalen zur ödipalen Triangulierung 145 B. Das Wesen der ödipalen Situation 148 C. Eine ödipale Geschichte 150 D. Das Schwinden des Ödipus und der Aufbau der ödipalen Struktur 152 Von der Anlehnung zur reinen Triebbefriedigung 153 Der Inzest mit der Mutter: Wunsch und Verbot 155 Die Aneignung des Phallus: Kastrationswunsch und Kastrationsangst 157 Der Untergang des Ödipuskomplexes und die Verdrängung 162 Der Weg ins Freie: Die Etablierung des Überich und die Emanzipation von den Eltern 165 Besetzungskonstanz, Genitalität und Liebe 168 Teil IV: Zwei Ebenen der psychischen Konfliktverarbeitung 1. Ödipale Struktur und Gegenbesetzung 171 A. Verdrängung und Gegenbesetzung 172 B. Ein klinisches Beispiel von Abwehr durch Gegenbesetzung Die Struktur der Trennung und die Spaltung 183 A. Spaltung, Verleugnung und Projektion 183 B. Ein klinisches Beispiel von Abwehr durch Spaltung 187 Zum Abschluß 190 Teil V: Ein Plädoyer für die Triebtheorie Prolegomena zu einer neuen Formulierung der psychoanalytischen Triebtheorie 192 Die Bedeutung der Kastration und die Differenz der Geschlechter 194 7

9 Der ödipale Konflikt als Kernkomplex der Neurose 195 Bindung, Narzissmus und Objektbeziehung 196 Der psychoanalytische und der medizinische Diskurs: Zum Verhältnis von Psychoanalyse und Psychotherapie 199 Vom Gebrauch der Übertragung im hoch- und niederfrequenten psychoanalytischen Arbeiten 200 Anhang Literaturverzeichnis zu den beiden ersten Auflagen 205 Literaturverzeichnis zu den Ergänzungen der dritten Auflage 209 Sachregister 211 Personenregister 215 8

10 Einleitung Psychoanalyse ist die Lehre vom unbewußt Psychischen, die Sigmund Freud ( ) begründet und als erster ausgearbeitet hat. Ausgehend von Freuds monumentalem Werk hat sich die Psychoanalyse zu einer geistigen Bewegung entfaltet, welche die Kultur des zwanzigsten Jahrhunderts nachhaltig prägt. Nicht nur hat sie die Psychotherapie revolutioniert und der Psychiatrie und Psychologie völlig neue Perspektiven eröffnet, sondern hat darüber hinaus auch der Literatur und Kunst wesentliche Impulse vermittelt. Das Verständnis von Zivilisation, Gesellschaft, Kultur und Kunst hat sich durch die Berücksichtigung ihrer unbewußten Wurzeln entscheidend verändert und erweitert. In ihrem Kern aber ist und bleibt die Psychoanalyse eine Theorie des psychischen Funktionierens, die auf den klinischen Erfahrungen in einer ganz spezifischen Beziehung beruht, die wir die psychoanalytische Situation nennen. Was Psychoanalyse ist, hat Freud einmal so umrissen: "Psychoanalyse ist der Name 1) eines Verfahrens zur Untersuchung seelischer Vorgänge, welche sonst kaum zugänglich sind; 2) einer Behandlungsmethode neurotischer Störungen, die sich auf diese Untersuchung gründet; 3) einer Reihe von psychologischen, auf solchem Wege gewonnenen Einsichten, die allmählich zu einer neuen wissenschaftlichen Disziplin zusammenwachsen." Und er präzisiert: Die Annahme unbewußter seelischer Vorgänge, die Anerkennung der Lehre vom Widerstand und der Verdrängung, die Einschätzung der Sexualität und des Ödipus-Komplexes sind die Hauptinhalte und die Grundlage ihrer Theorie,.." (Freud 1923a, 211 u. 223). Psychoanalyse ist, um dasselbe in moderneren Begriffen zu sagen, 1. eine Erkenntnismethode unbewußter psychischer Prozesse, 2. eine Methode der Verarbeitung psychischer Konflikte und 3. eine psychologische Theorie des psychischen Lebens und Erlebens, vor allem deren unbewußter Anteile. Kurz, Psychoanalyse ist eine einzigartige Möglichkeit, die psychische vorab unbewußte Wirklichkeit des Menschen zu verstehen. Sie ist eine Methode der Interpretation, und steht damit der Hermeneutik, der Auslegung von Texten, näher als den experimentellen Methoden der empirischen Psychologie. Das sollten die Psychoanalytiker und ihre in experimenteller Psychologie geschulten Kritiker wissen und ernst nehmen. Die Psychoanalyse kann nicht mit der Verhaltenspsychologie konkurrieren, und sie kann nicht an deren Kriterien gemessen werden, weil sie sich auf einer anderen Ebene bewegt. 9

11 Die beste Einführung in die Psychoanalyse ist nach wie vor Freuds Werk selber. Freud hat eine wissenschaftliche Prosa geschrieben, die ihresgleichen sucht und jedem interessierten Leser zugänglich ist. Das Vergnügen, Freud zu lesen, sollte sich niemand entgehen lassen, der sich mit Psychoanalyse zu beschäftigen beginnt. Ja, die Lektüre Freuds ist eine Voraussetzung jeder ernsthaften Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse. Seine Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse" ( ) sind noch immer ein geeigneter Einstieg. Zudem gibt es gute Einführungen in sein Werk, z. B. von Brenner (1979) und Robert (1967), um nur zwei Standardwerke zu nennen. Die Psychoanalyse hat sich in den gut hundert Jahren ihres Bestehens in verschiedene Richtungen weiterentwickelt, und es haben sich unterschiedliche psychoanalytische Arbeits- und Denkstile herausgebildet (Eagle 1988; Kutter 1989; Mertens 1990 a; Segal 1983; Widmer 1990). Aber nicht in diese Vielfalt will ich einführen, sondern einem Weg psychoanalytischen Denkens folgen, dessen Angelpunkt der psychische, oder, wie die Psychoanalytiker gerne sagen, der verinnerlichte Konflikt" und seine psychische Bearbeitung ist. Als klinische Praxis ist Psychoanalyse eine Möglichkeit, innere Konfliktlösungsstrategien zu verändern. Die psychoanalytische Theorie ist ein Versuch, diese Prozesse begrifflich zu fassen. Was das konkret heißen kann, soll in den einzelnen Kapiteln unter verschiedenen Gesichtspunkten entfaltet werden. 10

12 Teil I: Die psychoanalytische Situation als Darstellung psychischer Wirklichkeit 1. Das Setting, die freie Assoziation und die gleichschwebende Aufmerksamkeit Die unbewußte Wirklichkeit entzieht sich per definitionem der unmittelbaren Verfügbarkeit des Menschen. So will ich als erstes die psychoanalytische Situation skizzieren. Sie ist der klassische Erfahrungsbereich, den sich die Psychoanalyse geschaffen hat, um unbewußtes Geschehen faßbar zu machen. Der äußere Rahmen der psychoanalytischen Situation das Setting, wie die Psychoanalytiker sagen ist denkbar einfach. Zwei Menschen, Analysand und Analytiker, treffen sich im Sprechzimmer des Analytikers, in der klassischen" hochfrequenten Langzeitanalyse in der Regel viermal die Woche über einige Jahre. Der Analysand liegt auf einer Couch, der Analytiker sitzt hinter ihm, am Rande oder außerhalb des Blickfeldes des Analysanden. Eine ungewöhnliche, ja befremdliche Gesprächssituation. Mehr als ein Gespräch findet jedoch, äußerlich gesehen, nicht statt. Dieses Gespräch aber, der analytische Diskurs, folgt recht ungewöhnlichen Regeln. Der Analytiker ermuntert den Analysanden, alles zu sagen, was ihm durch den Kopf geht, ohne seine Gedanken zu sortieren und der üblichen rationalen Kontrolle und Bearbeitung zu unterziehen. Freud hat diese nicht selektive Art des Sprechens freie Assoziation" genannt. Der Analytiker hört mit gleichschwebender Aufmerksamkeit" zu, d. h. ohne sein Augenmerk vorerst auf etwas Bestimmtes zu richten und das Material so nennen die Psychoanalytiker etwas unschön die Produktionen des Analysanden in der analytischen Situation zu bewerten. Die psychoanalytische Situation ist jedoch mehr als eine äußere Anordnung, und freie Assoziation und gleichschwebende Aufmerksamkeit sind mehr als eine Gesprächstechnik. Das Setting ist der Rahmen, freie Assoziation und gleichschwebende Aufmerksamkeit sind das Medium des analytischen Prozesses, der unbewußtpsychische Wirklichkeit in einer Interaktion abbildet. Diese eigentümliche Art, miteinander zu reden, schafft eine hoch spezifische Beziehungsdynamik, die in die tiefsten Schichten der Person hineinreicht. Das Unbewußte des Analytikers so hat es Freud einmal ausgedrückt kommuniziert mit dem Unbewußten des Analysanden. Der psychoanalytische Diskurs ist auf weiten Strecken die gemeinsame Reflexion dessen, was sich innerhalb dieser Beziehung abspielt. Reflexion ist an Sprache gebunden. Die beiden Teilnehmer setzen die unbewußten Vorstellungen und Affekte, 11