Kapitel 6. Exponentialfunktion
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- Florian Sommer
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1 Kapitel 6. Exponentialfunktion 6.1. Potenzreihen In Kap. 4 haben wir Reihen ν=0 a ν studiert, wo die Glieder feste Zahlen sind. Die Summe solcher Reihen ist wieder eine Zahl, z.b. die Eulersche Zahl e. Nun erweitern wir unsere Überlegungen auf den Fall, wo die Glieder Funktionen sind. Dies wird uns erlauben, vielfältige neue Klassen von Funktionen zu produzieren. Wir beschränken uns dabei auf den wichtigsten Fall von Potenzreihen. Deren Theorie versteht man am besten, wenn man sie im Komplexen betrachtet. 1
2 Die Variable z steht im folgenden für eine komplexe Zahl. Definition. Es sei (a ν ) eine Folge komplexer Zahlen. Dann nennt man a ν z ν ν=0 eine Potenzreihe (mit Mittelpunkt 0). Allgemeiner ist a ν (z z 0 ) ν ν=0 eine Potenzreihe mit Mittelpunkt z 0 C. Für unsere theoretischen Erwägungen genügt es, Potenzreihen mit Mittelpunkt 0 zu betrachten. Man beachte, dass die Partialsummen s n (z) = n ν=0 a νz ν Polynomfunktionen sind. 2
3 Wir klären zuerst, auf welchem Bereich von Zahlen z die Potenzreihen konvergieren. Vage Anschauung: Wenn die Beträge a ν der Koeffizienten mit ν rasch klein werden, konvergiert die Reihe für ziemlich grosse z. Wenn die Beträge a ν mit ν rasch anwachsen, so wird die Reihe nur für sehr kleine z konvergieren. 3
4 Das genaue Konvergenzverhalten wird durch folgenden wichtigen Satz beschrieben. Satz. 1. Jede Potenzreihe ν=0 a νz ν besitzt einen wohlbestimmten Konvergenzradius ρ in [0, ] mit folgender Eigenschaft: Für z < ρ ist die Reihe absolut konvergent und für z > ρ divergent. 2. Der Konvergenzradius ρ hat den Wert ρ = lim a ν ν a ν+1 = 1 lim ν ν a ν, sofern diese Grenzwerte existieren. (Hier soll symbolisch 1/0 :=, 1/ := 0 gesetzt werden.) 4
5 Der offene Konvergenzbereich B ρ := {z C z < ρ} ist eine Kreisscheibe in der komplexen Zahlenebene mit Mittelpunkt 0 und Radius ρ. i IR C B ρ ρ 0 IR Abbildung 1: Konvergenzbereich von Potenzreihen. 5
6 Das Konvergenzverhalten auf dem Rand von B ρ kann vielfältig und kompliziert sein. Hierzu nur zwei einfache Beispiele. Beispiel. 1. Der Konvergenzradius der geometrischen Reihe ν=0 zν ist gleich ρ = 1. Die Reihe divergiert in allen Randpunkten z = Die Potenzreihe ν=0 zν ν 2 hat den Konvergenzradius ρ = lim ν ( ) 2 ν + 1 = 1. (In der Tat ist auch lim ν ν ν 2 = 1.) Die Reihe konvergiert in allen Randpunkten z = 1 nach dem Majorantenkriterium. ν 6
7 Potenzreihen stellen in ihrem Konvergenzbereich beliebig schöne Funktionen dar. Insbesondere sind sie stetig: Satz. Eine Potenzreihe ν=0 a νz ν definiert auf ihrem offenen Konvergenzbereich B ρ eine stetige Funktion: f : B ρ := {z C z < ρ} C, f(z) := a ν z ν. ν=0 7
8 Als unmittelbare Folgerung erhalten wir a 0 = f(0) = lim z 0 f(z). Aus dieser Beobachtung schliesst man induktiv ähnlich wie früher das folgende. Folgerung. (Identitätssatz für Potenzreihen) Eine Potenzreihe mit positivem Konvergenzradius bestimmt ihre Koeffizienten eindeutig. 8
9 6.2. Exponentialfunktion Wir betrachten nun das wichtige Beispiel der Exponentialreihe z ν ν! = 1 + z + z2 2 + z3 6 + z Wegen ν=0 a ν a ν+1 = (ν + 1)! ν! besitzt sie den Konvergenzradius. Folgerung. Die Exponentialreihe definiert eine stetige Funktion genannt Exponentialfunktion. = ν + 1 (ν ) exp : C C, exp(z) = ν=0 z ν ν!, 9
10 Die Exponentialfunktion erfüllt eine fundamentale Identität oder Funktionalgleichung. Satz. (Funktionalgleichung) Für beliebige z 1, z 2 C gilt exp(z 1 + z 2 ) = exp(z 1 ) exp(z 2 ). 10
11 Offensichtlich hat die Exponentialfunktion mit der Eulerschen Zahl e zu tun: es gilt e = exp(1) = ν=0 1 ν!. Die Namensgebung der Exponentialfunktion wird nun auch verständlich. Satz. Für beliebiges rationales x = m/n Q, mit m, n Z und n > 0, gilt exp(x) = n e m = e m/n = e x. 11
12 Somit ist die Exponentialfunktion eine stetige Fortsetzung der zunächst nur für rationale x definierten Funktion x e x auf die ganz C. Naheliegenderweise definieren wir für z C und verwenden beide Schreibweisen. e z := exp(z) Die Funktionalgleichung erhält dann die folgende Form: e z 1+z 2 = e z1 e z 2. 12
13 Der nächste Satz beschreibt das Verhalten der Exponentialfunktion auf der reellen Achse. e y y = exp(x) 1 1 x Abbildung 2: Graph der reellen Exponentialfunktion. 13
14 Satz. 1. Die Exponentialfunktion bildet die reelle Achse R bijektiv und streng monoton auf die positive reelle Achse ]0, [ ab. Insbesondere gilt e x > 0 für x R und lim x ex = 0, lim x ex = 2. Die Exponentialfunktion wächst für x schneller als jede feste Potenz von x. D.h. für jedes feste n N gilt lim x e x x n =. 14
15 6.3. Logarithmusfunktion Nach dem vorangehenden Satz besitzt die Einschränkung von exp auf R eine Umkehrfunktion log := exp 1 : ]0, [ R, die man die (natürliche) Logarithmusfunktion nennt. 1 y y = log(x) 1 e x Abbildung 3: Graph der Logarithmusfunktion. 15
16 Es gilt also log(e x ) = x und e log y = y. Man schreibt auch oft auch ln statt log und spricht vom Logarithmus zur Basis e. Der folgende Satz fasst die wichtigsten Eigenschaften der Logarithmusfunktion zusammen. Er ist eine unmittelbare Konsequenz des vorigen Satzes über die reelle Exponentialfunktion und dem Satz über die Umkehrfunktion. Satz. Die Logarithmusfunktion bildet ]0, [ bijektiv und streng monoton auf R ab. Insbesondere gilt lim log y =, lim y 0 Ferner erfüllt log die Funktionalgleichung log y =. y log(y 1 y 2 ) = log y 1 + log y 2. 16
17 Mit Hilfe der Logarithmusfunktion können wir Potenzen a x für beliebiges reelles a > 0 und x R definieren. Für rationale x = m/n Q, mit m, n Z und n > 0 ist a x = a m n = n a m bereits erklärt. Mit der Funktionalgleichung von log folgt mit Induktion log a m = m log a. Damit schliesst man n log a m n = log(a m n ) n = log(a m ) = m log a, also log a m n = m n Für einen rationalen Exponenten x gilt deshalb a x = e x log a. log a. 17
18 Wir definieren nun einfach die Potenz a x für a > 0 und einen beliebigen reellen Exponenten x durch die Gleichung a x = e x log a. Man sieht leicht, dass die üblichen Regeln für das Rechnen mit Potenzen gültig bleiben. Satz. Für a, b > 0 und x, y R gilt: 1. log(a x ) = x log a, 2. a x+y = a x a y, 3. (a x ) y = a xy, 4. a x b x = (ab) x. 18
19 Man nennt die Funktion R ]0, [, x a x die Exponentialfunktion zur Basis a > 0. Die Funktion (0, ) ]0, [, t t α heisst (allgemeine) Potenzfunktion zum Exponenten α R. Offensichtlich sind beides stetige Funktionen. 19
20 Schliesslich halten wir noch eine Aussage über die Langsamkeit der Konvergenz gegen der Logarithmusfunktion fest. Satz. Für α > 0 gilt lim y log y = 0, lim yα y 0 yα log y = 0. In Worten: log y geht für y langsamer gegen als jede noch so kleine positive Potenz von y. Ferner geht log y für y 0 so langsam gegen, dass log y von jeder noch so kleinen positiven Potenz y α 0 kompensiert wird. 20
21 6.4. Winkelfunktionen Die Einschränkung der komplexen Exponentialfunktion auf die reelle Achse führte uns zu Logarithmus und allgemeiner Potenzfunktion. Wir werden sehen, dass sich aus der komplexen Exponentialfunktion auch die Winkelfunktionen Sinus und Cosinus ableiten lassen. Dazu untersuchen wir die Exponentialfunktion auf der imaginäre Achse. Wegen der Stetigkeit der komplexen Konjugation gilt e z = lim n n ν=0 z ν ν! = lim n n ν=0 z ν ν! = ez. 21
22 Für reelles ϕ folgt deshalb e iϕ 2 = e iϕ e iϕ = e iϕ e iϕ = e 0 = 1, also e iϕ = 1, ϕ R. Die sogenannte cis-funktion cis : R C, ϕ e iϕ bildet daher R stetig in den Einheitskreis S 1 := {z C z = 1} der komplexen Ebene ab. 22
23 Zunächst definieren wir rein formal die auf R stetigen reellen Funktion Cosinus und Sinus durch cos ϕ := Re(e iϕ ) = eiϕ + e iϕ 2 sin ϕ := Im(e iϕ ) = eiϕ e iϕ. 2i Dies sind die berühmten Eulerschen Formeln; sie lassen sich zusammenfassen zu e iϕ = cos ϕ + i sin ϕ, ϕ R. Wegen e iϕ = 1 gilt cos 2 ϕ + sin 2 ϕ = 1, ϕ R. 23
24 Aus der Reihenentwicklung e iϕ = 1 + iϕ + i2 ϕ 2 2! + i3 ϕ 3 3! +... ergeben sich durch Trennung von Real- und Imaginärteil die für alle ϕ R konvergenten Potenzreihen cos ϕ = 1 ϕ2 2! + ϕ4 4! ϕ6 6! +..., sin ϕ = ϕ ϕ3 3! + ϕ5 5! ϕ7 7!
25 Die Kreiszahl Pi Unser Ziel ist der folgende fundamentale Satz: Satz. Es gibt eine wohlbestimmte reelle Zahl π mit 3 < π < 3.2, so dass cis das Intervall [0, 2π[ bijektiv und stetig auf den Einheitskreis S 1 abbildet. Ausserdem gilt cis(2π) = e 2πi = 1. Dass die im Satz auftretende Zahl π diejenige ist, die man aus dem Geometrieunterricht kennt, werden wir gleich sehen. Man beachte, dass die obige Gleichung die drei fundamentalen mathematischen Konstanten e, π und i = 1 auf erstaunlich einfache und elegante Weise verknüpft! 25
26 Wir schliessen, dass cis : R S 1 die Periode 2π hat: cis(ϕ + 2π) = cis(ϕ) für ϕ R. Dies sieht man sofort aus e i(ϕ+2π) = e iϕ e 2πi = e iϕ. 26
27 Beweis des Satzes 1. Wir zeigen zunächst, dass die Sinusfunktion auf ] 1, 1[ streng monoton wächst. Weil wir Ableitungen noch nicht besprochen haben, machen wir das zu Fuss mit der Reihenentwicklung von Sinus. 27
28 2. Für 0 < ϕ < 1 sind die Potenzreihen für Cosinus und Sinus alternierend: Das Leibnizsche Konvergenzkriterium liefert daher die Ungleichungen cos ϕ > 1 ϕ2 2 > 0, sin ϕ > ϕ ϕ3 6 > 0. Hieraus schliessen wir sin 3 4 < 1 2, sin 4 5 > 1 2. Wegen der Monotonie und dem Zwischenwertsatz gibt es genau eine reelle Zahl π mit 3 4 < π 4 < 4 5, sin π 4 = 1. 2 Es folgt dann cos π 4 = 1 2 und cis ( ± π ) 4 = 1 2 (1 ± i). 28
29 Durch Quadrieren von cis ( ± π ) 4 = 1 2 (1 ± i). erhalten wir die Formeln Ausserdem ist 3 < π < 3.2. e i π 2 = 1 2 (1 + i)2 = i, e iπ = 1, e 2πi = 1. 29
30 Mit dem Zwischenwertsatz folgt, dass cis das Intervall [ π 4, π 4 ] bijektiv auf den Viertelkreis mit Scheitel 1 abbildet. i 1/ 2 1+i 2-1 1/ i -i 2 Abbildung 4: Definition der Zahl π. 30
31 3. Um den Beweis zu vollenden, genügt es zu zeigen, dass cis das Intervall [ π 4, 3π 4 bijektiv auf den Viertelkreis mit Scheitel i abbildet ] ], [ 5π 4, 7π 4 ], [ 7π 4, 9π 4 ] bijektiv auf die Viertelkreise und analog die Intervalle [ 3π 4, 5π 4 mit den Scheiteln 1, i, 1 abbildet, wobei jedesmal der Intervallmittelpunkt in den Scheitel übergeht. Dies folgt aus der Beobachtung cis(t + π 2 ) = ei π 2 cis(t) = i cis(t) und aus der Tatsache, dass z iz eine Vierteldrehung in der komplexen Zahlenebene bewirkt. 31
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