Kinästhetics. und. LiN. Widerspruch oder sinnvolle Ergänzung?

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1 JOSEF MARTIN Heinrich von Fleckensteinstrasse Kapsweyer 06340/1761 Mobil: Josef.martin@freenet.de Auszug: Praxisaufgabe Kinästhetics Stufe 3 Kinästhetics und LiN (Lagerung in Neutralstellung) Widerspruch oder sinnvolle Ergänzung? Zugegeben: Über 30 Jahre habe ich auch versucht, möglichst viele Decken und vor allem Kissen aus den Betten zu verbannen und jetzt packe ich mehr hinein, als ich je heraus geräumt habe. Und das, wie ich finde, mit gutem Grund. Ich weiß allerdings erst jetzt, nach der LiN Trainer Ausbildung was wann warum wie viel und vor allem: wohin. Schlecht platziert ist jedes Lagerungsmaterial kontraproduktiv! Seite 1 von 6

2 Nach meinen ersten Erfahrungen mit LiN war ich ganz begeistert, diese Ideen bei neurologischen Patienten anzuwenden. Jetzt entdecke ich immer mehr sinnvolle Anwendungsgebiete, z. B. in der Neurochirurgie, der Intensivmedizin, der Onkologie, bei Schmerzpatienten, auch bei Patienten nach Angiographien von der Leiste aus, die lange Zeit mit ausgestreckten Beinen liegen müssen u.s.w. Was ist LiN? Bei der Lagerung in Neutralstellung handelt es sich um eine von Heidrun Pickenbrock entwickelte Lagerungsmethode für schwer betroffene Patienten auf der Basis von neuro- muskulären Erkenntnissen. Die Konstitution des Patienten berücksichtigend wird so konsequent wie möglich übermäßige Verkürzung und Überdehnung von Muskeln vermieden. Dazu wird der Körper dort konsequent stabilisiert, wo ihm selbst Stabilität fehlt. So steht es im Flyer der LiN Trainer. Den Menschen wird eine Ruhelagerung mit individuellem Halt von außen angeboten, in der sie sich einfach einmal gehen lassen können, sie ihre innere Spannung herunterfahren können, damit sie sich selbst auch in Minimalbewegungen, die sie noch durchführen können, spüren und erfahren. Sieht man die derart gelagerten Patienten in ihren Betten oder Stühlen, könnte man den Eindruck gewinnen, der äußere Raum sei derart eingeschränkt, dass sie keine Bewegungsmöglichkeit mehr haben. Subjektiv wird diese Einengung nicht erfahren. Gerade Schwerbetroffene und für sie wurde LiN entwickelt brauchen zum Teil einen eingeschränkten äußeren Raum, um eine bessere Bewegungsmöglichkeit und Sicherheit zu erlangen, damit sie einen erweiterten, nutzbaren inneren Raum bekommen. Die dem Körper angepasste Unterlagerung wird in der Regel aus Steppdecken, Decken, festen Kissen oder Schaumstoff Packs konstruiert; diese Lagerungsmaterialien sind in sich relativ fest, bieten einen stabilen Halt. Dies ermöglicht Bewegungen mit geringer Anstrengung. Durch die gleichzeitig erreichte Verteilung des Körpergewichtes auf eine sehr Große Auflagefläche wird das Dekubitusrisiko minimiert. Seite 2 von 6

3 Menschen können nicht immer nur aktiv sein, sie brauchen auch Ruhephasen; Zeit, um sich zu erholen und wieder erlangte oder neu erworbene Fähigkeiten in zerebralen Strukturen zu festigen. Dazu benötigen sie eine bequeme Lagerung, die sie entspannen lässt, damit sie ggf. auch träumen können. Eine gute Körperhaltung in dieser Phase bereitet den Weg für eine weitere Aktivität. Die Bewegungen der Patienten bei der Lagerung können in Abhängigkeit von momentanen Bedürfnissen in allen Interaktionsformen durchgeführt werden, wie man das in der Kinästhetics auch bei anderen Aktivitäten unterstützt. Der funktionalen Anatomie kommt insbesondere bei Schwerbetroffenen oder bei halbseitig gelähmten Menschen auch und gerade beim Liegen eine zentrale Rolle zu: Alle Gelenke können durch sog. tonische Muskeln einfacher in einer guten Position gehalten (zentriert) werden, wenn sich das Gelenk in einer normalen, korrekten Stellung befindet. Diese Muskulatur wird durch den alltäglichen Gebrauch in normalen Positionen mit einem für uns nicht wahrnehmbaren Ruhetonus gehalten, mit dem das Gelenk für seine Funktion vorbereitet und geschützt wird. Dies gilt insbesondere für die Wirbelsäule. Ihre doppelte S Form wird durch eine Unzahl autonomer Muskeln und Muskelgruppen stabilisiert, damit sie ihre Federfunktion ausüben kann. Diese Muskeln der Wirbelsäule sind in ihrer Funktionalität abhängig von der Stellung des Beckens. Bei fehlender oder stark verminderter Muskelaktivität durch z. B. Lähmungen, Schwächezustände oder auch medikamentös bedingt (Sedativa, Muskelrelaxantien) wird diese Schutzfunktion außer Kraft gesetzt. Es kommt zu dezentralisierten Gelenken, welche die Patienten mitunter nicht selbst korrigieren können. Dies kann bei persistierender Fehlstellung zu Gelenkschäden und Schmerzen mit zunehmendem nicht angepasstem Muskeltonus führen. Bei Menschen, die sich nicht bewegen können oder dürfen, kommt es durch die Fehlhaltung rasch zu ausgeprägten Verspannungen und Schmerzen. Hier liegt ein Hauptaugenmerk der Lagerung in Neutralstellung: die individuelle Anatomie wird so weit als möglich unterstützt, damit Gelenke weitestgehend funktionstüchtig und schmerzfrei werden oder bleiben. So können während der Aktivitäten die Möglichkeiten der Haltungs- und Transportbewegungsebenen genutzt werden. In Fehlstellungen oder mit Schmerzen ist dies erschwert und macht auch wenig Sinn. Seite 3 von 6

4 Muskeln können nur dann effektiv arbeiten, wenn sie weder gedehnt noch voll angenähert sind. Dieser Zustand in einer Stellung dazwischen ist in Neutralstellung der Gelenke erreicht. Muskeln und die dazugehörigen Sehnen und Bänder beginnen sich nur dann zu verkürzen, wenn sie häufig unter viel Anspannung stehen. Kann sich der Muskel entspannen, ist die Gefahr der Verkürzung geringer. Um Bewegungen zu ermöglichen, scheint es sinnvoll, Zwischenräume frei zu lassen, hier keinen Halt zu geben. Wenn jedoch eine Ruhelagerung das Ziel ist, kann dies für die Gelagerten sehr entspannend und beruhigend wirken. Heidrun Pickenbrock hat in einer Studie die Zunahme der Beweglichkeit von Gelenken unter LiN nachgewiesen. Mit dem Lagerungsmaterial wird ein deutlicher Halt zu allen Seiten der Körperteile gefertigt. Dies schafft ein Geborgenheitsgefühl (ähnlich sie bei der Basalen Stimulation: Nest) Es schafft durch die Begrenzung des Körpers Orientierung, die sich bei jeder kleinen Bewegung erneuert. Köperteile, die an Rumpf oder Extremitäten ziehen (Bauch Brust, Fett oder Muskelmassen wo auch immer) werden so unterlagert, dass sie eine feste Auflagefläche erhalten. Patienten erhalten ein klares Gefühl, wo das Gewicht ist; es wird nicht durch Fehlinformationen gestört. Das Ziel der Ruhelagerung bei halbseitig gelähmten Patienten ist auch ein Wiedererlangen des Körperschemas. Dies wird unterstützt durch ein nach allen Richtungen paralleles Muster durch den gesamten Körper wie wir es auch haben, wenn wir ohne viel Anstrengung aufrecht stehen. Andere schwerbetroffene Patienten, die selbst keine Lagekorrektur vornehmen können, und Schmerzpatienten profitieren ebenfalls davon, da es zu weniger Verspannungen und damit Schmerzen kommt. Der Weg in Rückenlage vom flachen Bett zur LiN Lagerung beschreibt die gleiche Haltungsbewegung, die jeder macht, wenn er vom Stramm Stehen mit durchgedrückten Knien und aufgerichteter Wirbelsäule zum Locker Stehen kommt. Von dieser Position aus sind Bewegungen in alle Richtungen möglich. Menschen mit Lähmungen, Schmerzen, Sedierung mit teilweise relaxierenden Substanzen können oft keine oder nur unkontrolliert viel Muskelspannung für die innere Stabilität aufbauen. Diesen Halt, diese Stabilität wird bei LiN von außen gegeben. So braucht kein überschießend hoher Tonus aufgebaut Seite 4 von 6

5 zu werden. Dennoch besteht die Grundlage zur eigenen Bewegung. Unterstützt wird dies noch dadurch, dass auch die Anatomie und die Stellung der Körperabschnitte zueinander in Ausgangstellung für Aktivität stehen. Wenn Menschen die Lage von Körperteilen nicht verändern können, drücken oder ziehen diese am restlichen Körper, wenn sie nicht gut positioniert sind. Durch das Netzwerk von Ziehen und Drücken durch große Teile des Organismus entstehen Tonuserhöhungen der Muskulatur und Verschiebungen von Körperabschnitten. Dauerhaft erhöhter Muskeltonus führt zu dem bewegungshemmenden Verhärten der Muskeln und auf Dauer zum Umbau von Bewegungsmuskulatur in Haltemuskulatur. Nicht nur Massen wie Beine, Arme oder Kopf können Auslöser sein, auch Bauch oder Brust können an den zentralen Massen und Zwischenräumen derartige z. T. sehr schmerzhafte Folgen haben. Mit LiN versucht man, alle Körperteile mit möglichst geringem Ziehen oder Drücken der Körperabschnitte zueinander zu lagern. Menschen mit ausgeprägten Bewegungseinschränkungen befinden sich häufig in den Grundpositionen: Liegen auf Rücken, Bauchlage, Sitz und den davon abgeleiteten Positionen inkl. Seitenlage. Hier überall besteht die Möglichkeit soweit in Neutral zu lagern, dass Folgeprobleme zumindest gemindert werden können und die Menschen komfortabel Ruhen können. Bewegungen am Ort wie Nahrungsaufnahme, Atmung oder Ausscheidung können in der Regel nur dann erfolgreich und mit wenig Anstrengung durchgeführt werden, wenn die eingenommene Position zu der Aktivität passt, die in der Biographie verankert ist. Wird diese Position jedoch als instabil erfahren, werden sich zahlreiche Muskeln anspannen, damit ein Gefühl der Stabilität entsteht. Der Betroffene ist dann aber nur noch bedingt in der Lage, seine Tätigkeit auszuführen. Insbesondere die LiN-Lagerungen Sitz im Bett und Sitz im Stuhl bieten optimale Voraussetzungen für alle Bewegungen am Ort, die in diesen Positionen durchgeführt werden können. Für zahlreiche Menschen bedeutet dies wieder ein Stück wiedererlangte Selbstständigkeit und Lebensqualität. Es sind wesentlich Schritte in punkto Gesundheitsförderung. In LiN wird die Unterstützungsfläche der Betroffenen in jeder Position soweit mit Lagerungsmaterial anmodelliert, dass alle Körperteile gleichmäßig und Seite 5 von 6

6 vollständig unterlagert sind. Die Umgebung wird - wenn es Sinn macht - dem Menschen bis ins Detail angepasst. Resümee: Die Lagerungsideen, die ich bisher auch unter kinästhetischen Gesichtspunkten kennen gelernt habe, waren insbesondere darauf angelegt, Bewegung zu unterstützen. Dies ist in vielen Situationen sicher auch richtig und wichtig. Ich glaube jedoch, dass zu gegebener Zeit eine Ruhelagerung ebenso wichtig ist. Jedem Menschen sollte in seiner individuellen Lebenslage die individuell angepasste Unterstützung gegeben werden, dazu gehört für mich auch eine Lagerung, in der er Ruhe und Entspannung finden kann. Wohl wissend: Durch Lagerung lernt kein Mensch Gehen. Hier befindet sich dann wieder die Spielwiese von Kinästhetics. Seite 6 von 6