Unverkäufliche Leseprobe des Scherz Verlages. Gisela Graichen. Roms Grenzwall gegen die Barbaren

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1 Unverkäufliche Leseprobe des Scherz Verlages Gisela Graichen Limes Roms Grenzwall gegen die Barbaren Preis (D) 24,95 (A) 25,70 SFR 42,90 (UVP) 352 Seiten, Geb.mit SU ISBN Scherz Verlag Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bildern, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen. S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2008

2 Ohne Varus kein Limes K ein Ereignis hat die Phantasie und den Tatendrang so vieler Historiker, Archäologen und Heimatforscher in Deutschland angeregt wie die Varusschlacht, der»urknall«deutscher Geschichte. Die Schriften dazu und die verbissen geführten Streitereien der Gelehrten und noch mehr der Nicht-Gelehrten vor allem über die Lokalisierung der Schlacht gehen in die Tausende und sind nicht mehr überschaubar. Auffällig oft stimmt die vertretene Örtlichkeit mit dem Wohnsitz des jeweiligen Verfassers überein. Die große Ausstellung zum 2000-jährigen Jubiläum (s. Beitrag Schäfer)»Imperium Konflikt Mythos«gleich an drei verschiedenen Orten soll hier die Spreu vom Weizen trennen. Uns interessieren jedoch weder Mythos noch Armi nius-/ Hermann-der-Cherusker-Rezeption, auch nicht der Streit um die Lokalisierung der dreitägigen Kämpfe, sondern die (nicht nur militär-)politischen Folgen einer der verheerendsten Niederlagen Roms im saltus Teutoburgiensis (Tacitus). Grund für die heftigen bis heute andauernden Kontroversen um den Schauplatz des»blutigen Gemetzels«: Als im Jahr 1505 Tacitus Annalen wiederentdeckt wurden, gab es kein Gebirge dieses Namens. Wichtiger und historisch belegt ist allerdings der Ausgang. So viel ist sicher, vor 2000 Jahren stand die Varuskatastrophe im Brennpunkt der Geschichte. Die Menschen der damals bekannten Welt schauten auf den Kampfplatz irgendwo zwischen Rhein und Weser, der die Entscheidung über die politische Zukunft des freien Germanien brachte. Der strahlende Held war der junge, gerade 25-jährige Arminius, Cheruskerfürst und römischer Ritter, dem es gelang, die notorisch zerstrittenen Stämme zu vereinen. Sein Widersacher, der 54-jährige römische Legat Varus, zieht Ende September 9 n. Chr. mit drei Legionen, sechs Auxiliarkohorten, drei Alen Reiterei und einem gewaltigen zivilen Tross von seinem Sommerlager an der Weser Richtung Xanten am Rhein, um dort warm und gemütlich zu überwintern. Ein endlos langer Heerwurm kriecht durch die Landschaft. Arminius gelingt es unter einem Vorwand, ihn von der gesicherten Militärtrasse wegzulocken. Am Ende des Todesmarsches durchs Cheruskerland sind nach drei Tagen in Sturzregen und furchtbarem Sturm an die Menschen niedergemacht, die Legionsadler geraubt, die Offiziere auf Altären im sumpfigen Waldgebiet geopfert, die Totenschädel an die Bäume genagelt. Der verwundete Varus stürzt sich in sein Schwert, wie es sich für einen besiegten römi- 26 Gisela Graichen

3 schen Feldherrn gehört; man köpft ihn. Arminius sendet den Schädel wohl zusammen mit einem Bündnisangebot an den Zauderer unter den germanischen Führern Marbod, den Markomannenkönig. Der lehnt das Angebot ab und reicht den Kopf an den Kaiser weiter. Augustus fällt in tiefe Depressionen, lässt monatelang Bart und Haare wachsen, löst seine germanische Leibwache, die blonde Garde, auf. Die wenigen Überlebenden der Schlacht durften niemals wieder italienischen Boden betreten. Die Nummern der drei Elitelegionen wurden nicht mehr vergeben. Die Kastelle und Städte östlich des Rheins wurden aufgegeben, besenrein geräumt, so auch Waldgirmes an der Lahn. Roms Ostgrenze zu Germanien wurde nach einigen Strafexpeditionen an den Rhein zurückgenommen. Der Jahrzehnte währende Versuch, Germanien zu beherrschen, war endgültig gescheitert. Und doch: Im Landkreis Nordheim machten Archäologen einen sensationellen Fund: ein Schlachtfeld aus dem 3. Jh. n. Chr. Ein Beleg dafür, dass die Römer auch 200 Jahre nach der Varusschlacht noch große Militäraktio nen im freien Germanien durchführten. Sechseckiges Tintenfass, entdeckt in einem reich ausgestatteten Grab in Bad Breisig unweit des Rheinufers aus dem Jahrhundert. Das schachbrettartig verschiedenfarbig lierte Bronzefässchen steht auf kleinen kugeligen Füßen. Die Schreibfeder stammt aus dem vicus von Koblenz. Gegenüber von Bad Breisig, auf der rechten Rheinseite, begann der Obergermanisch- Raetische Limes. Rom und die Barbaren 27

4 Tacitus wird in seinem berühmten Nachruf Arminius den»befreier Germaniens«nennen, der das römische Weltreich nicht in seinen Anfängen, sondern in seiner höchsten Blüte herausforderte. Germanien blieb frei von römischer Herrschaft und von römischer Zivilisation und Kultur. Der römische Schriftsteller Plinius urteilte:»das Schicksal hat diese Stämme nur deswegen von der römischen Herrschaft verschont, um sie zu strafen.«manchem sind Thermen, Gladiatorenkämpfe, gepflasterte Straßen und ordentlich rechtwinklig angelegte Städte seien sie noch so laut, dreckig, stinkig wie Rom mit seinen sechs Stockwerk hohen Mietskasernen eben ein höheres Gut. Der Niederrhein war fortan für 400 Jahre die Grenze zwischen zwei ungleichen Nachbarn. Der»nasse Limes«(s. Beitrag Schäfer) wurde geschützt durch die Kastelle Nijmwegen, Xanten, Bonn und Köln. Erst südlich von Bad Breisig / Bad Hönningen wurden die Grenzen des Imperium Romanum landeinwärts wieder nach Osten verschoben. Und das auch erst 80 Jahre später. Der Weg vom Rhein zur Donau und die Grenzlinie verkürzten sich dadurch enorm. Die Landgewinne umfassten die besseren, ertragreicheren Gegenden Germaniens. Die sollten gesichert werden, denn nach wie vor war die germania libera ein Stachel im römischen Fleisch. Zur Kontrolle der Provinzen östlich vom Rhein und nördlich der Donau Obergermanien und Raetien wurde ein Bollwerk gegen das Barbaricum errichtet: der Obergermanisch-Raetische Limes. Roms Chinesische Mauer W ozu diente der Limes? Eine überraschende Antwort geben uns die neuen archäologischen Grabungen und naturwissenschaftlichen Forschungsergebnisse. Das Wort limes, Mehrzahl limites, bedeutet ursprünglich nicht mehr als eine»schneise«, ein Grenzweg, eine Kontrollzone. Schon Tibe - rius ließ nach der Varuskatastrophe breite, schnurgerade Bahnen zum Vormarsch seiner Legionen in die germanischen Wälder schlagen. Im Sinne einer militärisch besetzten Grenze verwendete erstmals Tacitus den Begriff. Später wurde daraus allgemein die Bezeichnung für die römische Demarka- 28 Gisela Graichen

5 tionslinie an den Außenrändern des Reiches in Britannien, den Donauprovinzen (s. Beiträge Prestel), dem Balkan (s. Beitrag Märtin) bis in den Orient und die Sahara. Die Scheidelinie eines Imperiums, das»an seine Grenzen«gekommen war. In Deutschland lag der Limes auf dem Gebiet der heutigen Bundesländer Rheinland-Pfalz, Hessen, Baden-Württemberg und Bayern. In seinem Endausbau erstreckte er sich hier über eine Länge von rund 550 Kilometern von Rheinbrohl in Rheinland-Pfalz bis an die Donau südwestlich von Regens burg. Damit ist der Obergermanisch-Raetische Limes nach der Chine - sischen Mauer das zweitlängste Bauwerk der Menschheit. Mit seinen etwa 900 Wacht türmen und 120 größeren und kleineren Truppenlagern, die durch ein logistisch ausgefeiltes System miteinander verbunden waren, ist er, wie der britische Abschnitt, Weltkulturerbe. Der afrikanische Limes soll folgen. Roms Limes im Orient. Das Wüstenkastell von Qadr Bushir im heutigen Jordanien wurde 306 errichtet als Schutz gegen räuberische arabische Nomadenstämme. Durch die einsame Lage blieb es vom Steinraub verschont. Im Unterschied zu Germanien und Britannien bildete der Limes im Orient und in Afrika keine geschlossene Grenzanlage. Die Kastelle befanden sich aber in Sichtentfernung, die Wachtmannschaften konnten sich über Signale verständigen. Rom und die Barbaren 29

6 Luftschiffbetreiber Franz Taucher und die Autorin in der Gondel über dem Limes schwebend. Das ruhige Gleiten und die mögliche niedrige Höhe über Fundplätzen erlauben einmalige Bilder. Aber: Schon ab Windstärke 2 3 wird es kritisch. Das Luftschiff wird wie ein riesiges Segel abgetrieben. Mehrmals kam es zu»außenlandungen«. Gräben und Wälle der Befestigungsanlage sind noch heute in den Wäldern zu erkennen, aber die Erinnerung an ihre Bedeutung verblasste. Die Wachttürme zerfielen zu Schutthaufen, ihre Steine wurden wie die Mauern der Kastelle als Baumaterial wiederverwendet. Und doch: Vor gut einem Jahrhundert konnte von der damaligen Reichs-Limeskommission der Verlauf des Bollwerks gegen die Barbaren aufgezeichnet werden (s. Beitrag Gretzschel). Seither wird ausführlich geforscht, rekonstruiert und weitergegraben. Der Spaten hat noch nicht ausgedient, auch wenn heute vor allem Luftbildarchäologie und geophysikalische Messungen entlarven, was die Erde unter ihrer Haut hat. Mit Hilfe der Dendrochronologie kann das Fälldatum der Bäume bestimmt werden, die zum Baracken- oder Palisadenbau verwendet wurden. Archäobotanik, Archäozoologie und naturwissenschaftliches Hightech enthüllen den Speiseplan und den Inhalt von Amphoren. So wis- 30 Gisela Graichen

7 sen wir genau, woher Öl, Oliven und Wein der Wachtsoldaten an der Grenze zwischen Zivilisation und Wildnis stammten. Und auch woher das römische Geschirr kam, das auf germanischer Seite ausgegraben wurde. Der Fingerabdruck des Materials weist präzise die Herkunft auf und sogar den Handelsübergang am Limes. Verfallene Monumente, über viele Jahrhunderte Verborgenes, Versunkenes, Vergessenes, Schätze, die direkt vor unserer Haustür liegen, werden wiederentdeckt und zum Sprechen gebracht. Der Schatz liegt in der Erkenntnis. Und die führt zu neuen Beurteilungen der Funktion und Datierung des Limes, gibt überraschende Einblicke in das Leben am Grenzwall und die alltäglichen Konfrontationen Roms mit den Barbaren jenseits von Sandalenfilmen. Und stellt den»glücksfall«eines frühen völkerübergreifenden, vereinten Europas, des antiken Vorläufers der Europäischen Union, mit einem Recht, einer Währung, einem politischen System und einer Sprache zur Diskussion. Eine ganz besondere Aufsicht auf den Grenzwall und seine Ruinen erhielten wir aus der Luft, als wir zum ersten Mal mit einem aufblasbaren, lenk baren Luftschiff über Britannien und Deutschland den Limes abflogen (s. Beitrag Taucher). Das ruhige Gleiten durch das Meer der Lüfte, das Stillstehen auch in geringer Höhe schenkte uns faszinierende, einzigartige Bilder von der einstigen Außengrenze des Imperium Romanum. Wäre dies früheren Forschergenerationen möglich gewesen, wäre auch eher die Funktion des Limes klar geworden: keine Maginotlinie, kein Westwall, kein Eiserner Vorhang, wie das Buch aufzeigt. Auch heute gibt es noch viel zu entdecken die Texte und Bilder mögen Appetit darauf machen. Und eine große Bitte sei angeschlossen: sorgsam mit den Spuren der antiken Weltmacht in unseren Landen umzugehen, um die Zeugnisse unserer Vergangenheit auch für spätere Generationen zu bewahren. Wie groß das Kaiserreich war, davon erzählen uns noch heute die Ruinen eines Staates, der zur Zeit des Augustus eine größere Ausdehnung hatte als die USA heute. Ein Staatengebilde, das Orient und Okzident verband, wie dies bis heute nicht mehr erreicht wurde. Das Imperium einer Besatzungsmacht, die in Europa aber das Fundament schuf für jene Zivilisation, die später das Abendland genannt wurde. Und das glaubte, wie so viele Reiche, sich gegen den Ansturm von Menschen und Völkern durch Mauern sichern zu können. Rom und die Barbaren 31