Monica Lierhaus. Unsere Zukunft ist jetzt. Eine sehr persönliche Sicht auf 10 junge Leben. Unverkäufliche Leseprobe des Scherz Verlages

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Hedwig Blau
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1 Unverkäufliche Leseprobe des Scherz Verlages Monica Lierhaus Unsere Zukunft ist jetzt Eine sehr persönliche Sicht auf 10 junge Leben Preis (D) 18,90 SFR 33,80 (UVP) 208 Seiten, Geb.mit SU ISBN Scherz Verlag Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung der Text und Bildern, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen. S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2007

2 Vorwort Warum ich dieses Buch geschrieben habe Oktober 2005: Ich sitze in einem kleinen, wenig vertrauenswürdigen Flugzeug einer afrikanischen Fluggesellschaft, unter mir liegt der Victoriasee, majestätisch, erhaben und ruhig. Vor mir liegen Gespräche, dramatisch, aufwühlend und schockierend. Im Norden Ugandas treffe ich Kinder und Jugendliche, die gezwungen wurden, Menschen zu überfallen, zu vergewaltigen, zu ermorden und zu verstümmeln, andere Kinder zu entführen und diese ebenfalls dazu zu zwingen, in einer Armee zu rauben und zu morden. In einer Armee des Schreckens und der verlorenen Kinderseelen. Geführt von einem Mann namens Joseph Kony, der seit fast drei Jahrzehnten den Norden Ugandas in Angst versetzt und den Kindern dort ihre Jugend, wenn nicht gar ihr Leben raubt. Ich besuche die ehemaligen Kindersoldaten in verschiedenen Flüchtlingslagern als Unicef-Botschafterin in Lira, Gulu und Kitgum. Einige wirken schwer traumatisiert, ihre Augen sind leer und in den Gesichtern spiegeln sich die Schrecken und die Schmerzen der vergangenen Monate und Jahre wieder. Andere scheinen das Erlebte besser verarbeitet zu haben, sie reden offen darüber, wie sie geschlagen wurden, hungern mussten und wie sie wie Nomaden durch das Land zogen, nachts umliegende Dörfer überfielen und Gewehre oder Macheten benutzten, um andere Menschen zu töten. Sie erzählen von dem»begrüßungsritual«, als sie sich mit den anderen neu entführten Opfern in einem Kreis aufstellen mussten und einer der Anführer willkürlich ein Kind auswählte und 9

4 ihm befahl, ein anderes Kind mit einem Prügel totzuschlagen. Weigerte es sich, wurde es selbst getötet. Die Begegnungen mit den ehemaligen Kindersoldaten und Flüchtlingskindern in Uganda haben mich tief bewegt, es hat lange gedauert, bis ich wieder in meiner Welt angekommen war, sehr viel länger als bloß der Heimflug. Demut überwältigte mich. Demut und Dankbarkeit. Ich war mir zwar stets darüber im Klaren, dass ich unglaublich viel Glück in meinem Leben hatte, aber nun schämte ich mich fast ein wenig dafür, dass ich selbst so eine unbeschwerte Kindheit erleben durfte. Und je länger ich darüber nachdachte, umso mehr beschäftigte mich eine weitere Frage: Wie leben eigentlich die Kinder und Jugendlichen heute in unserem Land? In einem Land wie Deutschland, dem fünftreichsten der Welt, hoch entwickelt und zivilisiert, in Städten wie Hamburg, München, Berlin oder Köln und deren Umland? Welche Sorgen, welche Nöte und welche Ängste haben sie? Was hat die Kindheit heutzutage noch mit der zu tun, die ich selbst erlebt habe? Die Berichte über die Rütli-Schule in Berlin waren erschreckend, und was auch immer ich von Freunden, Bekannten und aus der eigenen Familie hörte, hatte tatsächlich nicht mehr viel mit dem zu tun, was ich selbst in meiner Jugend erfahren habe. Damals war die Rollenverteilung noch weitgehend klar, die Mütter kümmerten sich um die Kinder, die Väter gingen arbeiten. Scheidungen? Ausnahmeerscheinungen. Den Begriff Patchworkfamilie gab es noch nicht, genauso wenig wie Handys, ipods und Playstations. Unvorstellbar, dass Kinder Messer oder gar Schusswaffen mit in die Schule gebracht hätten, anderen Kinder das Taschengeld geraubt und sie geschlagen oder bedroht hätten. 11

5 Auch die Tochter meines Lebensgefährten wurde kürzlich von einem Mitschüler bedroht. Am Ende war sie es, die die Schule wechseln musste, weil die Schulleitung gegen den verhaltensauffälligen Jungen nichts ausrichten konnte oder wollte. Meine Jugend habe ich mehr oder weniger komplett auf dem Sportplatz verbracht, das Fernsehen, damals noch mit drei Programmangeboten, spielte eine Nebenrolle, der Computer gar keine. Als meine Schulzeit sich dem Ende näherte, fragte ich mich nur, welchen Beruf ich ergreifen und ausüben sollte. Dass ich einen Job bekäme und eine entsprechende Ausbildung, stand für mich und meine Generation doch völlig außer Frage. Wie ist das nun, wenn einem diese Perspektive fehlt, wenn man Angst haben muss, weder einen Ausbildungsplatz noch eine Arbeit zu finden? Welche Träume und Bedürfnisse haben unsere Kinder heute, in einer immer schnelllebigeren und oberflächlicheren Gesellschaft? Mich interessierte, welche Einstellungen sie haben und ob sie noch nach ähnlichen Wert- und Moralvorstellungen erzogen werden wie ich damals. Ich wollte wissen, was sie antreibt und was ihnen wichtig ist. Also machte ich mich auf die Suche nach Antworten auf all diese Fragen. Ich besuchte zehn Kinder und Jugendliche aus den verschiedensten Teilen Deutschlands in ihrer ganz persönlichen Umgebung, gemeinsam mit meiner Freundin und Kollegin Hilkka Zebothsen, die mir auch sehr bei der Vorrecherche und den Vorgesprächen geholfen hat, und dem Fotografen Jörg Carstensen, der mich schon auf meine Unicef-Reise in den Norden Ugandas begleitet hat. 12

6 Wir haben gesehen, wie junge Menschen in Deutschland aufwachsen, gehört, welche Wünsche sie haben, und gefühlt, was ihnen Angst macht und was ihnen Hoffnung gibt. Zehn Kinder mit ganz verschiedenen Problemen und ganz individuellen Träumen. Wobei sie auch überraschend viele Gemeinsamkeiten hatten. Auf den folgenden Seiten lernen Sie sie nun kennen. Um eine gewisse Vergleichbarkeit zu schaffen, haben wir außerdem einen Fragebogen entworfen, den alle Kinder und Jugendlichen beantwortet haben, und sie gebeten, uns ihre Lieblingsschuhe zu zeigen, mit denen sie durchs Leben gehen. Beides finden Sie immer am Ende der jeweiligen Geschichten. Es sind Geschichten, die teilweise sehr rührend, sehr spannend, sehr traurig, sehr unbeschwert und sehr schön sind. Geschichten, die uns alle interessieren sollten, denn sie zeigen uns unsere Zukunft auf. Dass sich die Alterspyramide längst gedreht hat und dass es bis zum Jahr 2050 doppelt so viele alte wie junge Menschen geben wird, ist längst bekannt. Umso unverständlicher eigentlich, dass wir unseren Kindern nicht mehr Aufmerksamkeit schenken, denn sie werden es sein, die die Probleme von morgen lösen müssen, die wir ihnen heute bereiten. Unsere Zukunft ist jetzt! 13

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