Predigt am 1. Januar 2014 in der Kreuzkirche Reutlingen. über die Jahreslosung 2014 Gott nahe zu sein ist mein Glück. Pfarrerin Astrid Gilch-Messerer

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1 Predigt am 1. Januar 2014 in der Kreuzkirche Reutlingen über die Jahreslosung 2014 Gott nahe zu sein ist mein Glück. Pfarrerin Astrid Gilch-Messerer Liebe Gemeinde, bitte nehmen Sie einmal die Karte mit der Jahreslosung zur Hand. Gott nahe zu sein ist mein Glück. Dieses Wort aus dem 73. Psalm soll uns in diesem Jahr und jetzt durch diesen Gottesdienst hindurch - begleiten. Der Junge auf der Karte schaut durch ein Fenster. So liegt auch das neue Jahr vor uns. Vom Jahr 2014 sehen wir erst einen kleinen Ausschnitt. Von manchem wissen wir schon, das uns im neuen Jahr erwartet. Einige Termine und Ereignisse stehen schon fest, und wir sind dabei, sie in unsere neuen Kalender zu übertragen. Vieles liegt aber noch undeutlich und unscharf vor uns. Es gibt wohl auch unter uns Menschen, die neugierig und gespannt darauf sind, was das neue Jahr bringen wird wie der kleine Junge, der seine Nase an die Fensterscheibe presst. Er erwartet etwas, ja er ersehnt etwas. Neue Erfahrungen, neue Begegnungen, Abenteuer. 1

2 Ich wünsche mir und uns allen etwas von der Offenheit dieses kleinen Jungen. Denn wir spüren vielleicht auch das Herzklopfen im Stundenschlag des Jahreswechsels. Das Herzklopfen, das beginnt, wenn wir wie der Junge durch die Fensterscheiben hindurch das neue Jahr kommen sehen. Vieles können wir planen und selbst gestalten. Unsere Buchhandlungen sind voll von Zeitschriften und Büchern, die uns zeigen wollen, wie unser Leben gelingt und wie wir glücklich werden. Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied, sagt das Sprichwort. Zunächst ist das eine Aussage, die Mut macht. Ich kann etwas vielleicht sogar sehr viel zu meinem eigenen Glück beitragen. Ich kann wissen oder zumindest herauszufinden versuchen, was mir gut tut, und das dann auch beherzigen und tun. Da bin ich gefragt und auch verantwortlich. Und doch gibt es Grenzen für meine Verantwortung. Es gibt keine Methode, die ich befolgen müsste, und keine Gebrauchsanweisung, die garantiert, dass sich das Glück einstellt. Auch im Jahr 2014 werden wir uns Aufgaben gegenüber sehen und vor Herausforderungen gestellt werden, denen wir standhalten müssen, die wir bestenfalls ohne größere Blessuren durchleben und durchleiden müssen, und manchmal wird es auch Verletzungen geben, deren Narben bleiben. Das macht, so denke ich, das Herzklopfen an der Schwelle zum neuen Jahr. Es ist gut, dass wir dieses Herzklopfen wahrnehmen. 2

3 Befreit es uns doch vom Denken, wir müssten nur dieses oder jenes tun oder auch lassen, um glücklich zu sein. Nein, so einfach ist es nicht. Das weiß auch der Beter des 73. Psalms. Gott nahe zu sein ist mein Glück. Gott und Glück wie passt das zusammen? Wir wissen doch, dass Menschen, die glauben, keineswegs vor Schlimmem und Unglück bewahrt werden. Allzu gut weiß das auch der Verfasser des 73. Psalms. Liest man den ganzen Psalm, merkt man, in welch verzweifelten Lage er sich befindet. Der ganze Psalm ist ein Aufschrei und ein Protest gegen erlittenes Unrecht und Unglück. Warum erleben immer nur die Gottlosen, die Frevler, das Glück? Warum geht es ihnen unverdientermaßen und unverschämter weise so gut, und du, Gott, überlässt die Frommen im Lande ihrem Schicksal und dem Gespött der Gottlosen? Fast hätte der Beter des 73. Psalms darüber sein Vertrauen in Gottes Güte verloren und seine Treue zu ihm aufgekündigt. Zwiespältige Gedanken, die auch wir von uns selbst kennen. Manchmal ertappen wir uns dabei, so zu denken: Der ehrliche und der aufrichtige Mensch ist doch immer wieder der Dumme. Und auch glaubende Menschen können z. B. durch eine schwere Krankheit hart auf die Probe gestellt werden. 3

4 Es ist ein weiter Weg, bis der Psalmist trotz allem, was gegen den Glauben spricht, zum Einverständnis mit Gott findet: Ich aber bleibe immer bei dir, du hältst mich an meiner Rechten Ich aber Gott nahe zu sein ist mein Glück (Ps 73, 23f.28) Nah und schwer zu fassen der Gott, schreibt Friedrich Hölderlin. Gott ist schwer zu fassen für unsere Hände, schwer zu fassen für unser Herz und unseren Verstand. Wenn ich in der Bibel lese, dann merke ich: das ist nicht nur die Erfahrung des 73. Psalms oder die Erfahrung des halbwahnsinnigen Genies Hölderlin. Das ist die Erfahrung eines Hiob und ist auch die Erfahrung so manches Propheten aus dem Alten Testament. Doch - ist es nicht auch die Erfahrung, die hinter unserem Weihnachtsfest steht? Das Kind in der Krippe der Heiland der Welt. Ich sehe dich mit Freuden an und kann mich nicht satt sehen; und weil ich nun nichts weiter kann, bleib ich anbetend stehen. O dass mein Sinn ein Abgrund wär und meine Seel ein weites Meer, dass ich dich möchte fassen! Paul Gerhardt (EG 37,4) So sagt es Paul Gerhardt im Lied Ich steh an deiner Krippen hier. 4

5 Oder, um es mit Worten von Martin Luther zu sagen: Wir fassen keinen andern Gott als den, der in jenem Menschen ist, der vom Himmel kam. Ich fange bei der Krippe an. (EG S. 113) Gott ist uns und bleibt uns Geheimnis und kommt uns als Geheimnis nah. Gott wird Mensch unter Menschen und bleibt doch der der ganz Andere, er bleibt Gott. Das ist sein Geheimnis, und in diesem Geheimnis liegt unser Glück: Gott wird Mensch und kommt zu uns Menschen und das, obwohl er weiß: Wir sind endliche, vergängliche Mängelwesen mit ziemlich engen Grenzen. Aber zugleich bleibt er Gott. Es ist also nicht die Frage, ob und wie wir Gott nahe sein können. Gott kommt uns nahe. Weihnachten, das ist: Gott kommt zu uns, um unser Menschsein mit uns zu teilen. Im Kind in der Krippe teilt er unser Schicksal, teilt unsere Freuden und unser Leiden und auch den Tod - Gott sei Dank. Aber jetzt frage ich noch einmal: Gott und Glück wie passt das zusammen? Zum einen: 5

6 Gott können wir erfahren im Glück der kleinen Dinge. Vieles von dem, was wir tagaus tagein um uns haben und gebrauchen, ist nicht selbstverständlich. Allzu leicht übersehen wir, was schon da ist und was uns schon halbwegs oder gar ganz gelungen ist. Glück kann man sozusagen lesen lernen in den kleinen Dingen des Lebens. Manchmal lernen wir das Glück erst zu schätzen, wenn das Unglück gekommen ist. Wer kein Brot hat, weiß, was es bedeutet, satt zu sein. Wer krank ist, weiß, was Gesundheit wert ist. Wer Heimweh hat, weiß, wie wichtig Heimat ist. Der Schmerz, den ich dann spüre, ist auch ein Teil meines früheren Glückes. Auch die kleinen Freuden, mitten im Leben ein Stück vom Glück, sind ein Geschenk und Anlass genug, um Gott dankbar dafür zu sein. Gelebte Dankbarkeit. Wir können unser Leben nicht verlängern und nicht verbreitern, aber wir können es zum Glück vertiefen. Dietrich Bonhoeffer hat betont, wie wichtig es ist, alles irdische Glück dankbar anzunehmen. Er schrieb vor ziemlich genau 70 Jahren aus dem Gefängnis in Tegel: Man soll Gott in dem finden und lieben, was er uns gerade gibt; Wenn es Gott gefällt, uns überwältigendes irdisches Glück genießen zu lassen, dann soll man nicht frömmer sein als Gott und dieses Glück wurmstichig werden lassen. 6

7 Gott wird es dem, der ihn in seinem irdischen Glück findet und ihm dankt, schon nicht an Stunden fehlen lassen, in denen er daran erinnert wird, dass das Irdische nur etwas Vorläufiges ist und dass es gut ist, sein Herz an die Ewigkeit zu gewöhnen (Widerstand und Ergebung, Brief vom ) Soweit Dietrich Bonhoeffer. Es gibt so vieles, für das es sich lohnt, dankbar zu sein. - Dankbar sein für die Menschen, die uns ein kürzeres oder längeres Stück auf unserem Lebensweg begleiten für Ehepartner, Freunde und Freundinnen. - Dankbar sein, dass sich die eigenen Kinder gut entwickeln und ihren Platz im Leben gefunden haben. - Dankbar sein für die gegenseitige Unterstützung der Arbeitskolleginnen und kollegen im Beruf. - Dankbar sein für die Schönheiten der Schöpfung, die uns umgeben. - Dankbar sein, dass wir hier in Deutschland in stabilen Verhältnissen und in Frieden leben können. Und das führt zu einem Zweiten: 7

8 Dankbarkeit ist nichts Statisches. Sie bleibt nicht bei sich selber stehen. Sie bringt in mein Leben Bewegung hinein wie eine Schale, die sich füllt und dann überfließt und ausströmt. Neben dem eigenen Glück, das wir dankbar wahrnehmen und genießen dürfen, gibt es auch das andere Glück oder, besser gesagt: das Glück des anderen. Jesus selbst hat es uns vorgelebt. Immer wieder und ganz besonders hat sich Jesus in seinem Erdenleben um die Unglücklichen gekümmert, um die Schwachen, um die Versager und Gescheiterten, um Menschen, die noch nichts oder nichts mehr aus sich machen können. Jesus hat Kinder in die Mitte von Erwachsenen gestellt und sie gesegnet. Jesus hat Kranke geheilt, er hat sich salben lassen von einer Frau wie Maria Magdalena. Er hat im Haus des Zöllners Zachäus gegessen und so dessen Kehrtwendung eingeleitet. Jesus hat die Mühseligen und Beladenen zu sich gerufen und versprochen, ihnen ihre Lasten abzunehmen. Damit sollten es alle sehen: Gott ist den Unglücklichen besonders nahe. Er begrenzt das Unglück und mehr noch: Er verwandelt, ja er überwindet Unglück. Gottesnähe zu erfahren heißt demnach immer: Nahe bei den Menschen zu sein. Mithelfen, Unglück zu begrenzen. Unglück in Glück zu verwandeln. Das ist unsere Aufgabe, vor die uns die Jahreslosung stellt. 8

9 Denken wir noch einmal daran, wie wichtig die Dankbarkeit in unserem Leben ist. Wer dankbar ist, bleibt nicht bei sich selber stehen. Wer dankbar ist, verspürt den Wunsch, das eigene Glück weiterzugeben wie eine Schale, die voll ist und die ihren Überfluss weitergibt. Nehmen wir noch einmal die Karte mit der Jahreslosung zur Hand. Neben aller gespannter Erwartung, was uns das Jahr 2014 bringen wird, neben aller Vorfreude auf neue Begegnungen mit Menschen und auf neue Aufgaben, die auf uns warten, spüren wir, dass unser Herz klopft. Suchen wir das Glück in den kleinen Dingen des Lebens. Geben wir unsere Dankbarkeit für das Glück, das wir erleben, an andere Menschen weiter. Fragen wir nicht nur nach dem eigenen Glück, sondern auch nach dem Glück des anderen, des Menschen neben mir. In beidem sind wir nahe bei Gott. Amen. 9