ALBERTO GIACOMETTI: NEU GESEHEN Bündner Kunstmuseum Chur, 20. Mai 2011 Ansprache Martin Jäger, Regierungsrat

Transkript

1 ALBERTO GIACOMETTI: NEU GESEHEN Bündner Kunstmuseum Chur, 20. Mai 2011 Ansprache Martin Jäger, Regierungsrat Sehr geehrte Damen und Herren Preziadas dunnas, stimads signurs gentili Signore, egregi Signori Vor rund 100 Jahren, um 1900 hatte die Technik einen Standard erreicht, der ihr zwei Dinge erlaubte: Erstens konnte sie nun alle Kunstwerke zu ihrem eigenen Objekt machen, indem sie sie reproduzierte. Und Zweitens eroberte sich die Technik selbst einen Platz unter den künstlerischen Verfahrensweisen. So schildert Walter Benjamin die Entwicklung und Auswirkung der Technik der Reproduzierbarkeit auf die Kunst. Dieser deutsch-jüdische Philosoph konstatierte aber auch, dass aufgrund der technischen Reproduzierbarkeit dem Kunstwerk nun der Charakter des Einmaligen fehle, dass das Kunstwerk nun durch die Reproduktionsfähigkeit etwas Massenhaftes sei; kurzum, ihm fehle die Aura des Einzigartigen. Mittlerweilen sind wir nahezu alle im Alltag so ausgerüstet, dass wir die technische Reproduzierbarkeit selbst vornehmen können; Fotokamera, Handy, Scanner etc. Und meist müssen wir nicht einmal mehr das; das Internet genügt, um Mona Lisa digital lächeln zu sehen, oder um in den virtuellen Weiten Van Goghs Sämann zu begegnen. Was uns dagegen mehr fehlt, ist das einzigartige Motiv. Unsere eigenen Fotografien aus der inneren Mongolei oder von Manhattan haben nichts mehr Exklusives; sie sind keine Zeugen mehr eines einzigartigen Erlebnisses, das nur uns in dieser Weise zukam. Es scheint also, dass die technische Reproduzierbarkeit uns einerseits des einmaligen Erlebnisses beraubt hat, andererseits uns aber überhaupt erst in die Lage versetzt, in grossem Masse an der Kunst zu partizipieren. 1

2 Die Kunst hat sich demokratisiert, mit ihr ist aber auch ihr einmaliger Charakter zu etwas Massenhaftem geworden. Nur noch der Kunstmarkt mit seinen Preisen, mit seinen manchmal absurd hohen Preisen behauptet sich noch gegen diese grundsätzlich positive - Demokratisierung. Allerdings existieren auch noch eine Menge Bilder, die sich nicht direkt reproduzieren lassen; die Bilder in unseren Köpfen. Diese sind zwar meist auch kulturell geprägt und nicht ganz so einzigartig, wie man es als Individuum vielleicht gerne hätte. So haben wir beispielsweise mehr oder minder alle geschätzte Damen und Herren - ein fixes Alberto Giacometti-Bild, eine Vorstellung davon, wer dieser Künstler wohl war und was mit ihm assoziiert werden muss. Dazu gehören die feingliedrigen Figuren oder das Bergell oder Paris. Dazu gehören - je nach Vorwissen - auch noch weitere Bild-Bestandteile. Nun wird eben dieser Alberto Giacometti hier in Chur als einer der wichtigsten bildenden Künstler des 20. Jahrhunderts in einer speziellen Ausstellung gewürdigt; und zwar mittels des Mediums der technischen Reproduzierbarkeit schlechthin, der Fotografie. Der Verdacht würde somit naheliegen, dass es sich hier um eine Ikonenverehrung handeln könnte, dass hier der Mythos Giacometti illustriert und reproduziert werden soll; dass hier die Giacometti-Bilder, die wir in unseren Köpfen haben, bedient werden sollen. Dieser Verdacht liegt aber gerade deshalb nicht nahe, weil es sich um eine Ausstellung im Bündner Kunstmuseum handelt. Sehr geehrte Damen und Herren Es ist für einen Regierungsrat, der für das Erziehungs- Kultur- und Umweltschutzdepartement verantwortlich ist, natürlich verlockend, eines seiner Museen zu loben und sich in dessen Bekanntheit und Qualität so richtig zu sonnen. Allerdings kann das hier in Graubünden ein Regierungsrat schwerlich tun, und erst recht nicht einer der Neulinge, denn erstens weist das Bündner Kunstmuseum seit Jahrzehnten eine hohe qualitative Konstanz in Sachen Ausstellungen auf, während ein Regierungsrat nach maximal 12 Jahren sein Amt abgibt. 2

3 Und zweitens waren die letzten drei Jahrzehnte bekanntlich sehr stark von einer Person geprägt, nämlich von unserem Direktor Beat Stutzer. Gerade darum meinte ich vorhin, dass der Verdacht, es könnte sich bei der Ausstellung Alberto Giacometti neu gesehen um eine publikumswirksame Ikonenverehrung handeln, gar nicht erst aufkommen kann. Geschätztes Publikum Beat Stutzer hat dieses Museum und auch die weitere Kulturlandschaft Graubünden in den letzten drei Jahrzehnten nachhaltig mitgeprägt. Kaum eine Publikation im Bereich der bildenden Kunst, die nicht zumindest teilweise seine Handschrift trägt, keine grosse Ausstellung im Kanton, in die nicht auch das Wissen von Beat Stutzer eingeflossen wäre. Jetzt, gewissermassen zum Höhepunkt seiner Tätigkeit und zum Abschied vom Bündner Kunstmuseum lässt uns Beat Stutzer noch einmal Alberto Giacometti sehen; aber eben nicht einfach in Form einer Revue, nicht einfach zur Nostalgie und auch nicht einfach, damit wir unser bestehendes Giacometti-Bild, ohne es zu hinterfragen, einfach weiter festigen könnten. Nein. Zu erwarten ist, dass wir viele neue Aspekte und Facetten unserem bestehenden Bild noch zufügen können. In der aktuellen Ausstellung im Kunstmuseum treten Fotografien und Zeichnungen in einen erhellenden Dialog mit sorgsam ausgewählten, hervorragenden Skulpturen und Gemälden aus Museumssammlungen und Privatbesitz. Somit ergibt sich in dieser Ausstellung auch einer der vielleicht schönsten Reproduktions-Akte: Statt blosser Kopien ansichtig zu werden, können wir hier erleben, was einst der Blick durch eine Camera Obscura ermöglichte; ein Staunen nämlich. Und gleichsam, wie die ersten Fotografien an Konturen gewannen und lichtbeständig wurden, werden wir hier auch im Falle unseres eigenen Giacometti- Bildes erleben, wie in dieser Ausstellung durch Vermittlung und durch besondere Ausstellungsobjekte in uns selber das Giacometti-Bild noch einmal an Konturen gewinnen kann. 3

4 Alberto Giacometti neu erfinden wird allerdings auch diese Ausstellung nicht. Zum Glück, muss man sagen. Denn solche Anpreisungen und Versuche sind dem Bündner Kunstmuseum ebenso fremd wie die Bedienung eines reinen Nostalgie- Kultes. Und genau darin drückt sich auch eine weitere Qualität der Arbeit von Beat Stutzer aus; er fand den schmalen Grat zwischen Kunstkonservatismus und inhaltslosem Kunstmarketing; ein Grat, der in den jeweiligen Ausstellungen sehr hoch angesiedelt war, der damit auch uns Besucherinnen und Besuchern einen Weitblick verschaffte. Dafür spreche ich Beat Stutzer im Namen der Bündner Regierung und wohl auch von allen hier Anwesenden schon heute meinen herzlichsten Dank aus. Lieber Beat, möge Dein weiterer Lebensweg auch weiter so inspirierend verlaufen, wie hier im Bündner Kunstmuseum. Gentili signore, egregi signori, i Grigioni non sarebbero così meravigliosi senza il trilinguismo e se non fossero la patria della famiglia di artisti Giacometti. Visto che, dopo la sua morte, Alberto Giacometti diventò un artista di fama mondiale, mi fa particolarmente piacere che oggi, quì nei Grigioni, abbiamo la possibilità, di scoprire il suo personaggio, il suo tempo e le sue opere sotto una luce nuova. E sono altrettanto contento del fatto che così tante persone del Grigioni italiano stasera sono quì presenti. Credo che sia un occasione da non perdere, tanto più che il dr. Beat Stutzer, in occasione della sua ultima mostra in veste di direttore del Museo d Arte dei Grigioni, dà un ritratto molto preciso di Alberto Giacometti esponendo le stupende fotografie di artisti famosi ma anche di artisti ignoti. Sehr geehrte Damen und Herren: Beat Stutzer ist mehr als nur der Direktor des Bündner Kunstmuseums. Als Konservator des Segantini Museums St. Moritz, als Stiftungsrat der Fondazione Garbald a Castasegna, als national tätiger Publizist hat er die Kulturlandschaft Graubündens nachhaltig mitgeprägt. Entsprechend hat er sich grosses Vertrauen verschafft; dies zeigt auch diese Ausstellung, dies zeigt auch die Tatsache, dass ein privater Sammler seine Mappen mit Fotografien und Zeichnungen von Alberto Giacometti dem Bündner Kunstmuseum angeboten hat, dies zeigt auch die Tatsache, dass Remo Stoffel das Konvolut dem Bündner Kunstmuseum als langfristiges Depositum überlassen hat. 4

5 Dafür gebührt ihnen, aber auch den Sammlerinnen und Sammlern und den Museen, welche für die Zeit der Ausstellung Exponate zur Verfügung gestellt haben, unser herzlichster Dank. Ich bin sehr zuversichtlich, was den Nachfolger von Beat Stutzer, Herrn Stephan Kunz, betrifft und freue mich auch auf diese neue Zusammenarbeit. Gleichwohl hoffe ich, dass Beat Stutzer unserem Kanton auch im nächsten Lebensabschnitt treu bleibt. Statt mit einem weinenden Auge verabschiede ich ihn nun aber im Hinblick auf die aktuelle Aufstellungseröffnung doch lieber noch einmal mit grossen Augen mit staunenden Augen über das neue Giacometti-Bild, das wir hier zu sehen und zu erleben bekommen. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen, sehr geehrte Damen und Herren, viel Freude und viele Momente des Staunens in dieser Ausstellung. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. 5