EINLEITUNG. Kurs: Der Sprachinstinkt (Gergely Pethő), 1. Sitzung
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- Mona Barbara Buchholz
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1 Kurs: Der Sprachinstinkt (Gergely Pethő), 1. Sitzung Uhr, Universität Debrecen, Institut für Germanistik I. Was ist die Kognitionswissenschaft? Def. KOGNITIONSWISSENSCHAFT (= KW) (ung. megismeréstudomány) ist eine neuere interdisziplinäre Wissenschaft, die es etwa seit 1970 gibt. Sie befasst sich mit dem menschlichen Denken, genauer der menschlichen Erkenntnis (Kognition). Interdisziplinär bedeutet, dass sie aus dem Zusammenschluss von mehreren klassischen Disziplinen entstanden ist. Welche Disziplinen sind diese? 1. Die Psychologie hat den bedeutendsten Teil beigetragen. Def. KOGNITIVE PSYCHOLOGIE heißt der Teil der KW, der sich mit psychologischen (v. a. experimentellen) Methoden mit psychologischen Fragestellungen befasst. 2. Die Philosophie. Das menschliche Denken und die menschliche Erkenntnis waren klassische Themen der Philosophie. Der philosophische Teil der KW untersucht nicht direkt den Menschen, sondern formuliert spekulative (d.h. nicht direkt aus Daten ableitbare, nicht überprüfbare) Vermutungen darüber, wie die Kognition wohl aufgebaut ist. 3. Die Informatik. Die KW verdankt eine ihrer grundlegenden Annahmen, die sog. Computermetapher, der Informatik. Def. (aus der Informatik) Ein COMPUTER ist eine Maschine zur Verarbeitung von Informationen. Die KW betrachtet die menschliche Kognition als eine Art der Informationsverarbeitung. Der menschliche Geist ist in diesem Sinne also eine Art Computer. Anmerkung: Die Physiologie des menschlichen Gehirns unterstützt die Analogie zwischen dem menschlichen Geist und einem Computer. a. Das Gehirn besteht aus Neuronen (Gehirnzellen), die durch elektrische Impulse Informationen weiterleiten. Diese Informationen sind binär: Entweder gibt die Zelle einen elektrischen Impuls aus (sie feuert ) oder sie gibt keinen Impuls aus (sie feuert nicht). b. Der Computer besteht aus Transistoren, die ebenfalls durch elektrische Impulse Informationen weiterleiten. Diese sind ebenfalls binär: Entweder fließt Strom aus einem Transistor (Wert 1) oder nicht (Wert 0). S. Johannes von Neumann: Der Computer und das Gehirn.
2 Nach Annahme der KW handelt es sich hierbei nicht nur um eine vage Ähnlichkeit, sondern das Gehirn und der Computer sollen sich prinzipiell identisch verhalten. Daraus folgt: a. Für die Informatik: Künstliche Intelligenz ist im Prinzip realisierbar. b. Für die KW: Die menschliche Erkenntnis kann mit Computern modelliert werden. Theorien über die menschliche Erkenntnis können mit Computermodellen überprüft werden. 4. Die Linguistik. Die Sprache ist ein zentraler Bereich der menschlichen Kognition. Viele meinen, dass wir sprachlich denken und die Welt sprachlich begreifen (und nicht in Bildern oder abstrakten Impressionen). Demnach sei die Welt ohne Sprache gar nicht bewusst erfahrbar. Die menschlichen Begriffe sind an sprachliche Einheiten (Wörter) gebunden. Erkenntnisse der Linguistik sind deshalb für die KW besonders wichtig. Def. KOGNITIVE LINGUISTIK ist der Teil der KW, der sich mit der Sprache mit Methoden der Linguistik befasst. II. Über den Autor Der Autor des Buches, Steven Pinker, ist Kognitionswissenschaftler und Linguist. Sein Fachgebiet innerhalb der KW berührt sowohl die Psychologie als auch die Linguistik. Er ist vor allem für seine Untersuchungen zum Erwerb von Verbbedeutungen und Verbmorphologie durch kleine Kinder bekannt. Er hat auch ein Buch extra zu diesem Thema geschrieben: Wörter und Regeln. III. Über das Buch Das Buch erschien 1993/94 in den USA und wurde zum Bestseller. Genre: Sachbuch, populärwissenschaftliche Literatur. Die Zielgruppe sind nicht Fachleute, sondern ein Publikum von interessierten gebildeten Laien. Ziel: die Ergebnisse und Vermutungen der modernen theoretischen Linguistik einem Publikum zu vermitteln, das noch nie etwas über Linguistik gehört hat. Pinker konzentriert sich auf Fragen, die die meisten Menschen beschäftigen, wie z.b.: Wie hängen Sprache und Denken zusammen? Was ist das Verhältnis zwischen tierischer und menschlicher Kommunikation? Wie entsteht Sprache im Gehirn? Wie lernen kleine Kinder das Sprechen? Verfällt unsere Sprache unter dem Einfluss von Fremdwörtern und weil die Menschen zu dumm und zu faul sind, um die grammatischen Regeln richtig zu verwenden? Außerdem streut Pinker interessante kleine Beispiele ein, die das Bedürfnis des Lesers nach Kuriositäten ansprechen. Pinker untersucht diese Fragen nicht etwa unsystematisch ohne jedes Ziel, sondern er zeichnet den Lesern einen sehr systematischen Überblick über das Gebiet der theoretischen Linguistik und versucht gezielt, sie von seinen Ansichten über die Sprache zu überzeugen.
3 IV. Was ist die theoretische Linguistik (= TL)? TL ist ein Teil der Linguistik. Was ist aber die Linguistik? Linguistik ist die Wissenschaft, die die Sprache untersucht. Was ist Sprache? Keine eindeutige Antwort, denn: Sprache ist ein sehr vielschichtiges und komplexes Phänomen. Verschiedene, sich mitunter direkt widersprechende Definitionen von Sprache möglich: Sprache als System von sprachlichen Zeichen und Regeln geschriebene vs. gesprochene Sprache Sprache als politisch bedingte Einzelsprache Sprache als die Fähigkeit des Menschen, ein Sprachsystem zu erwerben und zu benutzen (die menschliche Sprache vs. tierische Kommunikation) Sprache = eine Art der Kommunikation, z.b.: o Sprache der Bienen o Blumensprache usw. Dementsprechend gibt es viele Arten von Linguistik, denen jeweils ein anderer Sprachbegriff zugrunde liegt: (1) Deskriptive Linguistik (= DL) GEGENSTAND: Das Regelsystem einer Einzelsprache (z.b. Deutsch) METHODE: Die DL sammelt möglichst viele Beispiele aus dieser Einzelsprache und versucht anhand der Beispiele, die Regeln dieser Sprache zu ermitteln. Die Vorgehensweise ist streng induktiv. Die gefundenen Regeln werden stets mit den entsprechenden Beispielen belegt. ZIEL: Die Beschreibung des Regelsystems einer Einzelsprache. (2) Soziolinguistik (= SL) GEGENSTAND: Eine Sprache als gesellschaftliches Phänomen, als Mittel der Kommunikation in einer Sprachgemeinschaft. METHODE: Die SL sammelt möglichst viele, in der Regel gesprochene Beispiele aus einer Einzelsprache. Diese Beispiele werden immer als Teil einer Kommunikationssituation charakterisiert, wobei die Person des Sprechers und des Hörers, sowie ihre Beziehung zueinander eine zentrale Rolle spielen. ZIEL: Die Ermittlung der Regeln für den kommunikativen Gebrauch der Sprache, also z.b. wie bestimmte Sprecher abhängig von der Kommunikationssituation zwischen verschiedenen sprachlichen Normen wählen (etwa Umgangssprache oder Literatursprache).
4 (3) Computerlinguistik (= CL) GEGENSTAND: Eine menschliche Sprache als formales System. METHODE: Die CL geht von wenigen, einfachen, für repräsentativ gehaltenen Beispielen aus einer Sprache aus. Anhand dieser Beispiele werden Computerprogramme erstellt, die bestimmte sprachliche Analyseaufgaben automatisch durchführen sollen, z.b. die Analyse der syntaktischen Struktur von Sätzen oder die Erkennung der Wortarten in einem Text. Ihre Fehlerquote wird durch menschliche Experten überprüft und es werden Wege gesucht, wie die Effizienz der Programme verbessert werden kann. ZIEL: Erstellung von Programmen zur inhaltlichen Analyse, zur Übersetzung oder zur automatischen Generierung von Texten. Es ist nicht direkt Ziel der CL, etwas über die Sprache zu erfahren (im Gegensatz zu den anderen hier genannten Arten der Linguistik). (4) Psycholinguistik (= PL) GEGENSTAND: Einzelne Aspekte des sprachlichen Verhaltens von Menschen. Z.B.: Nach welchem System suchen Menschen Wörter aus ihrem Gedächtnis heraus? Wie erkennen Menschen die gesprochene Sprache? METHODE: Die PL stellt zuerst zu einem spezifischen Problem (z.b. Wie werden Sprechlaute voneinander unterschieden?) eine empirische Hypothese auf (z.b. Sprechlaute werden voneinander durch die Tonhöhe unterschieden), die experimentell überprüft wird. In dem Experiment werden Versuchspersonen unter Laborbedingungen bestimmte Aufgaben gestellt. Nicht nur die Lösungen der Aufgaben werden aufgezeichnet, sondern verschiedene andere relevante Faktoren (z.b. die Reaktionszeit der Versuchspersonen) werden ebenfalls exakt gemessen. In einem glücklichen Fall gibt das Experiment Aufschluss darüber, ob die eingangs aufgestellte empirische Hypothese haltbar ist oder nicht. ZIEL: Zu erfahren, wie die Sprachfähigkeit im Gehirn repräsentiert ist, wie sie erworben und benutzt wird. (5) THEORETISCHE LINGUISTIK GEGENSTAND: Die menschliche Sprachfähigkeit (unabhängig von Einzelsprachen). METHODE: Die Methodologie der TL ist sehr verschieden von der der DL oder der SL. Die Erkenntnis in der TL vollzieht sich in folgenden vier Schritten: 1) Die TL geht aus einer kleineren Menge M 1 von sprachlichen Daten aus, die im Zusammenhang mit einem bestimmten Phänomen stehen. Als Daten gelten nicht nur Ausdrücke, die grammatisch richtig sind, sondern auch solche, die ungrammatisch (grammatisch inkorrekt) sind. 2) Es wird anhand dieser Daten eine Theorie formuliert, die erklären soll, warum gerade die grammatischen Beispiele grammatisch und die ungrammatischen ungrammatisch sind. 3) Es wird überprüft, ob die Vorhersagen, die aus dieser Theorie folgen, mit anderen, unabhängigen (d. h. in M 1 nicht enthaltenen) sprachlichen Daten verträglich sind (d. h. wenn diese neuen Daten grammatisch sind, ob die Theorie richtig vorhersagt, dass sie grammatisch sein sollen und umgekehrt). Falls sie nicht mit ihnen verträglich ist, gilt die Theorie als widerlegt und muss verworfen werden.
5 4) Eine Theorie, die sich für eine Einzelsprache bestätigt hat, wird mit Daten aus anderen Einzelsprachen überprüft. Die Vorgehensweise der TL ist streng deduktiv. ZIEL: Die Aufdeckung der Struktur der menschlichen Sprachfähigkeit (der sog. Universalgrammatik, UG). Ein Beispiel: Frage: Von welchen Regeln hängt die Wahl zwischen Personal- und Reflexivpronomina ab? 1. (1) Peter 1 hat sich 1 rasiert. (2) * Peter 1 hat ihn 1 rasiert. Im 2. Satz kann sich das Pronomen ihn auf jede beliebige männliche Person auf der Welt beziehen, außer auf Peter. 2. Die Tatsache, dass (2) ungrammatisch ist, kann unmöglich mit der Bedeutung des Pronomens ihn zusammenhängen, denn in einem anderen Satz (z.b. Katja hat ihn rasiert.) kann ihn sich ja durchaus auf Peter beziehen. Hypothese (H1): Wir müssen also davon ausgehen, dass dieses Phänomen etwas mit der Grammatik der Pronomina zu tun hat. Wir formulieren anhand der Beispiele die folgenden grammatischen Regeln: (R1) Dem Personalpronomen kann in demselben Satz kein koreferierendes Substantiv vorausgehen. (R2) In einem Satz, wo einem Pronomen ein koreferierendes Substantiv vorausgeht, müssen wir anstelle eines Personalpronomens das Reflexivpronomen sich verwenden. 3. (3) Peter 1 kennt die Frau, die ihn 1 rasiert hat. Dem Personalpronomen geht in diesem grammatischen Satz ein koreferierendes Substantiv voraus. Dieser Satz wiederspricht deshalb unserer Hypothese (R1). (4) * Die Frau von [Peter 1 ] hat sich 1 rasiert. (5) Die Frau von [Peter 1 ] hat ihn 1 rasiert. Satz (5) widerspricht aus demselben Grund (R1). In (4) geht dem Reflexivpronomen in demselben Satz ein koreferierendes Substantiv voraus, und der Satz ist trotzdem ungrammatisch. Das widerspricht unserer Hypothese (R2). Eine kleine Menge von Daten (Beispielsätzen) wird als Ausgangspunkt gewählt. Die einfachste Theorie, die mit diesen beiden Beispielen kompatibel ist, wird formuliert. (Diese spezifische Theorie besteht aus den zwei hypothetischen Regeln R1 und R2, sowie der Hypothese H1.) Die Vorhersagen der Theorie werden mit unabhängigen Daten überprüft. Da einzelne Hypothesen unserer Theorie Vorhersagen treffen, denen die Daten widersprechen, gilt die Theorie als widerlegt und wird verworfen. 4. Als 4. Schritt könnten wir eine Theorie, die sich für eine Einzelsprache bestätigt hat, in anderen Sprachen überprüfen. Da sich die Theorie für das Deutsche nicht bestätigt hat, entfällt jedoch dieser Schritt.
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