Basisschulung 2010 Grundlagen der Glücksspielsucht
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- Silke Grosse
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1 Basisschulung 2010 Grundlagen der Glücksspielsucht Dipl.-Psych. Eva Korell Gemeinschaftspraxis Korell & Hoßner Ingolstadt,
2 Inhalt der Schulung Glücksspiel: Angebot und Nachfrage Die Glücksspielsucht: Erscheinungsbild und Definitionskriterien Epidemiologie Entstehungsbedingungen Besonderheiten der Klassifikation Struktur des Suchthilfesystems 2
3 Glücksspiel: Angebot und Nachfrage Glücksspiel ist tief in der Menschengeschichte verwurzelt: zu allen Zeiten und in allen Kulturen wurden Glücksspiele als Möglichkeit genutzt, um Vergnügen, Anregung und Entspannung zu erfahren die Sehnsucht nach Geld und Reichtum auszuleben. 3
4 Glücksspiel Deutschland im Lottofieber (Februar 2009) 4
5 Definition von Glücksspiel Als Glücksspiel ist definiert jegliches Spiel, Event oder Wette, das mit dem Setzen eines (Geld-)Wertes in Verbindung steht und dessen Ausgang unvorhersehbar und das Ergebnis zu einem gewissen Grad vom Zufall abhängig ist (Bolen & Boyd, 1968). 5
6 Glücksspiel in Deutschland Glücksspiele Roulette Poker Black Jack Geldspielautomaten Lotto Rubbellose Klassenlotterie Sportwetten Glücksspiele im Internet Illegales Glücksspiel etc. Geldgewinne mit Glücksspielcharakter TV-Geldgewinnspiele Selbstorganisierte Spiele um Geld Börsenspekulationen etc. Sonstige Spiele mit /ohne Geldgewinn Gesellschaftsspiele Strategiespiele (z.b. Schach) Kreuzworträtsel Quizshows Computerspiel etc. 6
7 Glücksspiel in Deutschland Spielen (auch um Geld) ist eine Form der Freizeitgestaltung 71,5 87,1 % der erwachsenen Deutschen haben bereits einmal an einem Glücksspiel teilgenommen 49,4 % tun es regelmäßig Der Glücksspielmarkt ist ein bedeutsamer Wirtschaftsfaktor: 27,62 Mrd. Euro Umsatz in
8 Spielertypologien Soziale Spieler Professionelle Spieler Größte Gruppe Kleine Gruppe der Glücksspieler unter den Glücksspielern Unterhaltung Freizeitgestaltung Eher im illegalen Bereich Kein auffälliges Spielverhalten Verdienen Lebensunterhalt mit Glücksspielen Distanziertes und kontrolliertes Verhältnis zum Spielen Problematische Spieler Pathologische Spieler Sind Schwerwiegende gefährdet Befinden sich in Übergangsphase Keine genaue Definitionskriterien Merkmale: Schuldgefühle, erste Vernachlässigung von Verpflichtungen, erste höhere Geldverluste Probleme mit Glücksspiel Unkontrolliertes Spielverhalten Beibehalten des Glücksspiels trotz negativer Konsequenzen (Verarmung, gestörte Familienbeziehungen, etc.) 8
9 Sucht meist assoziiert als Abhängigkeit von psychotropen Substanzen, die kurzfristig positiv das körperliche und emotionale Wohlbefinden beeinflussen. Kennzeichen sind Kontrollverlust Toleranzentwicklung Entzugserscheinungen neu: Verlangen 9
10 Symptome der Glücksspielsucht Starkes Eingenommensein vom Glücksspiel Steigerung der Einsätze zur Erreichung der gewünschten Erregung Wiederholte erfolglose Versuche, das Spielen einzuschränken oder zu beenden Unruhe und Gereiztheit beim Versuch das Spielen einzuschränken Spielen als Flucht vor Problemen oder depressiver Stimmung Rasche Wiederaufnahme des Spielens nach Geldverlust Lügen um das Ausmaß der Problematik zu vertuschen Illegale Handlungen zur Finanzierung des Spielens Gefährdung oder Verlust wichtiger sozialer Beziehungen, des Arbeitsplatzes oder von Zukunftschancen Hoffnung auf Bereitstellung von Geld durch Dritte 10
11 ICD-10: F63.0 pathologisches Glücksspiel A. Wiederholte Episoden von Glücksspiel über einen Zeitraum von mindestens einem Jahr B. Diese Episoden bringen den Betroffenen keinen Gewinn, sondern werden trotz subjektiven Leidensdruck und Störung der Funktionsfähigkeit im täglichen Leben fortgesetzt C. Intensiver Drang zu Spielen, der nur schwer kontrolliert werden kann. Das Spielen kann trotz Willensanstrengung nicht unterbrochen werden D. Betroffene sind ständig mit Gedanken oder Vorstellungen vom Glücksspiel oder mit dem Umfeld beschäftigt. 11
12 Differentialdiagnostische Abgrenzung Professionelle Spieler (Hypo-) manische Episoden (F30) Psychotische Störungen (F20) Demenz Computerspielsucht 12
13 13
14 Häufigkeit des Glücksspielens Glücksspielart Petry (1996) N = 558 Mayer & Hayer (2005), N = 489 BZgA (2008) N = Geldspielautomaten 1 69,9 % 79 % 9,0 % Glücksspielautomaten 32 % 8,5 % Casinospiele 3,7 % 17 % 2,0 % Casinospiele im Internet 5,1 % Karten- / Würfelspiele 0,4 % 16 % Lottovarianten 0,2 % 6 % 2 0,7 % Geldwetten 0 % 10 % 3 5,2 % Sonstige 0,2 % 2 % 4 1,2 % 4 ( 1 Rechtlich gesehen kein Glücksspiel, 2 Lotto 6aus49, 3 nur ODDSET, 4 nur Rubbellotterien) 14
15 Anteilige Geldumsätze pro Glücksspielform (Stöver, 2006) % Spielautomaten Casino Sportwetten Rubbellose Lotto Glücksspirale Klassenlotterie 15
16 Exkurs Automaten: Novellierung der Glücksspielverordnung
17 Novellierung der Glücksspielverordnung 2006 Die neuen Rahmenbedingungen regeln Mindestlaufzeit, Höchsteinsatz und Höchstgewinn je Einzelspiel (5 sec, 0,20, 2,- ) Maximale Gewinn- und Verlustmöglichkeiten pro Stunde (500,-, 80,- ) Obligatorische Spielpausen von 5 Minuten nach einer Stunde spielen ( Time-Out ) Die Anzahl aufgestellter Geldspielautomaten pro Konzession und Fläche (12 in Spielhallen, 3 in gastronomischen Betrieben) Mindestabstand und Sichtblenden Auslegen von Informationsflyern über Gefahren und Beratungsmöglichkeiten 17
18 Auswirkungen der Novellierung (aus suchttherapeutischer Perspektive) Positive Aspekte Negative Aspekte Verbot von reizvollen Jackpot-Anlagen ( 9) Sichtbare Auslagen von Informationsmaterial ( 6) Reduzierung der Spiellaufzeit (12 sec -> 5 sec: Erhöhung der Ereignisfrequenz) Erhöhung des maximalen Stundenverlustes (60,- -> 80,- ) intransparente Bezeichnung und Verknüpfung der Gewinnmöglichkeiten mit einer Zeiteinheit (max. Gewinnmöglichkeit: 500,- pro Stunde, Stärker Bindung an den Automaten, Spielverlängerung) Erhöhung der Gerätezahlen pro Konzession (Spielhallen: 10 -> 12, Gaststätten: 2 -> 3, höhere Verfügbarkeit) -> Erhöhung der Spielanreize mit einer erheblichen Steigerung der Suchtgefährdung -> systematische Umgehungen der Auflagen 18
19 Epidemiologie
20 Epidemiologie I Prävalenz: Weltweit (12-Monats-Prävalenz): 0,4 4,7 % problematisches Glücksspielen 0,15 2,1 % pathologisches Glücksspielen In Deutschland (12-Monats-Prävalenz): 0,3 0,64 % problematisches Glücksspielen 0,2-0,6 % pathologisches Glücksspielen Die Prävalenz für problematisches Glücksspiel bei Jugendlichen: 0,4 22,7 % ca. 2/3 sind männlich ist abhängig von der Verfügbarkeit 20
21 Epidemiologie II Verlauf: Beginn bei Männern in frühem, bei Frauen im späteren Erwachsenalter regelmäßig oder episodisch (meist abhängig vom zur Verfügung stehenden Geld) Suizidversuche bei 20 % Phasenkonzept nach Custer & Milt (1985): Gewinnphase: Big Win bei geringen Einsätzen Verlustphase: Aufholjagd, gambler s fallacy, Spielgeld, Zeitaufwendung steigt Verzweiflungsphase: Freikäufe, Hoffnung und Versprechen, mangelnde Kontrolle 21
22 Epidemiologie III Ätiologie und Pathogenese Es gibt keine einheitliche anerkannte Störungstheorie Vulnerabilitäts-Stressmodell : Genetische Einflüsse: unterschiedlich ausgeprägte Erregungsnieveaus, Verfügbarkeit von Botenstoffen zur Gefühlsregulation frühkindlicher Stress ( Broken Home Biographie mit häufig gestörter Vaterbeziehung und gravierenden Misshandlungs- und Missbrauchserfahrungen, Suchtverhalten der Eltern) Psychosoziale Belastungen als Risiko- und aufrechterhaltende Faktoren, Verfügbarkeit von Suchtmitteln Fehlende Copingstrategien in (sozialen) Stresssituationen 22
23 Ein heuristisches Modell der individuellen Vulnerabilität nach Petry (1996)
24 Charakteristik eines pathologischen Spielers Es existiert keine eindeutige Charakteristik, aber übereinstimmende Merkmale in der Persönlichkeitsstruktur: Geringe Impulskontrolle Geringe Fähigkeiten in der Affektregulation Mangelnde Frustrationstoleranz Schnelle Bedürfnisbefriedigung ohne hohen Aufwand / Einsatz Neigung zu hoher Risikobereitschaft, Sensation-Seeking Fehlende funktionale Strategien zum Selbstwerterhalt 24
25 Physiologisches Störungsmodell: das dopaminerge Belohnungssystem
26 Das dopaminerge Belohnungssystem Funktion: Ansporn, lebenserhaltende Tätigkeiten nachzugehen Vielzahl von (auch natürlichen) Reizen führt zur Ausschüttung von Dopamin Dopaminfreisetzung durch Kick -Erleben, Euphorie, aber auch durch Angst vor Verlust Verstärkt durch Beinahe-Gewinn-Situationen, hohes Risiko und hohe Gewinnmöglichkeiten Anti-depressive Wirkung (Ausgleich eines Serotoninmangels) Schädliche Überreizung führt zu einer verminderten Aktivität des Belohnungssystems 26
27 Zusammenfassung der Störungstheorien Sucht ist gelernt: der Betroffene hat schnell und effektiv gelernt, seine Gefühle durch den Suchtmittelgebrauch zu regulieren Andere (adäquate) Verhaltensweisen werden nicht mehr als attraktiv oder belohnend empfunden und geraten in den Hintergrund Die erlernten positiven Suchtmittelerwartungen sind fest im Gedächtnis verankert und wirken ein Leben lang- auch nach Jahren der Abstinenz! 27
28 Lerntheorien: Klassische und operante Konditionierung 1. Initialzündung Unerwarteter Geldgewinn: Kick - Erleben (Dopaminausschüttung) Automatengeräusche, Anblick einer Spielkarte, Casinoatmosphäre etc. Klassische Konditionierung: Suchtmittelverlangen und Rückfallgefährdung 2. Pathologisierung und Chronifizierung Stresserleben, z.b. durch Verluste, Konflikte etc. Spielen als dysfunktionale Form der Stressbewältigung Stressauslöser bestehen weiterhin Glücksspiel wird zusätzlicher Konfliktherd Operante Konditionierung: Positive und negative Verstärkerprozesse (Nervenkitzel, Emotionsregulation, Ablenkung) 28
29 Klassifikation: ICD-10 F6: Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen F63: abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle F63.0 pathologisches Glücksspiel F63.1 pathologische Brandstiftung (Pyromanie) F63.2 pathologisches Stehlen (Kleptomanie) F63.3 Trichotillomanie F63.8 sonstige abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle (z.b. Kaufsucht) F63.9 nnb abnorme Gewohnheiten oder Störung der Impulskontrolle 29
30 Gemeinsamkeiten der Impulskontrollstörungen I Wiederholte, oft stereotype Handlungen ohne sinnvolle Motivation Innerer Drang oder das Versagen, den Impulsen zu widerstehen Typische emotionale Verläufe : Anspannung und Erregung vor oder während der Handlung; Erleichterung, Euphorie, Genuß oder Lustempfinden während oder nach der Handlung erhebliche zeitliche Beschäftigung 30
31 Gemeinsamkeiten der Impulskontrollstörungen II tlw. gravierende psychosoziale Folgen (Isolation, Verschuldung, Delinquenz) Hohe Komorbiditäten mit affektiven Störungen, Angst-, Zwangs- und Essstörungen, Substanzabhängigkeit, andere Impulskontroll- und Persönlichkeitsstörungen, ADHS Tlw. Ansprechen auf Antidepressiva (v.a. SSRIs) positive (und negative) Verstärkung Verhaltensdefizite, fehlende Copingstrategien, eingeschränktes Selbstwerterleben 31
32 Probleme der Klassifikation: Sucht-Neurose-Debatte Impulskontrollstörung Impulsgesteuertes Verhalten, erfolgloser Widerstand Fehlen einer vernünftigen Motivation (ICD-10) Nichtstoffgebundene Abhängigkeit Beibehalten des Verhaltens trotz negativer Folgen Unwiderstehlicher Drang mit Kontrollverlust, Toleranzentwicklung, Entzugserscheinungen Zwangsspektrumsstörung Wiederkehrendes, stereotypes Verhalten Spannungs-Erleichterungs-Verlauf, negative Affekte bei Handlungsunterdrückung Serotonerge Beteiligung 32
33 Neuerungen mit dem DSM-V DSM-V soll im Mai 2013 erstmals vorgestellt werden Die derzeitige Kategorien Substanzmissbrauch ( Substance abuse ) und Abhängigkeit ( dependence ) werden durch eine neue Kategorie ersetzt: Sucht und verwandte Störungen ( addiction and related disorders ) Die neue Kategorie umfasst neben der Drogensucht auch die Spielsucht: beiden lägen ähnliche Vorgänge im Gehirn zugrunde (geschwächte Impulskontrolle, Beteiligung von Hirnzentren für Belohnungsreaktionen und Aggression) Eine Internet-Sucht wird nicht beschrieben: die wissenschaftlichen Erkenntnisse seien noch nicht ausreichend. (Quelle: Deutsches Ärzteblatt) 33
34 Versorgung und Therapie Erste Ansprechpartner (Sucht-) Beratungsstellen Selbsthilfegruppen (z.b. Anonyme Spieler) Ärzte Kliniken Soziale Dienste von Betrieben Soziale Dienste der JVAs Ambulante Behandlung Suchtberatungsstellen Spezialisierte niedergelassene Psychotherapeuten Spezialisierte psychotherapeutische Ausbildungsinstitute Ambulante Rehabilitation Tageskliniken Schuldnerberatung Stationäre Therapie Fachkliniken für Suchtkranke oder psychosomatische Kliniken mit einem speziellen Angebot für pathologische Glücksspieler 35
35 Fakten zum Behandlungsangebot Hauptdiagnose Pathologisches Glücksspielen in ambulanten Suchtberatungsstellen: 2002: Anzahl der Einrichtungen 454: 2,2 % 2007: Anzahl der Einrichtungen 647: 2,5 % Hauptdiagnose in stationären Suchteinrichtungen: 2002: Anzahl der Einrichtungen 85: 0,6 % 2007: Anzahl der Einrichtungen 141: 1,6 % Anzahl der Selbsthilfegruppen in Deutschland: 1982: : 147 Fazit: dennoch besteht nach wie vor eine deutliche Unterversorgung für pathologische Spieler! 36
36 Danke für Ihre Aufmerksamkeit!
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