das lyrische schaffen

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1 königs erläuterungen spezial Erläuterungen zu Joseph von Eichendorff das lyrische schaffen von Rüdiger Bernhardt Alle erforderlichen Infos für Abitur, Matura, Klausur und Referat

2 1 JOSEPH VON EICHENDORFF: LEBEN UND WERK Zeitenthobene Dichtungen? Ährenfelder sich leise vor dem Unsichtbaren neigen, weckt er überall ein wunderbares Heimweh. (II, 534) Zur gleichen Zeit wurde eine moderne Gesetzgebung folgenreich im Hinblick auf bürgerliche Entwicklungen; das war der französische Code civil der nachrevolutionären Zeit. Erst nach 1815 kam der Rückschlag der Reaktion, angeleitet von Metternich, aber er konnte nicht alle Veränderungen rückgängig machen. Eichendorff erlebte das am eigenen Leib: Aus altadliger, aber verarmter Familie stammend, führte er ein ausgesprochen bürgerliches Leben, in dem insbesondere seine Stellung als Beamter den sozialen Bedingungen bürgerlicher Verwaltungsstrukturen entsprach, die sich auch in Preußen stillschweigend herauszubilden begannen. Eichendorffs Dichtungen verleiten auf den ersten Blick dazu, sie von den zeitgeschichtlichen Ereignissen abzukoppeln. Die Gedichte mit ihrer poetischen Klangfülle, ihren idyllischen Abläufen und harmonischen Naturbeschreibungen scheinen nichts mit den zeitgenössischen politischen Entwicklungen zu tun zu haben. Bei genauem Hinsehen ist jedoch das Gegenteil der Fall. Dichtung und Zeitereignisse Politische Vorgänge fanden Eichendorffs Interesse und veränderten sein Leben als schlesischer Junker, das durch den Ruin des Vaters seit 1801 gefährdet war. Eichendorffs Gedichte bis 1814 belegen sein Interesse für die Politik, insbesondere sein Engagement für Deutschlands nationale Einheit und Souveränität, für den Befreiungskampf. Der Tiroler Nachtwache (1810) und An die Tiroler (1810) widmeten sich, wie auch eine Passage im Roman Ahnung und Gegenwart (3. Buch), dem Aufstand der Tiroler unter Andreas Hofer gegen die napoleonische Fremdherrschaft. Bemerkenswert ist, dass Friedrich, der Held des Romans ein Alter Ego Eichen- 20 JOSEPH VON EICHENDORFF

3 2 JOSEPH VON EICHENDORFF: DAS LYRISCHE SCHAFFEN EINFÜHRUNG UND INTERPRETATIONEN dorffs, der selbst trotz aller Bestrebungen an keinem Kampf teilnahm, in diesem Kampf auf Tod und Leben focht: Friedrich war überall zu sehen, wo es am gefährlichsten herging, selber mit Blut überdeckt. (II, 213) Der Freiheitskampf der Tiroler, den Eichendorff in dem Roman beschrieb (II, ), war ein Kampf nach seinen Vorstellungen: Durch einen solche Kampf wurde nicht nur der Kampf gegen Napoleon und für die Freiheit geführt, sondern in ihm konnte man den alten Ruhm seines alten Namens durch alte Tugend wieder (II, 217) auffrischen. Sein Gedicht An die Lützowschen Jäger (1814/15) verewigt den eigenen Einsatz als Lützower in der Dichtung. Der Wunsch nach Frieden schlägt sich in Gedichten nieder: In Der Dichter (1809/10) schaut die Welt so wild bewegt, / Ängstlich nach ihren Rettern aus und findet sie im Dichter, der kühn den Friedensbogen (10) wölbt. Ähnlich zeitbezogen dichtete Eichendorff nach 1848, stellte nun allerdings die konservative Sicht auf die Erhaltung alter feudaler Strukturen aus. In Das Schiff der Kirche (1848) beklagt er den Zusammenbruch der alten Werte: Die alten Türme sah man längst schon wanken, / Was unsre Väter fromm gebaut, errungen, / Thron, Burg, Altar, es hat sie all verschlungen / Ein wilder Strom entfesselter Gedanken. Mit den entfesselten Gedanken sind die aufklärerischen Ideen und die aus ihnen entstandenen revolutionären Bewegungen gemeint. Mit der gleichen Formulierung wie in Der Dichter wird nun die Rettung des Alten und Bewährten gepriesen: Doch drüberhin gewölbt ein Friedensbogen, / Wohin nicht reichen die empörten Wogen (115). Es ist jedoch nicht mehr der Dichter, der diesen Friedensbogen schafft, sondern eine unbestimmte Macht, die erst im letzten Vers als O Herr erscheint. Um 1848 befürwortet Eichendorff sogar den Untergang alles Überholten und eine Neugestaltung der Geschichte, möchte aber beides Gott überlassen. Zeitbezogene Dichtung DAS LYRISCHE SCHAFFEN 21

4 1 JOSEPH VON EICHENDORFF: LEBEN UND WERK Leben parallel zur beginnenden industriellen Revolution Aufstieg und Fall Napoleons Andere Dichtungen sind gerade mit ihrer Zeitenthobenheit ein deutlicher Versuch, sich in den aktuellen Wirren als Mensch und Dichter zu behaupten und trotz der politischen Unsicherheit sichere Orte zu markieren. Dabei wirkten sich zwei Zeitereignisse nachdrücklich auf Eichendorffs Leben und Schaffen aus: Sein Leben verlief parallel zur beginnenden industriellen Revolution und dem sich entfaltenden Kapitalismus der freien Konkurrenz, auch als Manchesterkapitalismus bekannt, und wurde in den sozialen Bedingungen davon beeinflusst. Es waren die ereignisreiche Epoche der bürgerlichen Revolutionen der modernen europäischen Geschichte, die das politische Geschehen in Europa von Grund auf veränderten, und die Epoche der Restauration. Geboren wurde Eichendorff ein Jahr vor der Französischen Revolution von 1789, die den Feudalismus beseitigte und einen französischen bürgerlichen Nationalstaat hervorbrachte. Es entstanden nicht nur industrielle Ballungszentren in der Textil- und Stahlindustrie in der Technologie der modernen Spinn- und Webmaschinen vereinigten sich beide Entwicklungen mit der modernen Energiegewinnung der Dampfkraft, sondern Entwicklungen wie die Eisenbahn veränderten auch die strukturellen Beziehungen zwischen den Gebieten und verkleinerten die Räume. Auch Eichendorff nahm das zur Kenntnis und in seine Dichtungen auf. Er erlebte in der Zeit seines nationalen Engagements den Aufstieg, die Siege und den Ruhm, anschließend die Niederlagen Napoleons mit und damit einhergehend den Zerfall des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, die Niederlage Preußens, die Eroberung Europas durch napoleonische Truppen, die französische Niederlage in Russland und die Befreiungskriege, an denen sich Eichendorff beteiligte, um schließlich preußischer Beamter zu werden. 22 JOSEPH VON EICHENDORFF

5 2 JOSEPH VON EICHENDORFF: DAS LYRISCHE SCHAFFEN EINFÜHRUNG UND INTERPRETATIONEN Der zeitliche Hintergrund VOM VERARMTEN ARISTOKRATEN ZUM PREUSSISCHEN BEAMTEN 1799 Staatsstreich Napoleons (Ende der Französischen Revolution von 1789), bis 1804 Konsulat Verarmung der Familie Eichendorff, am Rande des Bankrotts Reichsdeputationshauptschluss: Auflösung von 112 selbstständigen deutschen Herrschaften, vorwiegend geistlichen Fürstentümern und 44 Reichsstädten, und territoriale Neu gliederung Napoleon lässt sich durch Senatsbeschluss zum erblichen Kaiser der Franzosen ausrufen. Eichendorff erlebt in Breslau ein völlig desolates Verhalten preußischer Offiziere (29. Februar 1804; III, 415) Gründung des Rheinbundes. Vernichtende Niederlage der preußischen Armee bei Jena und Auerstedt. Eichendorff hofft auf politische Morgenröte (20. Februar 1807; III, 471) und meint damit Siege über Napoleon Krieg Frankreichs gegen Russland, Niederlage der Franzosen in Moskau, Rückzug der Großen Armee Oktober: Völkerschlacht bei Leipzig, Niederlage Napoleons. 1814/15 Wiener Kongress vom September 1814 bis Juni 1815: Regelung des europäischen Friedens, Zurücknahme der Veränderungen seit der Französischen Revolution. Gründung des Deutschen Bundes (10. Juni 1815): Vereinigung 39 souveräner deutscher Staaten und Städte Rückkehr Napoleons, Niederlage bei Waterloo, erneute Abdankung und Verbannung nach St. Helena. Eichendorff rückt mit den Truppen Blüchers in Paris ein. Gründung der Heiligen Allianz Karlsbader Beschlüsse (Metternich) zur Unterdrückung der Opposition, Zensurverschärfung, Verfolgung und Zuchthaus. DAS LYRISCHE SCHAFFEN 23

6 1 JOSEPH VON EICHENDORFF: LEBEN UND WERK 1820 März: Aufstand der Griechen gegen die türkische Fremdherrschaft. Teilnahme deutscher Studenten und des englischen Dichters Byron am griechischen Freiheitskampf, zahlreiche Dichtungen zur Unterstützung dieses Kampfes Eichendorff wird am 31. Januar als preußischer Beamter angestellt und am 5. September zum Regierungsrat für die Bearbeitung der katholisch geistlichen und Schulangelegenheiten in Danzig bestellt. Eine innere Regeneration des Gesamtlebens Die Beziehungen zur zeitgenössischen Literatur die Romantik Die Studien in Halle und Heidelberg brachten die entscheidenden Kontakte für die literarische Entwicklung Eichendorffs. In Halle dominierte das Studentenleben; die Umrisse des romantischen Denkens wurden durch Lehrer wie Henrik Steffens vermittelt. Wie eine Erweckung wirkte auf Eichendorff die Lektüre von Ludwig Tiecks Franz Sternbalds Wanderungen. Hatte der junge Eichendorff die Romantik als Natur und Gefühl im Umkreis von Lubowitz erlebt und gelebt, so kam sie durch diesen Roman als Kunst über ihn und bestätigte sein bisheriges Leben durch Dichtung. Romantik war für Eichendorff, wobei er sich völlig an Novalis orientierte, keine bloß literarische Erscheinung, sondern eine innere Regeneration des Gesamtlebens (Halle und Heidelberg; III, 603). Dazu gehörten alle Formen der Kunst, auch Architektur und Musik, aber auch Wissenschaften, Ökonomie und Politik. So sah er im Aufstand der Tiroler 1809 ( Tiroler Freiheitskampf ) gegen die napoleonische Fremdherrschaft die Entfaltung lebendiger Romantik 5, ein Beispiel romantischer Politik. Ziel dieser gesellschaftlichen Gesamtbewegung war nach Eichendorff, auch hier Novalis und Steffens folgend, alles Irdische auf ein Höheres, das 5 Zitiert nach: Frühwald, Joseph von Eichendorff, S JOSEPH VON EICHENDORFF