Die Anhörung des Kindes in familienrechtlichen Verfahren. Rechtliche Grundlagen und aktuelle Rechtsprechung. 22. Februar 2013.
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- Julia Kruse
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1 Die Anhörung des Kindes in familienrechtlichen Verfahren Rechtliche Grundlagen und aktuelle Rechtsprechung 22. Februar Übersicht Das Kind als Rechtsperson Gesetzliche Grundlagen der Anhörung Rechtsprechung Anhörung und Kindeswohl Das Kind als Rechtsperson Vom Objekt zum Subjekt Vom Bedürfnis-Ansatz zum Rechte- Ansatz Rechtsgrundlagen UN-KRK (Art. 12) BV 11 ZGB 19 / ZPO 67 III 1
2 Der Paradigmenwechsel Maywald, Kinder haben Rechte! Weinheim/Basel 2012, S. 112 f. Bedürfnis-Ansatz (private) Wohltätigkeit, Freiwilligkeit, Wohlfahrt Kind erhält Hilfe Symptomorientierung Festlegung von Bedürfnissen ist subjektiv Kurzzeitperspektive Bereitstellung von Angeboten Rechte-Ansatz Politische, gesetzliche Verantwortung und Verpflichtung, Verbindlichkeit Kind hat Anspruch auf Hilfe Ursachenorientierung Rechte basieren auf internationalen Standards Langzeitperspektive Bewusstseinsbildung aller Gruppen Art. 12 KRK: Recht, gehört zu werden Recht des Kindes, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, seine Meinung in allen es berührenden Angelegenheiten (namentlich in Gerichts- und Verwaltungsverfahren) frei zu äussern. Recht auf angemessene, alters- und entwicklungsgemässe Berücksichtigung seiner Meinung. Rechtliches Gehör, entweder unmittelbar oder durch Vertreter oder geeignete Stelle. Zu Art. 12: Allgemeine Bemerkung (General Comment) des UN-Kinderrechtsausschusses vom 20. Juli 2009 General Comment zum Recht, gehört zu werden (Juli 2009) www2.ohchr.org/english/bodies/crc/comments.htm 20. «Die Vertragsstaaten können nicht von der Annahme ausgehen, ein Kind sei unfähig seine eigene Meinung auszudrücken. Im Gegenteil, sie sollten davon ausgehen, dass das Kind fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, und anerkennen, dass das Kind das Recht hat, diese zu äussern: es ist nicht Aufgabe des Kindes, seine Fähigkeit vorab nachzuweisen.» 2
3 General Comment zum Recht, gehört zu werden (Juli 2009) 21. «Untersuchungen zeigen, dass Kinder fähig sind, sich von früher Kindheit an eine Meinung zu bilden, auch wenn sie noch nicht imstande snd, diese verbal auszudrücken. Konsequenterweise verlangt die volle Umsetzung von Artikel 12 die Anerkennung und Achtung nicht-verbaler Kommunikationsformen wie Spiel, Körpersprache, Gesichtsausdruck, Zeichnen und Malen, mit denen sehr junge Kinder Verstehen, Wünsche und Vorlieben zum Ausdruck bringen.» Partizipation wie? Direkte: Anhörung Repräsentative: Vertretung als «Anwalt des Kindes» Implizite: Untersuchungs- und Offizialgrundsatz, Beistandschaft, Gutachten, Mediation, Vertrauensperson Erfassen der Kindesinteressen Anhörung: ZPO 298, ZGB 314a, BG-KKE 9 Vertretung / «Anwalt des Kindes»: ZPO 299 f., ZGB 314a bis, BG-KKE 9 Beistandschaft: ZGB 308 Gutachten: ZPO 183 ff. Mediation: ZGB 307 III, ZPO 297; BG-KKE 4, 8 Aufklärung, Vertrauensperson, Beteiligung: PAVO 1a 3
4 Anhörung u.a. in folgenden Gesetzen Art. 154 StPO Art. 4 Abs. 2 JStPO Art. 47 Abs. 4 AuG Art. 29, 17 Abs. 2, 3 AsylG Art. 7 AsylV 1 Art. 1a PAVO BGer 2C_323/2010, In fremdenpolizeilichen Verfahren verlangt Art. 12 KRK nicht zwingend eine persönliche (mündliche) Anhörung des Kindes. Bei gleichen Interessen von Eltern und Kind können diese das Kind vertreten, solange sie die Kindesinteressen genügend einbringen. Diese Praxis deckt sich mit der Auffassung des UN-Kinderrechtsausschusses zu Art. 12 (General Comment No. 12, 20 July 2009) Anhörung: BGE 131 III 553 (2005) Anhörung ist höchstpersönliches Recht und dient der Sachverhaltsermittlung Setzt Gesprächsfähigkeit / verbale Äusserungsfähigkeit voraus, nicht Urteilsfähigkeit i.s. von ZGB 16 Anhörung grundsätzlich ab 6. Altersjahr Loyalitätskonflikt rechtfertigt Verzicht auf Anhörung nicht 4
5 Anhörung und Urteilsfähigkeit BGer 5A_593/2011, (ZKE 4/2012, S. 321 f.): Eine Anhörung setzt nicht voraus, dass das Kind urteilsfähig i.s.v. Art. 16 ZGB ist. Dass das Kind den juristischen Verfahrensgegenstand nicht wirklich erfassen kann, ist unerheblich. Die Kindesanhörung dient dem Richter vorab als zusätzliche Quelle zur Sachverhaltsabklärung, indem dieser seinen Entscheid auf einen persönlichen Eindruck zu stützen vermag. Anhörung als Persönlichkeitsrecht des Kindes und zur Ermittlung des Sachverhalts BGer 5A_89/2010, : Die Anhörung ist Ausfluss der Persönlichkeit des Kindes und somit ein höchstpersönliches Recht. Sobald das Kind urteilsfähig ist, nimmt es seinen Anspruch selbst wahr; ab diesem Stadium erhält der Gehörsanspruch die Komponente eines persönlichen Mitwirkungsrechts, welches das Kind insbesondere berechtigt, die Anhörung auch im Verfahren seiner Eltern zu verlangen, soweit es davon betroffen ist. Daneben dient die Anhörung unabhängig vom Alter des Kindes der Ermittlung des Sachverhalts, weshalb die Eltern die Anhörung des Kindes aufgrund ihrer Parteistellung als Beweismittel anrufen können. Alter des anzuhörenden Kindes BGer 5A_701/2011, Soweit es um Alter bzw. Reifegrad des Kindes geht, unterscheiden Rechtsprechung und Lehre 3 Altersstufen, wobei es sich allerdings nicht um feste Kategorien handelt. Vielmehr können sich im Einzelfall aufgrund des individuellen Entwicklungsstandes des Kindes erhebliche Abweichungen ergeben. Eine Anhörung der Kinder vor dem 6. Lebensjahr fällt im Normalfall kaum je in Betracht. Vom Altersjahr ist grundsätzlich eine Anhörung durchzuführen. Ab 12. Altersjahr sind gewöhnlich die Voraussetzungen für die diesbezügliche Urteilsfähigkeit gegeben, sodass eine umfassende Beweisaussage und die Ausübung des Persönlichkeitsrechts möglich sind. 5
6 Obligatorische Anhörung aufgrund der Offizialmaxime BGer 5A_402/2011, (ZKE 2/2012, S. 136) Aufgrund der Offizialmaxime ist das Kind immer anzuhören und nicht nur dann, wenn es selber oder seine Eltern dies beantragen; anders verhält es sich nur, wenn wichtige Gründe dagegen sprechen. Es handelt sich um ein persönliches Recht des Kindes, über dessen Bestehen es vom Richter aufzuklären ist und zu dessen Ausübung es sich unabhängig vom Umstand äussern kann, ob der Sachverhält bereits genügend abgeklärt ist. BGE 131 III 553 (2005) Verzicht auf Anhörung Ablehnung der Anhörung durch das Kind Begründeter Verdacht auf Repressalien gegenüber dem Kind Dauernder Aufenthalt des Kindes im Ausland Beeinträchtigung der Gesundheit des Kindes durch Anhörung Besondere Dringlichkeit der Anordnungen Kind mit geistiger Behinderung oder mit Entwicklungsverzögerung Verzicht auf Anhörung BGE 131 III 553 (2005): Hinweis auf Belastung und Loyalitätskonflikt ist kein Grund für Verzicht auf Anhörung Allerdings BGE 133 III 553 (2007): Bedeutet eine wiederholte Anhörung für das Kind eine unzumutbare Belastung, ist von einer erneuten Anhörung durch den Richter abzusehen. (Dazu Biderbost, Jusletter ) Bestätigt in BGer 5A_497/2011,
7 Verzicht auf Anhörung wenn es bereits einer spezialisierten Fachperson nicht gelingt, die Kinder anzuhören, denn Kinderanhörungen um der Anhörung willen sind zu vermeiden. (BGer 5A_485/2012, ) wenn das Kind, namentlich im Rahmen von Gutachten, bereits mehrmals befragt worden ist und eine neuerliche Befragung es nur belasten, aber nichts Neues hervorbringen würde. (BGer 5A_701/2011, ) BGer 5A_859/2009, : Verzicht auf Anhörung bei Kindesschutzmassnahmen Grundsätzlich ist das Kind vor dem Erlass von Kindesschutzmassnahmen anzuhören. Es ist aber nicht notwendigerweise mündlich anzuhören; es kann unter Umständen genügen, dass sein Standpunkt sonstwie in tauglicher Weise Eingang in das Verfahren gefunden hat. Auf eine Anhörung kann verzichtet werden, wenn dessen Wohl beeinträchtigt würde, etwa dann, wenn es im Rahmen einer Begutachtung bereits mehrmals befragt worden ist und eine neuerliche Befragung das Kind nur belasten, aber nichts Neues hervorbringen würde. Verzicht auf Anhörung durch antizipierte Beweiswürdigung? BGer 5A_536/2007, : Sind die Voraussetzungen für die Anhörung gegeben, darf diese insbesondere nicht durch antizipierte Beweiswürdigung umgangen werden. BGer 5A_50/2010, : Die antizipierte Beweiswürdigung vermag den Verzicht auf die Anhörung nicht zu rechtfertigen, weil diese nicht nur der Sachverhaltserhebung dient, sondern dem Kind auch das Einbringen der eigenen Meinung ermöglicht. 7
8 BGE 133 III 553 (2007): Voraussetzungen bei Delegation der Anhörung Drittperson ist unabhängige und qualifizierte Fachperson Kind ist zu entscheidrelevanten Punkten befragt worden Anhörung bzw. deren Ergebnis ist aktuell Bestätigt in BGer 5A_497/2011, Delegation der Anhörung BGer 5A_701/2011, Die gesetzliche Regelung ist flexibel ausgestaltet und gewährleistet damit, dass die Anhörung stets in kindgerechter Form erfolgen kann. Mit der Anhörung darf eine Delegation des Gerichts oder eine Drittperson betraut werden, soweit es das Kindeswohl gebietet, und eine vorerst unterbliebene Anhörung kann in einem späteren Zeitpunkt nachgeholt werden. Aber: Die Anordnung eines kinderpsychiatrischen Gutachtens stellt für sich allein keine den gesetzlichen Anforderungen genügende Kindesanhörung dar. Zulässig ist dagegen die Befragung im Rahmen der Begutachtung. Delegation der Anhörung BGer 5A_50/2010, Le choix de la personne habilitée à entendre l'enfant relève en principe de l'appréciation du juge. Il serait toutefois contraire à la ratio legis de déléguer systématiquement l'audition à une tierce personne, car il est essentiel que le tribunal puisse se former directement sa propre opinion. L'audition est donc, en principe, effectuée par la juridiction compétente ellemême; en cas de circonstances particulières, elle peut l'être par un spécialiste de l'enfance, par exemple un pédopsychiatre ou le collaborateur d'un service de protection de la jeunesse. 8
9 Anhörung und Protokollierung BGer 5A_361/2010, : Keine Verletzung des verfassungsrechtlichen Gehörsanspruchs, wenn den Eltern der Inhalt der Kindesanhörung aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes nur summarisch mitgeteilt wird (BGE 122 I 53). Das Gleiche gilt für den vom Gericht angeforderten Bericht der Psychiaterin über die Behandlung des Sohnes. BGer 5A_859/2009, : Für die Anhörung durch Drittpersonen bestehen keine Vorschriften formeller Natur, etwa die Pflicht, über die Anhörung ein eigentliches Protokoll zu erstellen. Anhörung im Rückführungsverfahren BGE 133 III 146 (2007) Der Rückführungsentscheid betrifft weder die Regelung der elterlichen Sorge noch diejenige der Obhut Das Kind muss erkennen können, dass es einzig darum geht, den aufenthaltsrechtlichen status quo ante wiederherzustellen Art. 13 HKÜ (SR ): Ausnahme von der Verpflichtung zur Rückführung, wenn sorgeberechtigte Person das Sorgerecht nicht ausübt sorgeberechtigte Person die Zustimmung zum Verbringen des Kindes ins Ausland (bzw. zum Zurückbehalten im Ausland) erteilt hat oder das Verbringen oder Zurückbehalten nachträglich genehmigt hat die Rückgabe das Kind in schwere Gefahr oder eine unzumutbare Lage bringt das Kind sich der Rückgabe widersetzt und angesichts seines Alters und seiner Reife seine Meinung zu berücksichtigen ist 9
10 BGer 5A_764/2009, HKÜ legt kein Alter fest, ab wann Widersetzen des Kindes berücksichtigt werden muss. Lehre: Mindestalter zwischen 10 und 14 Jahren. BGer: Erforderliche Reife ist erreicht, wenn das Kind zu autonomer Willensbildung fähig ist und es Sinn und Problematik des Rückführungsentscheides verstehen kann. Diese Voraussetzungen sind ab ca. 11 bis 12 Jahren gegeben. BGer 5A_471/2010, Schädlichkeit der Anhörung? Es ist weder dargetan noch ersichtlich, inwiefern das 11jährige, normal entwickelte, gesunde Mädchen einen unheilbaren Schaden nehmen soll, zumal die Anhörung durch eine geschulte Fachperson geplant ist. Im Übrigen kommt die Vormundschaftsbehörde mit der geplanten Anhörung in löblicher Weise ihren Pflichten nach, gilt doch für Kinderbelange die Offizialmaxime und insbesondere der Untersuchungsgrundsatz, was bedeutet, dass die Behörde sämtliche relevanten Umstände von Amtes wegen abzuklären bzw. zu erforschen hat. Kindeswohl Ein am Wohl des Kindes ausgerichtetes Handeln ist dasjenige Handeln, welches die an den Grundbedürfnissen und Grundrechten von Kindern orientierte für das Kind jeweils günstigste Handlungsalternative wählt. Jörg Maywald, Sprecher der National Coalition für die Umsetzung der Kinderrechtskonvention in Deutschland 10
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