Meister Eckhart. Vom Trost Gottes. Mit einer Einführung von Leonardo Boff

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1 Meister Eckhart Vom Trost Gottes Mit einer Einführung von Leonardo Boff

2 Inhalt Meister Eckharts Mystik eines befreiten Lebens... 7 Leonardo Boff Der Weg der Nachfolge... 7 Der Weg der Mystik Meister Eckhart Das Buch der göttlichen Tröstung Vom edlen Menschen Anmerkungen

3 Das Buch der göttlichen Tröstung Benedictus Deus et Pater Domini nostri Iesu Christi etc. (2 Kor 1, 3 f) Der edle Lehrer Sankt Paulus sagt in seinem Schreiben das Folgende: Gesegnet sei Gott und der Vater unseres Herrn Jesus Christus, ein Vater der Barmherzigkeit und Gott allen Trostes, der uns tröstet in all unserer Betrübnis. Nun gibt es aber dreierlei Art von Betrübnis, die den Menschen heimsucht und bedrängt in diesem Elend. Die eine betrifft den Schaden, den unser äußeres Gut nehmen kann, die andere den Schaden, den unsere liebsten Freunde erleiden, und die dritte erwächst aus dem, was uns selbst widerfährt an Schmach, Ungemach sowie Schmerzen des Leibes und der Seele. Hieraus will ich in diesem Buch einige Lehren ziehen, die dem Menschen in all seinem Ungemach, seiner Betrübnis und seinem Leid zum Trost gereichen mögen. Und hat man nun daraus etliches an Wahrheit gewonnen, was den Menschen füglich und vollkommen trösten kann in all seinem Leid, so findet man danach etwa dreißig Dinge und Lehren, von denen jede einzelne hinreicht, um den Menschen zu trösten. Und im dritten Teil des Buches findet man dann vorbildhafte Worte und Werke, die weise Leute gesprochen und getan haben, als sie selbst Leid zu ertragen hatten. Zunächst muss man wissen, dass der Weise und die Weisheit, wahr und Wahrheit, gut und Güte, Gerechtigkeit und gerecht einander entsprechen. Die Güte ist weder gemacht noch geschaffen oder I. 55

4 geboren, sie ist vielmehr die Gebärende und gebiert den Guten, und der Gute ist, insofern er gut ist, nicht gemacht, nicht geschaffen und doch geborenes Kind und Sohn der Güte. Die Güte gebiert sich und alles, was sie ist, in dem Guten. Ihr Wissen, Lieben und Wirken gießt sie stets in den Guten ein, und der Gute empfängt all sein Sein, Wissen, Lieben und Wirken aus dem Innersten der Güte, und aus ihr allein. Der Gute und die Güte sind nur noch eine einzige Güte, abgesehen vom Geborensein bzw. Gebären, und doch ist das Gebären der Güte und das Geborenwerden in dem Guten nur ein Sein, ein Leben. Alles, was dem Guten eigen ist, empfängt er von der Güte und in der Güte. Und hier ist und lebt und wohnt er und da erkennt er sich selbst. Und alles, was er erkennt und liebt, liebt und wirkt er mit der Güte, in der Güte und die Güte mit ihm und in ihm alle Werke, so wie es geschrieben steht, und der Sohn sagt: Der Vater wirkt die Werke, indem er in mir bleibt und wohnt. (Johannes 17,10) Doch man muss auch wissen, dass der Name oder das Wort Güte nichts anderes, nichts weniger und nichts mehr, in sich enthält als reine Güte allein. Doch wenn wir von Gutem sprechen, dann ist darunter zu verstehen, dass seine Güte ihm eingegossen und geboren ist aus der ungeborenen Güte. Und deshalb heißt es im Evangelium: So wie der Vater das Leben in sich selbst hat, so hat er es auch dem Sohn gegeben, damit auch er das Leben in sich selbst habe. (Johannes 5,26) Im Evangelium heißt es in sich selbst und nicht aus sich selbst, denn der Vater hat es ihm gegeben. Alles, was ich jetzt über das Gute und die Güte gesagt habe, gilt ebenso von dem Wahren und der Wahrheit, von dem Gerechten und der Gerechtigkeit, vom Weisen und der Weisheit, von Gottes Sohn und Gott Vater, von allem, das aus Gott geboren ist und keinen Vater auf Erden hat, in das sich auch nichts von all dem hinein ge- 56

5 biert, was geschaffen ist, alles, was nicht Gott ist, in dem auch kein Bild ist als bloß Gott allein. So sagt denn auch Sankt Johannes in seinem Evangelium, dass all denen, Macht und Vermögen gegeben ist, Gottes Söhne zu werden, die nicht vom Blut noch vom Willen des Fleisches oder vom Willen des Mannes sind, sondern von Gott und aus Gott allein geboren sind. Mit Blut meint er all das am Menschen, was dem Willen des Menschen nicht untertan ist. Mit dem Willen des Fleisches meint er alles, was im Menschen seinem Willen unterworfen ist, jedoch im Widerstreit und mit Neigungen gemäß dem Begehren des Fleisches, und was der Seele und dem Leib gleichermaßen angehört und nicht im eigentlichen Sinne nur in der Seele ist und wovon die Kräfte [der Seele] erschlaffen und krank werden. Mit dem Willen des Mannes meint der heilige Johannes die höchsten Kräfte der Seele, deren Natur und Wirken unvermischt mit dem Fleisch ist und die in der Lauterkeit der Seele stehen, getrennt von Zeit und Ort und von allem, das noch auf Zeit und Ort baut oder Geschmack daran findet, die überhaupt nichts mit dem zu tun haben, worin der Mensch nach Gottes Bild geformt ist, worin er aus Gottes Geschlecht und Sippe ist. Da sie jedoch nicht in Gott selbst sind und in und mit der Seele geschaffen sind, müssen sie ihrer selbst entbildet und in Gott allein überbildet, in und aus Gott geboren werden, damit Gott allein ihr Vater sei. Dann sind sie also auch Söhne und Gottes eingeborener Sohn. Denn ich bin von all dem Sohn, was mich nach sich und in sich als gleich bildet und gebiert. Ein solcher Mensch ist Gottes Sohn, ein solches Gutes der Güte Sohn, ein solch Gerechtes der Gerechtigkeit Sohn. So wahr er einzig und allein Sohn ist, ist er ungeboren gebärend, und als geborener Sohn hat er dasselbe Sein, das die Gerechtigkeit hat und ist und nimmt alle Eigenschaften der Gerechtigkeit und Wahrheit an. 57

6 Aus all dieser Lehre, die im heiligen Evangelium aufgeschrieben und mit Gewissheit erkannt wird vom natürlichen Licht der Vernunftseele, findet der Mensch wahrhaftigen Trost in all seinem Leid. Der heilige Augustinus sagt: Für Gott ist nichts fern noch lange. Willst du, dass auch dir nichts fern und lang sei, dann begib dich zu Gott, dann sind tausend Jahre wie der heutige Tag. So sage ich auch: In Gott gibt es weder Traurigkeit noch Leid noch Ungemach. Willst du frei sein von allem Ungemach und Leid, so halte dich an Gott, kehre dich in ihm und wende dich ihm allein zu. Alles Leid rührt gewiss einzig da her, dass du dich nicht in ihn kehrst und zu ihm wendest. Und stündest du allein in der Gerechtigkeit und wärest in ihr gebildet, dann könnte dich wahrlich ebenso wenig etwas leiden machen wie die Gerechtigkeit, die Gott selbst ist. Salomon sagt: Den Gerechten betrübt nichts von alledem, was ihm zustoßen mag. (Sprichwörter 12,21) Er sagt nicht: den gerechten Menschen oder den gerechten Engel oder dies und jenes, nein, er spricht einfach von dem Gerechten. Was dem Gerechten als solchem eigen ist, außer dem, was seine Gerechtigkeit ausmacht und bewirkt, dass er gerecht ist, das ist Sohn und hat einen Vater auf Erden und ist Kreatur, gemacht und geschaffen, da sein Vater Kreatur, gemacht und geschaffen ist. Aber da das Gerechte, das nichts als gerecht ist und keinen gemachten oder geschaffenen Vater hat, und Gott und Gerechtigkeit ganz Eines sind und Gerechtigkeit allein sein Vater ist, können Leid und Ungemach deshalb in ihn [den Gerechten] ebenso wenig fallen wie in Gott selbst. Gerechtigkeit kann ihm kein Leid verursachen, denn Gerechtigkeit ist lauter Freude, Liebe, Wonne. Und weiter: Würde die Gerechtigkeit dem Gerechten Leid verursachen, so fügte sie sich selbst Leid zu. Nichts Ungleiches und Ungerechtes sowie nichts Gemachtes oder Geschaffenes kann für den Gerechten Leid bewirken, denn alles Geschaffene ist weit unter ihm, so weit unter ihm wie es unter Gott 58

7 steht. Es kann auf den Gerechten weder Eindruck machen noch Einfluss auf ihn haben, und es gebiert sich nicht in ihn, denn sein Vater ist Gott allein. Darum soll der Mensch großen Eifer darauf verwenden, sich seiner selbst und aller Kreaturen zu entbilden und keinen anderen Vater zu kennen als nur Gott allein. Auf diese Weise kann ihm nichts Leid oder Betrübnis verursachen: weder Gott noch Kreatur, weder Geschaffenes noch Ungeschaffenes. Und sein ganzes Sein, Leben, Erkennen, Wissen und Lieben ist aus Gott und in Gott, ja ist Gott selbst. Es gibt darüber hinaus noch ein Zweites, um das man wissen sollte; auch dies bereitet dem Menschen Trost in all seinem Ungemach, nämlich dass sich der gerechte und gute Mensch gewiss ungleich, ja unaussprechlich mehr über das Werk der Gerechtigkeit freut, als er, oder auch der höchste der Engel, Wonne und Freude über sein natürliches Sein und Leben empfindet. Und deshalb gaben die Heiligen frohgemut ihr Leben hin um der Gerechtigkeit willen. Ich sage nun: Wenn der gute und gerechte Mensch äußerlichen Schaden erleidet und er gelassen und ungestört im Frieden seines Herzens bleibt, dann ist wahr, was ich gesagt habe, nämlich dass den Gerechten gar nichts betrübt, was ihm zustößt. Verhält es sich aber so, dass ein äußerer Schein ihn betrübt, so ist es nur billig und recht, dass Gott verfügt hat, dass dieser Schaden dem Menschen zugefügt wurde. Er wollte gerecht sein und dachte auch, dass er dies sei, und dennoch konnten ihn solche Kleinigkeiten betrüben. Wenn es aber Gottes Recht ist, so soll er sich wahrhaftig nicht betrüben, er soll sich vielmehr mehr darüber freuen als über sein eigenes Leben, an dem sich doch jeder Mensch mehr freut und das jedem Menschen mehr wert ist als die ganze Welt. Denn was nützte dem Menschen die ganze Welt, wenn es ihn selbst nicht gäbe. 59

8 Das dritte Wort, um das man wissen kann und soll, ist das Folgende: Gott allein ist gemäß der natürlichen Wahrheit einziger Quell und einzige Ader aller Güte, wirklicher Wahrheit und wahren Trostes. Und alles, was nicht Gott ist, hat aus sich selbst heraus natürliche Bitterkeit, Trostlosigkeit und Leid und hat überhaupt keinen Anteil an der Güte, die von Gott her kommt und die Gott ist; vielmehr vermindert und verdeckt und verbirgt die Bitterkeit Süßigkeit, Wonne und Trost, die Gott schenkt. Nun sage ich weiter, dass alles Leid daher rührt, dass ich das liebe, was mir ein Schaden weggenommen hat. Erfahre ich Leid durch einen Schaden an äußerlichen Dingen, dann ist das ein untrügliches Zeichen dafür, dass ich äußerliche Dinge liebe, das heißt in Wirklichkeit Leid und Trostlosigkeit liebe. Was nimmt es dann also wunder, dass ich Leid erfahre, da ich doch Leid und Trostlosigkeit liebe und nach ihnen strebe? Mein Herz und meine Liebe schreiben der Kreatur die Güte zu, die doch Gottes Eigenschaft ist. Ich wende mich der Kreatur zu, der naturgemäß Trostlosigkeit entspringt, und wende mich von Gott ab, aus dem aller Trost hervorströmt. Ist es da verwunderlich, dass ich Leid erfahre und traurig bin? Wahrhaftig: Es ist für Gott und alle Welt schlechterdings unmöglich, dass derjenige Mensch wahren Trost finde, der ihn bei der Kreatur sucht. Wer jedoch in der Kreatur einzig Gott allein und die Kreatur wiederum allein in Gott liebt, der findet überall wahren, rechten und gleichen Trost. Das möge für den ersten Teil des Buches genügen. 60

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