Justizsoziologie und Soziologie der juristischen Profession
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1 Vorlesung Rechtssoziologie HS 2012 Justizsoziologie und Soziologie der juristischen Profession Ass.-Prof. Dr. Michelle Cottier Juristische Fakultät Universität Basel Übersicht Soziale Unterschiede und das Recht: Klassenjustiz? soziale Herkunft der Richter Zugang zum Recht Wandel der juristischen Berufe Rechtsstudium Berufsfeld Gericht Berufsfeld Advokatur Feminisierung des Rechts? Rechtssoziologie HS Klassenjustiz? Historische Ursprünge des Begriffs Marxismus: Justiz ist notgedrungen Klassenjustiz, weil das Recht nur ideologischer Reflex der Produktionsverhältnisse ist (Theorie von Basis und Überbau) Karl Liebknecht, Rechtsstaat und Klassenjustiz, 1907 Rechtssoziologie HS
2 Soziale Herkunft der Jurist/innen Die rechtssoziologische Debatte Ralf Dahrendorf, Deutsche Richter. Ein Beitrag zur Soziologie der Oberschicht, 1960: Die eine Hälfte der Gesellschaft, die über die ihr unbekannte andere Hälfte zu urteilen befugt ist Wolfgang Kaupen, Die Hüter von Recht und Ordnung, 1969 Kaupen/Rasehorn, Die Justiz zwischen Obrigkeitsstaat und Demokratie, 1972 Rottleuthner, Abschied von der Justizforschung?, 1982 Rechtssoziologie HS Soziale Herkunft der Jurist/innen Wolfgang Kaupen, Die Hüter von Recht und Ordnung, 1969, 215 ff.: [Wir] konnten [ ] beobachten, dass Juristen überwiegend und überrepräsentiert aus Familien stammen, in denen bedingt durch ihren sozial-kulturellen Standort der normativen Verhaltenskontrolle gegenüber zielgerichtetem, instrumentellem Verhalten eine erhöhte Bedeutung beigemessen wird. Dieses Muster des Konformismus in partikularistisch und hierarchisch strukturierten Gemeinschaften wird durch religiös fundierte Einflüsse verstärkt, ferner in der Schule als einer ähnlich strukturierten Mittelklasseinstitution vertieft oder zumindest durch eine negative Selektion anders orientierter Schüler aufrechterhalten. Rechtssoziologie HS Soziale Herkunft der Jurist/innen Rottleuthner, Abschied von der Justizforschung?, 1982 Unsere Befunde stehen quer zu den Behauptungen von Kaupen und Rasehorn. [ ] Am schwersten wiegt wohl der Befund, dass der als mehr oder weniger selbstverständlich unterstellte Zusammenhang zwischen Einstellungen [ ] und dem beruflichen Entscheidungsverhalten nicht existiert. Vielmehr nimmt hinsichtlich des Ausgangs von Verfahren in unserem Fall primär des Erfolgs des Arbeitnehmers - die Erklärungskraft von Variablen in dem Masse zu, in dem sie professionsbezogene Merkmale umfassen. Rechtssoziologie HS
3 Aktuelle Erkenntnisse Hartmann Keine Studien über die Schweiz Quelle: Bundesamt für Statistik, Rechtssoziologie HS Quelle: Bundesamt für Statistik, Rechtssoziologie HS Soziale Herkunft der Jurist/innen Michael Hartmann, Der Mythos von den Leistungseliten, 2002, 145: Der Zugang zu den Führungsetagen der Wirtschaft ist auch für Personen mit Doktortitel hoch selektiv, in Justiz, Politik und Wissenschaft haben die Promovierten aus der Normalbevölkerung dagegen realistischere Aufstiegschancen. Rechtssoziologie HS
4 Zugang zum Recht Galanter, Why the Haves Come Out Ahead, 1974 the perhaps most visible, widely cited, and influential article ever published in the law and society field (Grossman et al., Law & Society Review 1999, 803 ff.) Zwei Typen von Parteien: one shotters und repeat players One shotters: seltener Kontakt mit dem Rechtssystem, sehr hohes Interesse am Ausgang des einzelnen Verfahrens. Repeat players: häufiger Kontakt mit dem Rechtssystem, kleines Interesse am Ausgang des einzelnen Verfahrens, Ausrichtung an längerfristigen Interessen. Rechtssoziologie HS Zugang zum Recht Galanter, Why the Haves Come Out Ahead, 1974 (Forts.) Faktoren für den Erfolg der Repeat Players: strukturieren Vertragsbedingungen und Verhalten mit Blick auf zukünftige Prozesse Pflegen langfristige (informelle) Beziehungen mit den Institutionen Niederlagen werden in Kauf genommen zugunsten von längerfristigen Vorteilen Rechtssoziologie HS Wandel der juristischen Berufe Diskussion Welches Bild der juristischen Berufe wird Ihrer Erfahrung nach im Rahmen des Rechtsstudiums vermittelt? Welches Bild der juristischen Berufe besteht Ihrer Erfahrung nach in der breiteren Öffentlichkeit in der Schweiz? Welche Bedeutung hat Ihrer Meinung nach Ihr Geschlecht und Ihre soziale Herkunft im Rahmen Ihres Studiums und für Ihre zukünftige Berufsausübung? Rechtssoziologie HS
5 Das Rechtsstudium Autopoietisches Universitätsrecht? Vielmehr meine ich das angesichts eines immens gewachsenen und ausdifferenzierten Rechts schlechterdings unsinnige Festhalten an der Fiktion des punktuell im Staatsexamen zu erbringenden Überblicks über die gesamte Rechtsordnung. Das kann dann nur die tatsächlich sichtbare Folge einer immer ausschliesslicheren Konzentration des Studiums auf das Lösen von Klausuren sein, die sozusagen autopoietische Universitätsrecht ohne Bezug zur Realität des heutigen Rechts (und zwar sowohl seiner Praxis wie seiner wissenschaftlichen Standards) ist. (Bryde, Juristensoziologie, 154) Rechtssoziologie HS Das Berufsfeld Advokatur Anwaltsdichte im Vergleich (EinwohnerInnen pro Anwalt/Anwältin) Schweiz Deutschland USA Quelle: Heussen, Anwaltsrevue 2006, 392 ff. Veränderungen im Berufsbild Entwicklung von grossen Wirtschaftskanzleien mit vermehrter Spezialisierung, Arbeit im Team statt Einzelauftritt, Internationalisierung Zunehmende Bedeutung von elektronischen Ressourcen (Datenbanken) und Kommunikationsmitteln Rechtssoziologie HS Feminisierung des Rechts? Rechtssoziologie HS
6 Feminisierung des Rechts? Die erste Schweizer Juristin: Emilie Kempin-Spyri ( ) Die erste Bundesrichterin: Margrith Bigler-Eggenberger (gewählt 1974) Rechtsstudium: Zunahme des Frauenanteils bei den Abschlüssen 1990: 38 % 2010: 57,5 % Zunahme des Frauenanteils bei Rechtsprofessuren: 1999: 13 % 2009: 21.4 % Advokatur: rund 25 % der 8790 Mitglieder des SAV sind Frauen. Bundesgericht: Zunahme des Frauenanteils 1992: 11 % (3 von 27 BundesrichterInnen) 2012: 29 % (11 von 38 BundesrichterInnen) Rechtssoziologie HS Fragen zur Lektüre Zu Röhl (1994): Wann nehmen laut der bei Röhl zusammengefassten empirischen Forschung die Betroffenen ein Verfahren als fair wahr? Wie müssen universitäre Prüfungen ausgestaltet sein, um diesen Erkenntnissen Rechnung zu tragen? Rechtssoziologie HS
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