Freche Gören feiern Weihnachten

Transkript

1 Leseprobe aus: Freche Gören feiern Weihnachten Copyright 2008 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek

2 Kirs ten Boie Jule ist ver schwun den

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4 Am zwei ten Ad vent geht die ganze Fa mi lie im mer zum Weihnachtsbasar ins Mu seum. «Nee, pöööh, da will ich gar nicht hin», sagt Jesper, als Papa Jule eine Schleife ins Schuh band bin det. Janna kann das schon ganz al leine, und Jesper hat Schuhe mit Klettverschluss. «Nee, pööh, da geh ich gar nicht mit. Ich geh da lie ber zu Ni cki, Mama.» Ni cki sitzt in der Schule ne ben Jesper, und Ni cki muss nie zum Ba sar ins Mu seum. Ni cki guckt sonn tags im Fern se hen im mer die gu ten Filme, das ist bes ser. «Darf ich zu Ni cki, Mama?» «Nein, darfst du nicht», sagt Mama un ge dul dig. «Komm, zieh dir die Schuhe an. Ich weiß ganz ge nau, was ihr da wie der den gan zen Nach mit tag treibt. Wenn ich wollte, dass du stun den lang fern siehst, könn ten wir das auch zu Hause er le di gen.» «Manno!», schreit Jesper, aber da sieht er, dass Papa sich die Au to schlüs sel schnappt, und da be eilt er sich doch. Wenn er mit Papa das Auto aus der Ga rage holt, darf Jesper im mer vorne sit zen für das kurze Stück. Aus nahmsweise, sagt Papa. Da mit Jesper schon mal weiß, wie sich das an fühlt. 9

5 Aber als er dann auf der Fahrt zwi schen Jule und Janna auf der Rückbank ein ge klemmt ist, hat er doch wie der schlechte Laune. Janna singt Weih nachts lie der, und Jule schläft, und mor gen er zählt Ni cki in der Schule be stimmt wie der, was er al les im Fern se hen ge guckt hat, und Jesper kann dann gar nichts sa gen. Das ist doch mal wie der ganz ty pisch un ge recht. Im Mu seum pas siert nie was. «Sech zehn Weihnachtskarten brau chen wir, ich hab gezählt», sagt Mama vorne zu Papa. Die Weihnachtskarten kau fen sie im mer an so einem Stand, an dem auch knallbunte Pudelmützen verkauft werden und ganz komische Blockflö ten. Das Geld krie gen dann arme Kin der in an deren Län dern, und da hat Jesper gar nichts da ge gen. Aber man könnte ih nen das Geld viel leicht auch ein fach mit der Post schi cken. Dann müsste Jesper am zwei ten Ad vent nicht im mer zum Ba sar. Vor dem Mu seum ist kein Park platz zu fin den und in den Stra ßen drum herum auch nicht. Da müs sen sie ein gan zes Stück weit weg par ken. «Manno!», sagt Jesper maulig. «Auch noch lau fen!» Aber Mama und Papa tun so, als ob sie ihn gar nicht hö ren, und Mama hebt nur Jule aus dem Auto, da mit sie bei ihr auf dem Arm weiterschlafen kann. Da läuft Jesper doch hin ter Janna her zu der lan gen Mauer, auf der man ba lan cie ren kann, fast den gan zen Weg bis zum Mu seum, und wenn man runterfällt, fällt man viel leicht in Hundedreck. Darum ist das Ba lan cie ren rich tig schön gru se lig, 10

6 auch wenn die Mauer nicht so hoch ist. In der Ein gangshalle steht ein riesenhoher Tan nen baum, den wür den sie zu Hause nie ins Wohn zim mer krie gen, und da hin ter kann man schon die Eskimoabteilung se hen mit all den ausgestopften Rentieren und Schlittenhunden und den Eskimos. «Die sind aber nicht aus ge stopft», sagt Mama, «die waren nie richtig lebendig.» Papa gibt die Ja cken an der Gar de robe ab, und Mama passt auf, dass Jule nicht zu doll an den Zwei gen vom Tannen baum zieht, und dann ge hen sie end lich los. Aber im Mu seum ist es so gar noch viel lang wei li ger, als Jesper gedacht hat. Vor der Vi trine, in der man sonst hin ter Glas im mer so gut die ech ten al ten Speere an gu cken kann, steht jetzt eine Frau und ver kauft selbstgenähte Pup pen, und von dem gro ßen Turkmenenzelt ist über haupt nichts mehr zu sehen, weil da vor lau ter Ti sche mit glit zern den Ohr rin gen und Halsketten und Armbändern aufgestellt sind. «Manno!», sagt Jesper. «Ich hab Durst!» Im Mu seum gibt es ein tol les Re stau rant, eine Treppe hoch, da ste hen die Ti sche mit ten zwi schen Boo ten aus der Süd see und ko mi schen Riesenfiguren, und aus gro ßen Schüs seln kann man sich sel ber Wackelpudding auf fül len. Ro ten und grü nen. «Manno! Ich habe aber Durst!» «Ach, Jesper, nun komm schon!», sagt Papa. «Fin dest du das denn nicht auch schön weih nacht lich hier? Guck doch mal, all die schö nen Stände...» 11

7 «Nee, finde ich blöde!», sagt Jesper, und Janna ruft : «Oh, Mama, guck mal, die Knus per häus chen! Darf ich ein Knusperhäuschen, Mama?» Die Knus per häus chen gibt es an dem Stand, wo Mama auch im mer die Weihnachtskarten kauft, und da blei ben sie jetzt alle ste hen. Mama sucht sich sech zehn Kar ten aus, und Janna hebt ganz vor sich tig alle Knus per häus chen hoch. «Oh, guck mal, Mama, das möchte ich ha ben!» «Na gut», sagt Mama, «mei net we gen. Weil es doch für einen gu ten Zweck ist», und dann darf sich Janna das schönste Knusperhäuschen aussuchen, und Jesper merkt, wie er in nen drin lang sam wirk lich böse wird. Das ist doch schon wie der mal ganz ty pisch un ge recht! Wenn er eine Brause will oder viel leicht ein klitzekleines biss chen grünen Wackelpudding, sagt Papa nein, aber Janna braucht na tür lich nur zu fra gen, und schon hat sie ihr Knus perhäus chen. Und nur, weil das Geld da für die ar men Kin der krie gen! Lang sam hat Jesper die Nase voll von den ar men Kindern. «Und du, Jesper, was möch test du ha ben?», fragt Mama, aber Jesper will kein nied li ches klei nes Knus per häus chen und auch keine bunte Pu del mütze, Jesper will Brause und Wackelpudding und Punkt. «Jaja, nach her, Jesper!», sagt Mama är ger lich. «Dass du aber auch im mer nur an Es sen und Trin ken denkst!» Dann zieht sie Papa am Är mel. «Wo ist denn ei gent lich Jule?» «Die ist die war eben noch...», sagt Papa, und da bei 12

8 dreht er sich ein mal um sich selbst. «Jule! Wo bist du? Jule, komm mal her zu Papa!» Aber Jule kommt nicht zu Papa, und Jule kommt auch nicht zu Mama. Sie steht nicht mit Janna bei den Knusper häus chen, und sie zieht nicht an den un te ren Zwei gen vom Tan nen baum in der Ein gangs halle. Jule ist tat säch lich verschwunden. «Und ich hab ge dacht, du hast ein Auge auf sie!», sagt Mama zu Papa. «Wo ich doch die Weihnachtskarten...» «Jaja, keine Pa nik», sagt Papa, aber er sieht jetzt sel ber ganz ängst lich aus. «Keine Pa nik, hier kann sie ja wohl kaum ver lo renge hen. Und über fah ren wer den kann sie im Mu seum auch nicht», und er ver sucht so gar, ein biss chen zu la chen, aber da wirft Mama ihm so einen Blick zu, dass er lie ber schnell wie der auf hört. «Die Kar ten zahl ich nach her», sagt Mama auf ge regt zu der Frau an dem Arme-Kin der-stand, und die Frau nickt auch ganz lieb und sagt, jaja, keine Sorge, und viel Glück bei der Su che. «Also jetzt passt mal auf», sagt Mama. «Jetzt passt mal ganz ge nau auf. Janna bleibt jetzt bei mir, und Jesper, du bleibst bei Papa. Da mit ihr nicht auch noch ver lo rengeht! Ich geh mit Janna zu den Mu mien, und ihr könnt auf die ser Seite weitersuchen. Viel leicht ist sie ja hin ten am Puppenstand! Oder die Eis bä ren fin det sie doch im mer so nied lich», und Mama zieht Janna hin ter sich her durch das Ge dränge in Rich tung Afrika. 13

9 «Ja, komm schon, Jesper», sagt Papa und will Jesper an der Hand neh men. Aber Jesper ist schließ lich kein Baby mehr. «Und hör auch mal ge nau hin. Viel leicht brüllt sie irgendwo.» Aber das tut Jule nicht, und das ist doch wie der mal ganz ty pisch un ge recht. Wenn Jesper zu Hause seine Ruhe ha ben will, brüllt Jule von mor gens bis abends, aber jetzt, wo sie sie su chen und ihr Ge brüll gut ge brau chen könnten, sagt sie kei nen Mucks. Und das ist wirk lich schade, weil man sie näm lich nur schwer su chen kann in dem ganzen Ge dränge. Über all schie ben sich Leute an Stän den mit Teestövchen und Glas ku geln und Seidenschals vor bei, und die ganze Zeit guckt Jesper zwi schen all den vie len Bei nen, ob er Jule ir gendwo ent deckt. Aber Jule bleibt ein fach verschwunden. «Das gibt es doch gar nicht!», sagt Papa ver zwei felt, als sie zum zwei ten Mal den gan zen Weg von den Es ki mos zu den Südseefischern ab ge sucht ha ben. In dem abgedunkelten Raum mit den Gruselmasken aus Bali wa ren sie so gar drei mal. «Sie kann sich doch nicht in Luft auf ge löst ha ben!» Das glaubt Jesper auch nicht. Und ent führt hat sie bestimmt auch nie mand. Jesper kann sich nicht vor stel len, dass ir gend wer Jule frei wil lig nimmt. «Ich hab Durst, Papa, jetzt hab ich aber wirk lich Durst!», sagt Jesper maulig. «Du hast ge sagt, nach her, Papa, und jetzt ist aber nach her! Ich will jetzt was trin ken!» 14

10 «Ver dammt!», schreit Papa. Ein paar Leute blei ben stehen und gu cken Papa miss bil li gend an. «Hast du noch gar nicht ge merkt, dass deine Schwes ter ver schwun den ist! Und du denkst an Es sen und Trin ken!» Jesper guckt auf den Fuß bo den. Er hat gleich ge wusst, dass es keine gute Idee war, in die ses alte Mu seum zu ge hen. «Kann ich doch nichts da für!», schreit Jesper und stampft mit dem Fuß auf. Da gu cken noch ein paar Leute mehr. «Hör zu», sagt Papa und packt Jesper an den Schul tern. «Jetzt hör mir noch mal zu. Ich geh jetzt nach vorne zum Pfört ner und frage, ob sie hier auch so An sa gen durch den Laut spre cher ma chen kön nen wie im Kauf haus. Dann lassen wir Jule per Laut spre cher su chen. Und so lange bleibst du hier ste hen. Da mit du nicht auch noch ver lo rengehst! Du rührst dich nicht vom Fleck, Jesper, hörst du das? Keinen Schritt», und Papa ver schwin det im Ge dränge. Ob Mama und Papa sich wohl auch so auf re gen wür den, wenn er ver lo renge gan gen wäre, das würde Jesper gerne mal wis sen. Und bei Ni cki gu cken sie jetzt be stimmt ir gendwas mit Cow boys. Oder mit Ver bre chern und Po li zis ten, und er muss hier ganz still ste hen und sich weih nacht lich füh len! Wo die Stände so wieso alle lang wei lig sind. Und die Füße tun ihm auch lang sam weh. Jesper setzt sich auf den Fußboden. Ne ben sei nem Ge sicht sind jetzt die Beine von dem Tisch, auf dem oben die Arm bän der lie gen. Dar un ter stehen zwei Männerfüße in Stie feln und zwei Frauenfüße 15

11 in Stie feln, und da hin ter sieht man die Bastwand von der Turkmenenjurte. Ich merk das schon, wenn Papa wie der kommt, denkt Jesper. Ich guck zwi schen durch im mer mal nach ihm. Aber jetzt guck ich mir erst mal die Turkmenenjurte an, und er kriecht vor sich tig zwi schen den Bei nen durch un ter den Tisch. Die Leute mer ken das so wieso nicht, die müs sen gerade Armbänder verkaufen. Die Turkmenenjurte gefällt Jesper im Mu seum im mer mit am bes ten. Sie ist ganz groß und echt, und drin nen sitzt ein Mann aus Plas tik in ganz ko mi schem Zeug mit Was ser pfeife und guckt eine Teekanne an. Da ne ben liegt ein di cker Sta pel Tep pi che, und dar auf liegt je mand, der sieht aus wie ein Turkmenenkind. Aber nur fast. «Jule!», schreit Jesper und klet tert über das Seil, das den Ein gang ver sperrt. Wenn er Zeit hätte, könnte er viel leicht so gar le sen, was auf dem Schild steht, das an dem Seil festge macht ist, aber ei ner, der «Fu ruft Ufu«schrei ben kann, kann sich na tür lich auch so den ken, dass es be stimmt «Betre ten ver bo ten«heißt. «Jule, du darfst doch hier nicht schla fen!» Und dann rüt telt er Jule wach, und Jule fängt an zu weinen, wie sie auch im mer weint, wenn sie im Auto ein geschla fen ist und Mama hebt sie raus, und im Zelteingang steht plötz lich ein Mann im An zug mit Schild an der Ja cke und sagt ganz streng, dass das Be tre ten ver bo ten ist. Das hatte Jesper sich ja ge dacht. 16