Wozu brauchen wir Theorien der internationaler Politik?

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1 ÜV Internationale Beziehungen, Wozu brauchen wir Theorien der internationaler Politik? Ordnung in das Chaos der Tatsachen bringen : Max Weber, 1904 (zitiert nach Krell): (...) keines jener Gedankensysteme, deren wir zur Erfassung der jeweils bedeutsamen Bestandteile der Wirklichkeit nicht entraten können, kann ja ihren unendlichen Reichtum erschöpfen. Keins ist etwas anderes als der Versuch, auf grund des jeweiligen Standes unseres Wissens und der uns jeweils zur Verfügung stehenden begrifflichen Gebilde, Ordnung in das Chaos derjenigen Tatsachen zu bringen, welche wir in den Kreis unseres Interesses jeweils einbezogen haben. (...) was sie [die Wissenschaft] allein leisten kann: Begriffe und Urteile, die nicht die empirische Wirklichkeit sind, auch nicht sie abbilden, aber sie in gültiger Weise denkend ordnen lassen. Theorie als Sätze miteinander zusammenhängender Aussagen über a) grundlegende Konzepte b) den postulierten Zusammenhang zwischen diesen Konzepten c) die Beziehung zwischen den Konzepten, ihren Beziehungen und möglichen empirischen Beobachtungen Theorie und Wirklichkeit : soziale Wirklichkeit besteht aus den Interaktionen der Akteure und ihren Sinn-Interpretationen, d.h. sie ist bereits interpretierte Wirklichkeit kein theorieloser Zugang zu dieser Wirklichkeit möglich (auch unsere Beschreibungen von Fakten sind theoriegebunden) Sozialwissenschaft = (theoriegeleitete) Interpretation von Interpretationsvorgängen

2 Macht, Gleichgewicht, Staatenwelt: Realistische Ansätze Grundannahmen: (vgl. auch Keohane 1986a; Krell, Kap. 6) 1. Anarchie als Grundcharakteristikum des internationalen Systems: Fehlen einer zentralen Autoritätsstruktur Selbsthilfesystem internationale Politik als Kampf ums Überleben 2. Staatszentriertheit: - internationale Politik als Staatenwelt - Staaten als einheitliche Akteure 3. Instrumentell-strategische Rationalität: Staaten als rationale Akteure: fixe Interessen (Überleben!); Präferenzen anhand von Kosten-Nutzen-Kalkülen festgelegt; strategische Rationalität: Verhalten an möglichen Handlungen potentieller Gegner orientiert 4. Macht: (vgl. Baldwin 2002; March 1966) Macht als Einfluß: jemanden dazu zu bringen, etwas zu tun, was er/sie andernfalls nicht tun würde (Weber) Macht als Ressource: Mittel, Fähigkeiten, um Einfluß zu erzielen (Neo) Realismus: Macht als Ressource Macht als Einfluß Machtressourcen: insbesondere Bevölkerung, Territorium, ökonomische Stärke, militärische Stärke (Morgenthau 1963 (1948); Waltz 1979) Machtverteilung Struktur des internationalen Systems: unipolar, bipolar, multipolar realistische von außen nach innen -Perspektive: die Struktur des internationalen Systems determiniert die Position der Staaten und ihre Handlungsmöglichkeiten 2

3 3 Ideengeschichte des Realismus und moderne Autoren: Thukydides 1991 (ca. 410 v. Chr.) ( v.chr.), Geschichte des Peloponnesischen Krieges (war T. Realist?) Hobbes 1987 (1652), Leviathan Ranke 1958 (1836) Primat der Außenpolitik klassischer Realismus: Carr 1966 (1939) Idealismus und Realismus Morgenthau 1963 (1948) International politics, like all politics, is a struggle for power. + anthropologische Grundannahmen über das Wesen des Menschen Neorealismus/struktureller Realismus: Waltz 1979: Theory of International Politics: Anarchie als Grundstruktur + Staaten als ums Überleben kämpfende Nutzenmaximierer Gilpin 1981: War and Change in World Politics: Theorie des Wandels aus realistischer Sicht (Machtzyklen und Hegemonie) Grieco 1990; Grieco 1988: relative Gewinne Mearsheimer 1990; Mearsheimer 2001: offensiver Realismus : Anarchie Staaten als Machtmaximierer

4 Zentrale Themen Theorie des Mächtegleichgewichts ( balance of power ; vgl. Morgenthau, Waltz): Balance-of-power politics prevail wherever two, and only two, requirements are met: that the order be anarchic and that it be populated by units wishing to survive (Waltz 1979, S. 121) Problem der relativen Gewinne (Grieco 1988): Überlebenskampf Aufrechterhaltung der eigenen Machtposition im Vergleich zu anderen, nicht absolut Staaten als defensive Positionalisten Sicherheitsdilemma (Herz 1951; Jervis 1978): Staat A: defensives Motiv (Überleben) + Unsicherheit über Motive von B Anhäufung von Machtressourcen (z.b. Rüstung) Staat B: ebenfalls Rüstungswettlauf, Abschreckungssysteme, Krisen, Krieg 4

5 Realismus und internationale Kooperation internationale Kooperation unwahrscheinlich und immer gefährdet wg. Überlebenskampf Problem der relativen Gewinne Sicherheitsdilemma 5 ABER: Allianzen (Militärbündnissen) als begrenzte Kooperation im Rahmen einer Politik des Mächtegleichgewichts Ordnungsstiftende Funktion von Hegemonialmächten in einer unipolaren Welt (Theorie hegemonialer Stabilität, vgl. Gilpin 1981; Kindleberger 1973) Kritische Fragen (vgl. Keohane 1986b; Baldwin 1993): Welt als Staatenwelt? Anarchie als Abwesenheit einer Weltregierung Weltunordung? Können Staaten als egoistische Nutzenmaximierer wirklich nicht kooperieren? Vgl. nächste Woche!

6 6 Literatur Baldwin, David A. 2002: Power and International Relations, in: Handbook of International Relations, hrsg. von Walter Carlsnaes, Thomas Risse und Beth Simmons, London, , (Hrsg.) 1993: Neorealism and Neoliberalism: The Contemporary Debate, New York. Carr, Edward Hallett 1966 (1939): The Twenty Years' Crisis , New York. Gilpin, Robert 1981: War and Change in World Politics, New York. Grieco, Joseph M. 1988: Anarchy and the limits of cooperation: a realist critique of the newest liberal institutionalism, in: International Organization 42: Nr. 3, : Cooperation among Nations. Europe, America, and Non-Tariff Barriers to Trade, Ithaca NY. Herz, John 1951: Political Realism and Political Idealism, Chicago. Hobbes, Thomas 1987 (1652): Leviathan, Frankfurt/Main. Jervis, Robert 1978: Cooperation Under the Security Dilemma, in: World Politics 30: Nr. 2, Keohane, Robert O. 1986a: Theory of World Politics: Structural Realism and Beyond., in: Neo-Realism and its Critics, hrsg. von Robert O. Keohane, New York, , (Hrsg.) 1986b: Neorealism and Its Critics, New York. Kindleberger, Charles P. 1973: The World in Depression, , Berkeley. March, James G. 1966: The Power of Power, in: Varieties of Political Theory, hrsg. von David Easton, New York, Mearsheimer, John 1990: Back to the Future: Instability in Europe after the Cold War, in: International Security 15: Nr. 1, Mearsheimer, John J. 2001: The Tragedy of Great Power Politics, New York - London. Morgenthau, Hans J (1948): Macht und Frieden: Grundlegung einer Theorie der internationalen Politik, Gütersloh. Ranke, Leopold von 1958 (1836): Die großen Mächte. Politisches Gespräch, Göttingen. Thukydides 1991 (ca. 410 v. Chr.): Geschichte des Peloponnesischen Krieges, München. Waltz, Kenneth 1979: Theory of International Politics, Reading, Mass.